Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 10

Mit der Zusammenfassung der Wiedergutmachungsverfahren der Fürstenberg-Söhne nach dem 2. Weltkrieg wollen wir die Geschichte der Familie beenden. Dabei stellt sich – nicht nur für die Nachkommen von Sally Fürstenberg – die Frage, ob mit den prozessualen Ergebnissen eigentlich eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erreicht wurde, oder ob die finanzielle Kompensation nur dieses Unrecht verschleierte; dann wäre, wie wir oben (Teil 8) diskutiert haben, der Begriff der Restitution (der Wiederherstellung des finanziellen Status quo ante), der angemessenere Begriff. Zu unserer Überraschung hatte diese Diskussion bereits in den 1950er Jahre eingesetzt und war ihm allzeit immanent. Dazu im Folgenden ein längerer Textausschnitt von 1990 (58).

„Der unselige Begriff ´Wiedergutmachung`

In den Gründerjahren der Bundesrepublik haben gerade solche Politiker den Wiedergutmachungsbegriff hochgeschätzt, die klarer als andere erkannten, dass die Deutschen sehr viel zu ersetzen, zu bezahlen und zu sühnen hatten. Adolf Arndt oder Carlo Schmid, Franz Böhm oder Theodor Heuss sahen in diesem Sprachgebrauch ein Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und einen moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden. Dabei schwang die Idee einer deutschen Selbstreinigung mit, die Bundespräsident Heuss auf die Formel brachte: Es gelte nicht zuletzt, „sich selber wieder gut zu machen“. 

Ein Streiter für die Sache der Verfolgten, der Unionsabgeordnete Franz Böhm, erläuterte 1954 die zeitgenössische Semantik so: ´Wen die Grausamkeiten der Hitlerzeit damals, als sie verübt wurden, entsetzten, wer mit den Opfern fühlte, wer, wenn er konnte, zu helfen suchte, dem ist heute die Wiedergutmachung Herzenssache. Wer aber damals mit Hitler sympathisierte, wer jeden, den die Gestapo abholte, für einen Feind, Übeltäter oder Schädling hielt oder wer sich auch nur beim Anblick all der Herzlosigkeit und Brutalität mit dem Satz tröstete: wo gehobelt wird, da fallen Späne, für den ist heute die Wiedergutmachung ein Ärgernis.`

In unserer Gegenwart verhält es sich gerade umgekehrt: Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz in das Zentrum deutscher Erinnerungskultur getreten ist, um so mehr ist der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gilt er als ´unerträglich verharmlosend`. Die Abwehr ist verständlich, auch deshalb, weil es immer problematisch ist, einem Diskursbegriff der Zeitgenossen die historiografische Deutungshoheit zu überlassen. Doch sollte man sich vor dem anachronistischen Fehlschluss hüten, den frühen Protagonisten der Wiedergutmachung sei es nur um eine Art Schadensabwicklung gegangen.

Wenn heute an diesem Begriff festgehalten wird, dann primär aus pragmatischen Gründen. Wie keine andere Sammelbezeichnung rückt er einen Gesamtkomplex in den Blick, der sich in fünf Felder unterteilen lässt. Es handelt sich, erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens, die Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen. Zu den einschlägigen Gesetzen traten, drittens, Sonderregelungen auf verschiedenen Rechtsgebieten, insbesondere in der Sozialversicherung. Die juristische Rehabilitierung, viertens, stand vor der Aufgabe, Unrechtsurteile zu beseitigen – vor allem in der Strafjustiz, aber auch Unrechtsakte wie die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade sind zu bedenken. Diese vier Bereiche betrafen das innerdeutsche Recht. Aber die Verfolger haben Staatsgrenzen niedergerissen, Terror nach außen getragen und Millionen von Ausländern in das Deutsche Reich deportiert. Das Thema hat somit auch, fünftens, weite internationale Dimensionen, die den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilden“ (58).

War die Wiedergutmachung der Fürstenbergs nur Schadensabwicklung oder mehr?

Versucht man, die verschiedenen Wiedergutmachungsprozesse der Familie Fürstenberg bezüglich ihrer Ergebnisse zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild:

1. Aus den beiden hier ausführlicher diskutierten Verfahren (Teil 8 und Teil 9) ergeben sich finanzielle Zahlungen an die Familie in der Größenordnung von 1.2 Millionen DM.

2. Von den übrigen Immobilien der Familie zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung (1938) wurde die Lützowstraße 60 offenbar vor einer Enteignung im Frühjahr 1938 an das Finanzministerium (Abteilung Militär) verkauft. Nimmt man einen Bodenwert von 20-40€/qm an (59), kann man vermuten, dass das Grundstück nebst Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt und mindestens zu diesem Preis verkauft wurde und dieses Geld den Fürstenbergs auch zur Verfügung stand – sonst hätten sie zu Recht dafür Wiedergutmachung verlangen können.

3. Die Immobilien Leipzigerstraße 72/73 und Niederwallstraße 13/14 lagen nach dem Krieg in Ost-Berlin, die DDR hat sich an der Wiedergutmachung nicht beteiligt – sie sahen sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Für diese Immobilien wurde daher wohl kein Rückerstattungsanspruch erhoben.

4. Für die Immobilie Wassertorstraße 3 wurde am 6. Januar 1954 ein Rückerstattungsantrag von 1950 zurückgezogen (60), da das Grundstück zurückgegeben wurde. Laut Bauakten (61) war das Haus 1934 für 19.000 RM aus einer Versteigerung erstanden und hatte einen Verkehrswert von etwa 24.000 bis 26.000 RM. Es war nach dem Krieg noch nahezu vollständig bewohnbar, nur eine Werkstatt im Hof war vollständig zerstört.

5. Das gleiche galt für das Grundstück Lietzenburgerstraße 13, über das es keine Wiedergutmachungsakte gibt. Laut Räumungsakte von 1949 (62) war das Grundstück 1600qm groß und zu 26% beschädigt (nur Quergebäude, das Vorderhaus war bewohnt).

Wie hoch war der Grundwert, und wie verhielt sich dies zu den Werten um 1955?

Die Kaufkraft einer Reichsmark vor dem Krieg (1938) entspricht einer Kaufkraft von 4,7€ heute (63), aber das sagt uns wenig über den Wert der RM vor nunmehr 90 Jahren, 20 Jahre nach der Restitution, 1956, außer vielleicht einem etwa 10:1 Verhältnis von RM:DM. Dem entspricht aber sehr genau eine andere Kalkulation: Der VbK bewertete den Kaufpreis für Grund und Gebäude Lützowplatz 9 (370.000 RM) im Jahr 1956 mit 37.000 DM (37). 

Das vom Landgericht veranlasste Gutachten des Dipl.-Ing. Enderlein vom 23. Juli 1953 im Wiedergutmachungsprozess Fürstenberg gegen den VbK (59, Bl. 58-72) bezifferte den Bodenwert der etwa 1800qm, die der VbK 1938 erworben hatte, mit 58.000 RM, und das Gebäude mit 228.000 RM, zusammen also etwas mehr als die bezahlten 370.000 RM. Gegenüber dem Gebäudewert, der sich im Jahr 1953 durch die Zeit, aber auch durch das Ausmaß der Zerstörung 1943 gegenüber 1938 verringert hatte, war der Bodenwert praktisch gleichgeblieben und wurde im Gutachten mit 50.000 DM angenommen (59, Bl. 71).

Nehmen wir also der Einfachheit halber an, dass die beiden Grundstücke zu 4. und 5. im Jahr 1956 zusammen einen Grundwert von etwa 50.000 DM hatten, dann beläuft sich die Gesamtsumme der finanziellen Restitution für die Familie Fürstenberg auf etwa 1.25 Millionen DM im Jahr 1960, und dies entspricht etwa dem zehnfachen Wert (12,5 Mio. RM) im Jahr 1938.

Die Fürstenbergs (Sally, Paul und Sophie Fürstenberg) hatten im Rahmen ihrer Vermögenserklärungen 1938 (s. Teil 7) in der Größenordnung von ca. 7 Millionen RM angegeben, die im Ausland angelegten Vermögenswerte nicht mitgerechnet. Da auch das Vermögen von Fritz Fürstenberg und seiner Firma Reveillon in Amsterdam 1942 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, und die Firma Reveillon in London durch deutsche V2-Bomben zerstört wurde (wofür es vor Ort keine Kompensation gegeben haben dürfte), lässt sich das Vermögen der Familie 1938 auf mindestens 10 Mio. RM schätzen und entspricht somit von der Kaufkraft ungefähr der Restitutionssumme von 1.25 Mio DM im Jahr 1960. 

Es muss an dieser Stelle aber daran erinnert werden, dass Vermögenden, insbesondere mit Immobilienbesitz, im Rahmen des Lastenausgleichs (1952) (64) ebenfalls erhebliche finanzielle Abstriche ihres Vermögens hinnehmen mussten, wenngleich gestreckt auf viele Jahre, wozu auch der Entzug von Vermögen und Immobilien im Machtbereich der DDR gehörte, den auch sehr viele haben hinnehmen müssen. Und „last but not least“: Hätten die Fürstenbergs nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, wären sie, so makaber das klingt, vermutlich wie viele weniger vermögende Juden Opfer des NS-Terrors geworden und ermordet worden.

War die Lösung der Wiedergutmachungsprozesse also gerecht?

Da wir darauf keine befriedigende Antwort finden können, sollen am Schluss die Söhne von Sally Fürstenberg selbst zu Wort kommen. In einem Zeitungsartikel im „Tagesspiegel“ vom 17. März 1954 (65) (Bild 1) berichtet der Reporter (G.L.) über ein soeben stattgefundenes Treffen mit zwei der Gebrüder Fürstenberg – bei denen es sich möglicherweise um Fritz aus den Niederlanden und Ulrich aus Ägypten handelt, von denen wir aus anderen Quellen wissen, dass sie gelegentlich in Berlin bzw. auf der Frankfurter Messe waren. Sie hatten offenbar auf der Durchreise in Berlin Station gemacht, vermutlich auch, um im Prozess auszusagen. Zum Zeitpunkt dieses Besuches aber waren die Prozesse noch keineswegs beendet, sondern noch mehr als sechs Jahre von den oben beschriebenen Ergebnissen entfernt.

Bild 43: Artikel im Tagesspiegel vom 17. März 1954

Das Treffen fand in einer Villa im Grunewald statt, und die beiden „plauderten … bei einer Tasse Tee von ihren Erlebnissen, in den letzten zwanzig Jahren: Verfolgung, Emigration, Aufbau von Geschäften in Kairo, Alexandrien, Rhodesien und Amsterdam, erneute Flucht, Internierung in der Schweiz mit Lagerleben, Gefängnismauern, gewaltsamer Trennung der Familie und schließlich wieder geschäftliche Erfolge in Europa und in Afrika. Lächelnd, mit verbindlichen Handbewegungen, geht man von diesen angedeuteten Reminiszenzen, als wolle man die Gesprächspartner damit nicht belasten, zur Gegenwart über“ und deutet an, dass sie zukünftig vielleicht auch am Kurfürstendamm in Berlin wieder ein „Haus der Geschenke“ eröffnen möchten, „wenn die gegenwärtigen Restitutionsverhandlungen günstig verlaufen„. Auch wenn sie das am Ende vielleicht gewesen sind, Jahre später waren vermutlich die Bedingungen für einen Neubeginn ungünstig, die Preise für Immobilien am Ku-Damm zu hoch, und alle Beteiligten um Jahre älter und um Erfahrungen reicher.

Literatur

58. Quelle: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-1945-1990-ein-ueberblick/

59. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): B Rep. 025-05 Nr 204/49 Nr. 5725/50. 

60. LAB: B Rep. 020-02 Nr. 2138/51, Blatt 2.

61. LAB: B Rep. 206 Nr. 4619 (Bauakte Wassertorstraße 3).

62. LAB: B Rep. 207-01 Nr. 971 (Abräumakte Lietzenburger Str. 13).

63. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

64. https://de.wikipedia.org/wiki/Lastenausgleichsgesetz.

65. Tagesspiegel vom 17. März 1954.

Jüdisches Leben in Tiergarten Süd:  Fernsehdiskussion auf TV Berlin

Anlässlich des Jahrestages der Reichspogrom-Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 einerseits, und den antisemitischen Ausschreitungen auch und gerade in Berlin nach dem Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober und den bereits jetzt Gaza-Krieg genannten Auseinandersetzungen seitdem, ist das Interesse an jüdischem Leben gestern und heute groß und erreichte auch die Redaktion von Mittendran. Nach Anfrage des Privatsenders TV Berlin sprach Prof. Dr. Paul Enck am Dienstag, den 8.11. um 18:00 Uhr in der Sendung „Brinkmann & König“ über jüdisches Leben in Berlin vor 1933, insbesondere in Tiergarten Süd, und berichtete von seinen Recherchen aus dem Lützow-Viertel, deren Ergebnisse in diesem Blog sowie bei www.mittendran.de nachlesbar sind. Der Link zur Sendung, die bis auf Weiteres auf YouTube zu sehen ist, ist hier: https://youtu.be/tJzcnX1wRGs.

Im Studio bei TV Berlin: Ewald König, Paul Enck, Peter Brinkmann (v.li.)

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 8

Im Wiedergutmachungsverfahren Fürstenberg gegen den Verein Berliner Künstler (VbK) wurden die Angehörigen der Familie Fürstenberg durch den Rechtsanwalt (RA) Hans-Georg Tovote, Berlin vertreten, der ihr Familienanwalt bereits vor dem Krieg war und der auch der Testamentsvollstrecker für das Testament von Gustav Fürstenberg war (siehe Teil 6). Der VbK hatte dem Rechtsanwalt (RA) Georg Graul aus Berlin Vollmacht gegeben, seine Angelegenheit zu vertreten.

Runde Eins: Der Ton macht die Musik

Den Auftakt machte RA Tovote in seinem Schriftsatz vom 18. Juli 1950, in der er den VbK als „Rechtsnachfolger eines Nazi-Vereins gleichen Namens“ titulierte (41, Bl. 37). Das hat den vermutlich geschmerzt, weil es nicht der Nachfolger, sondern der gleiche Verein war, den es schon seit 1841 gab (siehe Teil 7); der befand sich aber zumindest seit 1938 fest in der Hand der Nationalsozialisten (39). Der Verweis auf die letzte große Ausstellung des Juden Max Liebermann im Jahre 1927, mit dem RA Graul den Vorwurf zurückwies, half da wenig, Legitimation herzustellen (41, Bl. 90). Stattdessen stilisierte sich Graul selbst als „Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahme“ (41, Bl. 87) und bezweifelte gleichzeitig, dass die Fürstenbergs sich 1938 in einer Zwangslage befunden hätten. 

Dem Prinzip nach war alles strittig, was die Fürstenbergs im Wiedergutmachungsverfahren ab 1948 – zehn Jahre nach ihrer faktischen Enteignung – vorbrachten, vielleicht mit Ausnahme des für das Haus bezahlten Kaufbetrages von 370.000 Reichsmark: dass der Verkauf unter Zwang für die Familie stattfand, dass der Kaufpreis unangemessen war, und dass die Familie Fürstenberg dieses Geld nie erhalten habe. Im Originalton des Anwaltes klang das so: „Inwieweit der Grundstücksverkäufer sich wirklich in einer Zwangslage befunden hat oder sich in einer solchen glaubte, kann – und konnte damals – der Verein nicht übersehen. Dem Verein gegenüber ist jedenfalls diese Zwangslage vom Verkäufer selbst durch eine freiwillige Handlung des Verkaufes unterbrochen worden, indem er nicht etwa einen Käufer an sich herantreten ließ, sondern durch einen Makler dem Verein das Grundstück von sich aus zum Kaufe anbot“ (41, Bl. 88). Mit anderen Worten: Echte Opfer verhalten sich passiv, wer sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, verliert die Glaubwürdigkeit.

Im Prinzip verfolgen Rechtsanwälte keine eigenen Interessen (jenseits ihrer Gebührenordnung, die sich über den Streitwert bestimmt), sondern drücken mit ihrer Position die Ansicht ihrer Mandanten aus. In den wenigen Unterlagen des VbK, die wir dazu einsehen konnten, findet sich daher der gleiche aggressive Ton, z.B. in dem oben erwähnten Bericht des Vereinsvorsitzenden Arthur Hoffmann an die Mitglieder von 1956 („… da die Gegner behaupten, keinen Pfennig erhalten zu haben, da der Kaufpreis seinerzeit auf ein Sperrkonto gezahlt werden mußte …“) (37).

Interessant ist, dass die Parteien jenseits ihres Gerichtsstreites immer auch parallel direkt miteinander verhandelt hatten und dies den Akten nicht zu entnehmen ist, solange kein Vergleichsvorschlag zu Protokoll gegeben wird. Ein erster solcher Vergleich wurde gerichtsprotokolliert am 7. November 1950, wonach der VbK der Familie Fürstenberg eine Zahlung von 40.000 DM als Nutzungsentschädigung für die Zeit 1938 bis 1943 anbot, um endgültig Eigentümer zu werden – dies nahmen die Fürstenbergs nicht an. In einem privaten Gegenangebot sollte der VbK noch 100.000 DM an die Familie zahlen, um Mitbesitzer des Hauses zu werden – dies lehnt der VbK ab, nachdem klar wurde, dass dies – trotz Zahlung – auch den Verlust des Gebäudes bedeutete (37). Die Parteien erklärten am 19. September 1952 den Vergleich für gescheitert (41, Bl. 130), und die Verhandlungen gingen in die zweite Runde.

Runde Zwei: Alles ist strittig

Strittig aufgearbeitet werden mussten zunächst die Enteignungsdaten von 1938 und finanziellen Regelungen, mit denen das Deutsche Reich sich des Vermögens der Fürstenberg bemächtigt hatte – bis hin zur Frage, ob über den Kaufpreis überhaupt verfügt werden konnte. Dazu legten die Fürstenbergs viele im Arisierungsverfahren angefallenen Dokumente, Verträge und Verordnungen vor, die – mit Sicherheit – dem VbK zu diesem Zeitpunkt erstmals zu Gesicht kamen.

Als das 1953 Gericht erwog, im Rahmen eines Teilbeschlusses eine Rückübertragung des Grundstücks anzuordnen, legte RA Graul letztmalig eine Stellungnahme vor, in der der das Gericht auf die Notwendigkeit eines „gerechten Ausgleichs“ zwischen den Antragsparteien hingewiesen wurde (42, Bl. 133ff) – offenbar war er selbst nicht in der Lage, dies zwischen den Parteien zu vermitteln. Stattdessen trat ein neuer Anwalt, Dr. Walter Fuhrmann, Berlin auf den Plan (42, Bl. 139), der die weitere Vertretung des VbK übernahm (12. November 1953). RA Fuhrmann verwies unmittelbar auf die vergleichbare Situation der Antragsteller Fürstenberg im parallelen Prozess Fürstenberg gegen Walter Koch (s. unten, WGA-2), bei dem eine Teilentscheidung des Kammergerichts über einer Rückübertragung des Grundstücks Augsburgerstraße 34 im Mai 1952 wieder rückgängig gemacht wurde (43, Bl. 260) und warnte davor, RA Tovote argumentierte dagegen und nannte die Rückerstattungspflicht „absolut entscheidungsreif“ (41, Bl. 166). 

Runde Drei: Sanierung oder Abriss nach dem Krieg

Als die Wohnungen im Hause Lützowplatz 9 im Jahr 1954 baupolizeilich gesperrt wurden (41, Bl 174), forderte RA Tovote am 19. Mai 1954 Ortstermin, Sachverständigengutachten und wegen „Gefahr im Verzug“ eine Änderung der Hausverwaltung. Der Ortstermin unter Beteiligung des Architekten Prof. Sagrekow am 10. Juni 1954 ergab hingegen nur einen gesperrten Raum, ansonsten unfertiger Umbauzustand, und die Parteien einigten sich auf erneute Vergleichsverhandlungen. 

Strittig war nach wie vor der Zustand des Gebäudes nach den Bombardierungen 1943, der Grad der Zerstörung und der Aufwand, der zur Nutzung des Gebäudes als Ausstellungsraum betrieben wurde – allein über diese Kosten gibt es fünf Verfahrensbeiakten (44). Es wurden Gutachten zum Bauzustand 1945 eingeholt, die zum Ergebnis kamen, dass die Zerstörung mehr als 60 bzw. „nur“ 44% betrugen – der Unterschied bedeutete Abriss oder Sanierung (45, Bl. 224) (Bild 40). Es wurden unterschiedliche, alte und aktuelle Verkehrswerte des Grundstücks berechnet und vorgetragen (weniger als 150.000 DM versus 210.000 DM und mehr), entstandene Schäden während des Krieges (45, Bl. 291) und die getätigten Auswendungen des VbK vor Ort begutachtet (46, Bl. 58ff), argumentiert, inwieweit sie werterhaltend oder wertsteigernd waren, getrennt nach Kosten in Reichsmark während des Krieges, und vor und nach der Währungsreform 1948 sowie gegenwärtig (1953).

In der Wahrnehmung des VbK (37) hatte der Verein das Gebäude (bei mehr als 60% Zerstörung) entgegen der Vernunft vor dem Abriss gerettet, daher müsse ihm, bei Rückgabe an die Familie Fürstenberg, diese Kosten erstattet werden, ebenso die Ablösung einer Hypothek.

Bild 40: Selbst Bilder sind nicht immer objektiv, sondern können zugunsten der einen oder der anderen Position herangezogen werden. Das linke Bild (aus: 37) zeigt das Haus und seine Zerstörung nach Kriegsende 1945, und man hat den Eindruck, dass hier nur Abriss hilft. Das rechte Bild (aus: 48) zeigt das Haus nach Räumung des Schutts, vermutlich also Anfang der 50er Jahre und vermittelt den Eindruck einer Beschädigung, die man reparieren kann – was ja dann letztlich auch passiert ist.

Das Finale: Der Vergleich

Gemessen an der gerichtlichen Auseinandersetzung in den drei Phasen, die wir oben berichtet, hätten wir erwartet, dass der Vergleich ein Kompromiss zwischen den Parteien ist; leider haben wir keine Dokumente, die den „privaten“ Verhandlungsprozess zwischen den Parteien dokumentieren. Unabhängig davon entschied das Landgericht am 6. November 1959 nach mündlicher Verhandlung am 28. September und präsentierte eine Teilentscheidung (47, Bl. 11ff) – zu diesem Zeitpunkt hatte der VbK offenbar einen neuen, dritten Rechtsvertreter bestellt, RA Dr. Gregor, Berlin.

Danach wurde die VbK verurteilt, das Grundstück Lützowplatz 9 sowie das 501qm große Zwischenstück (siehe oben, Teil 7) zurückzuerstatten (d.h. die Grundstücke mussten im Grundbuch umgeschrieben werden), und etwaige Kriegssachschädenersatzansprüche und Lastenausgleichsansprüche abzutreten. Eine bestehende Hypothek auf dem Grundstück bleibe bestehen und würde der Familie Fürstenberg als Gesamtschuldner übertragen. Außerdem müsse sie dem VbK Kosten in Höhe von 77.700 DM zzgl. 4 % Zinsen seit dem 1. Januar 1960 zahlen. Dazu solle eine Hypothekenlast in gleicher Höhe auf dem Grundstück eingetragen werden. Weiterhin wurden die Fürstenbergs verurteilt, dem VbK alle Rückerstattung- und Entschädigungsansprüche abzutreten, wenn in entsprechenden Verfahren festgestellt wird, dass solche Ansprüche bestehen. Und jetzt erst kam es zum Vergleich.

Der Vergleich

Die Rechtsanwälte Tovote und Gregor formulierten in einem Eilbrief (41, Bl. 167) am 15. November 1960 an das Kammergericht: Der VbK wolle das Grundstück vorbehaltlich eines Vergleiches weiterveräußern an den Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V., der 1960 zu diesem Zweck von Berliner Sozialdemokraten unter Leitung von Willy Brandt (1913-1992) gegründet worden war (48); man bitte um einen Vergleichstermin beim Kammergericht. Dort verzichteten die Fürstenbergs auf ihren Rückerstattungsanspruch und auf die Rechte aus dem Beschluss vom 28. September 1959 auf das Grundstück Lützowplatz 9, übertrugen das Eigentumsrecht daran und an die 501qm großen Parzelle an den „Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V.“, der das Grundstück Lützowplatz 9 vom VbK erwerben wollte. Im Gegenzug zahlte der VbK an die Familienmitglieder Fürstenberg den Betrag von 100.000 DM. Etwaige Lastenausgleichsansprüche verblieben beim VbK, Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz (wegen der Nicht-Verfügbarkeit des Kaufpreises von 370.000 RM im Jahr 1938) verblieben bei der Familie Fürstenberg.

Der Verkaufsvertrag zwischen dem VbK und dem Förderverein vom 22. November 1960 (45, Bl. 435) sah einen Kaufpreis von 271.507,88 DM vor, davon sollten 100.000 DM an die Familie Fürstenberg überwiesen werden, der Förderverein übernahm die eingetragene Grundschuld von insgesamt 42.000 DM, die verbleibenden 128.000 sollten an den VbK überwiesen werden.

Literatur

Vorbemerkung: Es gibt im Landesarchiv Berlin insgesamt über 30 Akten in den Wiedergutmachungsverfahren der Familie Fürstenberg, mit insgesamt weit über 1500 Blatt, die dieser Auswertung zugrunde liegen. Der Verweis auf einzelne Aktenseiten wird dadurch erschwert, dass viele dieser Akten die gleiche Archiv-Nummerierung tragen (z.B. B Rep. 025-05 Nr. 204/49), die aber oft unterschiedlichen Gerichtsprozess-Akten zugewiesen wurde (z.B. Beiakte 1 bis 10.). Innerhalb einer Akte sind die Seiten nummeriert. Die Zitation erfolgt daher mit Angabe der Seitennummerierung im Text (z.B. 41, Bl. 167)

41. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (1)

42. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (2)

43. Akte B Rep 025-04 Nr. 482/49 (1) 

44. Akte B Rep 025-04 Nr. 482/49 (5) bis (10)

45. Akte B Rep 025/05 Nr. 204/49 (3)

46. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (2)

47. Akte B Rep 025-05 Nr. 5723/5048.

48. https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_am_Lützowplatz

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 5

Nachdem Sally Fürstenberg bei der Firma Albert Rosenhain eine Stelle als Kaufmann 1879 angetreten hatte – in einem „Galanterie-, Luxus- und Papeterie-Warengeschäft“ – und bereits 1888 vom Kaufmann Albert Rosenhain zu seinem Mitinhaber ernannt wurde, heiratete er im Jahr 1890 dessen 22-jährige einzige Tochter Rose. In diesem Teil der Geschichte verfolgen wir sein Geschäfts- und Familienleben bis zur – erzwungenen – Geschäftsauflösung durch die Nationalsozialisten.

Sally Fürstenberg, der Geschäftsmann

Auch über Sally Fürstenberg waren die Auskünfte, die der Polizeipräsident 1911 und 1914 an die zuständigen Ministerien lieferte – in Sachen Hoflieferant z.B. -, durchweg positiv. Zunächst das Geld: für das Jahr 1914 betrug sein Einkommen 350.000 und sein Vermögen 1,54 Million Mark. Ehrenamtlich war er als vereidigter Sachverständiger bei Gericht tätig (seit 1903), war Mitglied im Vorstand des Verbands der Berliner Spezialgeschäfte und Mitglied des Fachausschusses der Berliner Handelskammer. Im Juni 1914 beantragte der Verband der Spezialgeschäfte für ihn beim Polizeipräsidenten eine Auszeichnung mit einem Orden und verwiess dabei auch auf seine Wohltätigkeit gegenüber seinen Angestellten, aber aus dem Orden ist wohl nichts geworden. Der Polizeipräsident: „In der Geschäftswelt wie im bürgerlichen Leben erfreut er sich allseitiger Achtung und führt sich einwandfrei. In politischer Beziehung ist nachteiliges über ihn nicht bekannt. Im Jahr 1894 ist er wegen Gewerbevergehens zu 20 M Geldstrafe, im Unvermögensfalle 4 Tagen Haft und 1901 wegen Übertretung des § 370.4 R.St.G.B.* mit 5 M Geldstrafe im Nichtbeitreibungsfalle einen Tag Haft bestraft worden. Soldat war er nicht und besitzt auch keine Auszeichnung“ (11). 

* Reichs-Strafgesetzbuch § 370: Übertretungen – Straftaten im Amte: (1876): Absatz 4: wer unberechtigt fischt oder krebst … Da hat er sich wohl ein Sonntagsessen angeln wollen.

Im Jahr 1914 wurde Sally Fürstenberg zum stellvertretenden Handelsrichter ernannt (s. unten), die entsprechende Personalakte fand sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (20).

Die Familie Fürstenberg

Sally Fürstenberg und seine Frau Rosa bekamen in den Jahren 1900 bis 1908 vier Söhne: Paul Phillip Hans, geboren am 30. Juni 1900, Werner Fritz, geboren am 1. August 1904, Ulrich Rolf Ernst, geboren am 15.8 August 1906 und Hellmuth Joachim Moritz, geboren am 7. Juli 1908. Alle vier Söhne lernten den Kaufmannsberuf, verblieben in der Firma des Vaters (s. unten), und emigrierten mit ihm gemeinsam 1938 nach Holland – und von dort weiter nach Übersee vor der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten 1942. Ihnen blieb das Schicksal vieler Juden erspart, die aus Deutschland oder aus den von den Nazis besetzten Gebieten deportiert und ermordet wurden. Ihren weiteren Lebensweg werden wir in einem späteren Teil behandeln.

Auffallend und ungewöhnlich an dieser Familiengeschichte ist der Umstand, dass zwischen Hochzeit (1890) und ersten Kind (1900) zehn Jahre vergingen – Familienplanung oder Schicksal? Familienplanung – im heutigen Sinne: Verzögerung der Geburt von Nachkommen um eigene Ziele, z.B. der Frau zunächst realisieren zu können – scheidet sicher aus, Rosa hatte laut Heiratsurkunde keinen Beruf, half stattdessen in der familiären Firma; der Typus der selbstständigen Frau mit Beruf und eigenen beruflichen Ambitionen entwickelte sich erst nach dem 1. Weltkrieg. Auch war das Herausschieben einer Geburt mit Risiken verbunden, solange Geburten per se ein Risiko waren. Zwar waren die hygienischen Standards weiter entwickelt als noch 50 Jahre zuvor (Semmelweis, Pettenkofer, Koch und anderen sei Dank) und Kindersterblichkeit und Kindsbettfieber deutlich zurückgegangen, aber keineswegs verschwunden: Säuglingssterblichkeit (im ersten Lebensjahr) betrug in Deutschland 1900 noch ca. 16%, Kindersterblichkeit (in den ersten 5 Jahren) noch mehr als 30%, und Müttersterblichkeit war mit 300 toten Müttern auf 100.000 Geburten sehr hoch (heute: 7 pro 100.000 Geburten) (21). 

Um zu prüfen, ob im Zeitraum von 1890 bis 1900 nicht vielleicht doch ein weiteres Kind geboren worden war, das nicht lange überlebt hatte, wurden die Namenslisten des zuständigen Standesamtes in Berlin (Standesamt I/II) durchforstet – ohne Ergebnis. Bleibt noch die Möglichkeit, dass es zu einem spontanen, frühen Abbruch einer Schwangerschaft gekommen sein könnte, der nicht als Tot- oder Fehlgeburt gemeldet werden musste, oder dass eine andere, medizinisch oder sonst wie begründete Zeugungsunfähigkeit bei Mann und/oder Frau vorgelegen haben mag – das wäre dann Schicksal und würde sich einer historischen Analyse weitgehend entziehen.

Der Umzug an den Lützowplatz 1905

In den ersten 15 Jahren nach der Ehe wohnte Sally Fürstenberg noch in der Friedrichstadt, in der Nähe seiner Firma Albert Rosenhain an der Leipziger Straße 72: Zunächst (ab 1891) in der Wallstraße 60, und ab 1896 in der Jerusalemstra0e 11-12; im Jahr 1905 zog die Familie an den Lützowplatz 5 (heute Nr. 9).

Es würde den Rahmen dieser Geschichte sprengen, hier die Auswertung der 7 Bände der Bauakte des Gebäudes Lützowplatz 5 vorzunehmen (22). Eine kurze Version soll hier nur die Rahmendaten berichten: Das Haus war ursprünglich 1873 als freistehendes zweigeschossiges Wohnhaus für die Geschwister Carl Ferdinand und Hermann August Zimmermann und ihre Familien geplant worden (Bild 23), die ein Grundstück von „angeblich 201 QR“ (QR= Quadratruten, ca. 2800 qm) im Jahr 1871 von den Spekulanten Collins & Lau (s. mittendran vom 19.5.2021) gekauft hatten und bis dahin am Tempelhofer Ufer 34 wohnten. 

Bild 23: Situationsplan des Wohnhauses am Lützowplatz 5 (links) sowie Fassade des Wohnhauses 1873 (oben) und 1891 (unten). Quelle: (22).

Die Bauerlaubnis erfolgte am 31. Mai 1873, ein Jahr später wurde der Anschluss der Sickergrube zwischen Wohnhaus und Stall an die öffentliche Kanalisation angeschlossen (Bild 24). Ein Umbau im Jahre 1891 erhöhte das Haus um ein weiteres Stockwerk (Bild 23) und ein Quergebäude anstelle des früheren Stallgebäudes, so dass die Besitzerin, die Witwe Gina Zimmermann, das Haus teilweise vermieten konnte. 1898 wurde das Quergebäude umgebaut und erweitert. Als die Familie Fürstenberg 1905 das Haus erwarb, waren von der Gesamtfläche von 1423qm ca. 634 qm bebaut, so dass – nach einer Erweiterung des Quergebäudes um ca. 80qm im Jahre 1928 – die Familie (Sally, Rosa und 4 Kinder, und zumindest 1924 seine Mutter) auf der sogenannten „Beletage“ (Hochparterre) mit insgesamt mehr als 700 qm komfortable lebte (Bild 25) und die beiden darüber liegenden Etagen vermietete – die Mietpreise bewegten sich zu dieser Zeit im Bereich von 5700 Mark/Jahr für das ganze Haus (1888), wie wir aus einer anderen Akte (23) wissen. Ihre Mieter waren zumeist Professoren und Bankiers, dazu war dies eine viel zu begehrte Lage und der Preis verhältnismäßig hoch, gemessen an den durchschnittlichen Jahreseinkommen.

Bild 24: Grundstücksplan mit Senkgrube und Anschluß an die Kanalisation 1874. Quelle: (22).
Bild 25: Grundriss der Wohnung im Hochparterre, die die Familie Fürstenberg ab 1905 bewohnte. Die farbig markierten Teile sind die Erweiterungen im Jahr 1891, so dass die Gesamt-Wohnfläche 634qm betrug. Quelle: Bauakte (22).

Firmengründung 1924

Zwar hatte sich Albert Rosenhain bereits 1901 aus der Leitung der Firma Albert Rosenhain zurückgezogen und die Geschäftsführung den Gebrüdern Sally und Gustav Fürstenberg überlassen, aber er war mit Sicherheit noch stiller Teilhaber. Als er am 20. August 1916 im Alter von 79 Jahre verstarb, wohnten er und seine Frau Line (Samueline) in Berlin in der Königin-Augusta-Straße 24, auf der anderen Seite des Landwehrkanals. Line Rosenhain geborene Löwenthal starb am 24. Juli 1924 in Alter von 80 Jahre alt und wohnte zu diesem Zeitpunkt am Lützowplatz 5, auch wenn auf ihrer Sterbeurkunde die Adresse Königin-Augusta-Straße 24 angegeben war. Und Rosa Fürstenberg geborenere Rosenhain, Ehefrau des Sally Fürstenberg starb am 8. September 1925, ihr Tod wurde durch ihren Sohn Paul Fürstenberg angezeigt (Bild 26).

Bild 26: Sterbeurkunde der Rosa Fürstenberg geborene Rosenhain vom 8. September 1925.
Der Tod wird vom Sohn Paul Fürstenberg angezeigt.

Spätestens nach dem Tod des Firmengründers war offenbar eine Neugründung der Firma Albert Rosenhain notwendig, wie eine Akte aus dem Handelsregister B des Amtsgerichts Charlottenburg belegt: Am 13. März 1922 hatten Sally und Gustav einen neuen Gesellschaftervertrag vorgelegt, in dem die bislang offene Handelsgesellschaft in eine G.m.b.H. umgewandelt wurde. „Gegenstand des Unternehmens ist der Vertrieb von Leder-, Luxus- und Galanteriewaren, insbesondere der Fortbetrieb des zu Berlin unter der Firma Albert Rosenhain bestehenden Handelsunternehmens, zu dem Grundstücke nicht gehören“ (11). Das Stammkapital von 5 Mio. Mark wird in 500 Anteilen von je 10.000 Mark im Verhältnis von 3:2 unter den beiden Eignern (Sally, Gustav) aufgeteilt. Die Geschäftsführung übernehmen die beiden Gesellschafter, die dafür jeweils ein Jahresgehalt von 200.000 Mark erhalten, die Ehefrauen der beiden werden zu stellvertretenden Geschäftsführerinnen. 

Nach dem frühen Tod seines Bruders und Kompagnons Gustav am 8. April 1931 im Alter von 61 Jahren trat seine Witwe Sophia geb. Birnholz als stellvertretende Geschäftsführerin zurück, blieb aber Gesellschafterin, und Sallys ältester Sohn Paul trat als Geschäftsführer ein. Im Jahr 1933 wurden auch die anderen Söhne Gesellschafter: Das nach Hyperinflation des Jahres 1923 und der Währungsreform 1924 registrierte Stammkapital von 1.25 Mio. Reichsmark (RM) verteilte sich im Verhältnis von 4:2:1:1:1:1 auf Sophia, Sally, und die Söhne Paul, Fritz, Ulrich bzw. Hellmut; die waren jetzt 23, 19, 17 und 15 Jahre alt. Paul bekommt eine Generalvollmacht, seinen Vater in allen Angelegenheiten allein vertreten zu dürfen. Diese Vollmacht wird bereits in Amsterdam im deutschen Generalkonsulat angefertigt – die Familie war 1933 ausgereist. Zwei Jahre später, mit Datum vom 27.September 1935, teilen die beiden Geschäftsführer (Sally, Paul Fürstenberg) dem Amtsgericht Berlin (Handelsregister) mit, dass aufgrund notarieller Verhandlungen vom 16.September 1935 die Gesellschaft aufgelöst ist und sie beide zu Liquidatoren bestellt worden sind. Der Liquidationsprozess dauert allerdings noch bis 1943 und wird erst am 29. Juli 1943 von der Berliner Revisions-Aktiengesellschaft bestätigt, die „die Bücher und Schriften … aufbewahrt“ – davon wird noch zu reden sein (s. unten, Firmenauflösung).

Handelsrichter Fürstenberg

Bereits vor seiner Ernennung und Vereidigung als Handelsrichter im Jahr 1914 war Sally Fürstenberg vereidigter Sachverständiger für Leder-, Luxus- und Galanteriewaren bei den Berliner Gerichten (laut Adressbuch seit 1903), war seit 10 Jahren Kaufmannsgerichts-Beisitzer und II. Vorsitzender des ständigen Ausschusses für den Kleinhandel der Handelskammer zu Berlin. Mit Datum 1. Juli 1914 wurde er für 3 Jahre zum stellvertretenden Handelsrichter am Landgericht II ernannt; diese Bestallung wurde 1918, 1920, 1923, 1926 und 1929 erneuert. 1931 wird er zudem als Sachverständiger für das Kammergericht und die Landgerichte I, II und III bestätigt. Im Jahr 1932 wird die Ernennung zum Handelsrichter nicht erneuert, aber unter ausdrücklichem Verweis darauf, dass dies „lediglich deshalb nicht erfolgt, weil mit Rücksicht auf die Abnahme der Handelssachen eine Verminderung der Zahl der Handelsrichter vorgenommen werden musste“ (20).

Personalakten enthalten keine gerichtlichen oder juristischen Vorgänge, an denen der Handelsrichter Fürstenberg beteiligt war, sondern vor allem Urlaubsgesuche, Krankschreibungen und beamtenrechtliche Vorgänge. Gelegentlich weist dies auf berufliche bedingte Reisen z.B. zur Leipziger Messe hin, manchmal enthalten Urlaubsgesuche Hinweise auf familiäre Gründe: so z.B. bei einem Urlaubsgesuch vom 12. Januar 1924 unter Hinweis auf eine schwere Erkrankung seiner Frau Rosa – „im Dez. 23 und Anfang Januar 24 wegen plötzlich einsetzender Erblindung eines Auges (infolge schwerer Erkrankung ihres Gefäßsystems)“ – die daran im Sommer des Jahres verstarb (s. oben, Bild 26). Oder eine eigene Erkrankung (ein stark juckendes Hautleiden, behandelnder Arzt Prof. Chajes) im Juli 1925, die nach einer Stress-bedingten psychosomatischen Reaktion klingt (wenn dem Autor diese „Ferndiagnose“ gestattet ist).

Und dann findet sich doch noch ein dienstlicher Vorgang: In einem Zeitungsartikel vom 8. September 1925 (20) wurde dem Handelsrichter Fürstenberg und einem weiteren Kollegen vorgeworfen, ihre Positionen im Aufsichtsrat einer Firma dazu benutzt zu haben, einen noch nicht vom Aufsichtsrat genehmigten Bilanzbericht einer Konkurrenzfirma zur Einsicht gegeben zu haben. Die Sache wurde als erledigt betrachtet, als klar war, dass der Konkurrent der Firma früher angehörte hatte, die Daten aus anderen Quellen kannte, und die beiden Aufsichtsräte sich redlich und erfolgreich bemüht hatten, die allseits bekannten Streitigkeiten in der Firma vorgerichtlich zu klären.

Wohin mit dem vielen Geld: Immobilienkauf und Pferderennsport

Zählten die Fürstenbergs bereits nach der Jahrhundertwende zu den reichsten Menschen in Berlin (13), so hat sich diese privilegierte Situation in den Jahren bis zur Auflösung der Firma und Emigration – natürlich – nicht verschlechtert. Deutlich wird dies weniger an der Wohnsituation als vielmehr an den Investitionen, die Sally tätigte. Wir hatten aber schon gesehen, dass sein jüngerer Bruder Gustav 1930 in das Villenviertel Dahlem zog und dort eine Immobilie erwarb und bewohnte.

Zum einen waren dies Immobilien in den besten Lagen der Stadt, wie man den Adressbüchern Berlins entnehmen kann: Das erste Grundstück war in der Leipzigerstraße 73/74, erworben 1906, sowie das rückwärtig dazu gelegene Grundstück Niederwallstrasse 13/14, erworben 1908; hier waren die Geschäftsräume (s. Bild 21). In der Lietzenburgerstraße 13 besaß die Familie seit 1908 ein Grundstück, auf dem ein Wohnhaus stand. 1919 erwarb Sally Fürstenberg auch noch das Grundstück Lützowstraße 60 in unmittelbar Nachbarschaft zum Wohnsitz Lützowplatz 5 – die beiden Gartengrundstücke waren hinter den Häuserreihen miteinander verbunden (Bild 27). Die Familie erwarb 1932 die Grundstücke Kurfürstendamm 230 und 232; Eigentümer war hier die „Kurfürstendamm Wohnstätten AG“ mit Sitz in der Leipzigerstrasse 72,74 (Firma Rosenhain). Weitere Erwerbungen waren 1933 ein Wohnhaus in der Augsburgerstrasse 34 (1934 war der Eigentümer die Firma Rosenhain, Kurfürstendamm 228, danach die o.g. Wohnstätten AG) und 1934 ein Wohnhaus in der Wassertorstrasse 3 (Kreuzberg). All diese Immobilien mussten aufgrund der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 veräußert werden und wurden – weit unter Wert – für die Bezahlung der Reichsfluchtsteuer genutzt – dazu ein andermal mehr.

Bild 27: Die Grundstücke Lützowplatz 5 und Lützowstrasse 60 des Sally Fürstenberg. Die Gartenanteile stoßen oben rechtwinklig zueinander. Die farbig markierten Bauteile sind Erweiterungen bzw. Abbruch im Jahr 1928. Quelle: Bauakte (22).

Und dann waren da noch die Rennpferde, wie wir aus einer Sammlung von Presseartikeln zu Sally Fürstenbergs 70. Geburtstag im Jahr 1930 erfahren haben – gefunden im Jüdischen Museum von Berlin (JBM), dem JBM von Nachkommen der Familie Fürstenberg in den USA zur Verfügung gestellt (24). Textlich waren die meisten der 33 Artikel nicht unabhängig voneinander (auch Journalisten schreiben voneinander ab), das Foto des Jubilars war in den meisten Fällen das gleiche, und bezüglich der Lebensdaten und Fakten enthielten Sie nicht viel Neues über das hinaus, was wir inzwischen in Archiven gefunden hatten, aber definitiv neu war die Sache mit den Rennpferden. Wenn man sie dann weiß, sind weitere Informationen leicht zu finden in der Tagespresse, insbesondere in den Meldungen zum Pferderennsport.

Zwischen 1922 und 1929 konnte wir acht Rennpferde identifizieren, als deren alleiniger Besitzer Sally Fürstenberg genannt wurde. Dies waren von 1922 bis 1925 der Hengst Contrahent, 1923 und 1924 die Pferde Palette sowie Blücher, 1925 Toga, 1925 bis 1927 Mainberg, 1926 bis 1929 Tullus Hostilius und Freier Wille, und schließlich 1925 bis 1928 Pilatus, das ihm anfänglich zur Hälfte gehörte, zuletzt aber unter E.S.Fürstenberg lief. Mit Mainberg hatte er 1927 seine größten Gewinner: „Herr E.S.Fürstenberg ist der Besitzer des Siegers im großen Preis von Karlshorst, Mainberg, der die Gesamtgewinnsumme, die 37 570 Mark ausmacht, bis auf einen geringen Bruchteil, allein zusammentrug“ (25). Der Hengst mit dem Namen Tullus Hostilius (Bild 28), benannt nach dem sagenumwobenen dritten römischen König (710 – 640 v.Chr.), konnte auf eine stattliche Herkunft zurückblickend, die bei Rennpferden (wie beim Adel) auf das Sorgfältigste dokumentiert wurden und werden; er war vermutlich das teuerste Engagement von Sally Fürstenberg. Er galt in der Saison 1927 als Favorit für das Deutsche Derby, patzte aber aufgrund der Wetterbedingungen. Bei einem Rennen in Berlin-Hoppegarten am 26. Juli des gleichen Jahres verletzte er sich schwer (Bruch der linken Fußwurzel) und schied für weitere Monate aus dem Rennbetrieb aus. Als er im Oktober als wiederhergestellt galt, wurde vermeldet, dass er nicht mehr zum Rennbetrieb tauge, sondern zu Zuchtzwecken eingesetzt werden sollte; 1931 wurde er verpachtet – für Sally Fürstenberg sicherlich ein ganz erheblicher finanzieller Verlust. 

Bild 28: Der irische Schimmel Tullus Hostilius des Sally Fürstenberg. Das Pferd verletzte sich bei einem Rennen 1927 und fand danach zu Zuchtzwecken Verwendung. Quelle: (25).

Die Auflösung der Firma Rosenhain

Die erzwungene Geschäftsauflösung der Firma Rosenhain, der Zwangsverkauf aller ihrer Immobilien und die Zahlung einer horrenden Reichsfluchtsteuer als Voraussetzung für die Emigration der Familie Fürstenberg aus Deutschland sind Thema eines weiteren Teils dieser Geschichte. Deren Grundlage waren eine Vielzahl von antijüdischen Gesetzen, die die Nationalsozialisten in den Jahren nach der Machtergreifung 1933 erlassen hatten (26). Viele der dabei erzwungenen „Verträge“ der Familie Fürstenberg mit dem deutschen Reich wurden erst in den Restitutionsverfahren der Familie nach dem Krieg öffentlich bekannt und werden hier erstmals ausgewertet. Eine Darstellung dieser sinnentstellend „Wiedergutmachungsverfahren“ genannten Prozesse ab 1950 wird diese Familiengeschichte abschließen.

Literatur (für Nummern unter 20 siehe die Teile 1 bis 4)

20. Landgericht II Berlin, Personalakten betreffend den stellvertretenden Handelsrichter Egon Sally Fürstenberg. Signatur 4A KG Pers 10837 im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam. 

21. Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit. Siehe die entsprechenden Artikel in Wikipedia mit diesen und weiteren Quellen, z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Säuglingssterblichkeit.

22. Bauakten des Wohnhauses Lützowplatz 5 (heute: 9) im Bauakten-Archiv des Bezirksamtes Berlin-Mitte; auf Anfrage waren es sieben Akten, die nur durch den Eigentümer einsehbar sind. Die Einsichtnahme erfolgte durch Herrn Dr. Wellmann vom HaL, der die Scans zur Verfügung stellte.

23. Akten der Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin, betreffend den Lützowplatz. Im Landesarchiv Berlin, Signataur A Rep. 000-02-01 Nr. 734 – darin sind für die einzelnen Häuser am Lützowplatz die Mieten im Jahr 1888 aufgelistet.

24. Archiv des Jüdischen Museums Berlin (JMB), Akte Nr. L-2005/30/5, ein in Leder gebundenen Buch mit Zeitungsausschnitten von 1930 anlässlich des 70. Geburtstages von Sally Fürstenberg. Das Foto des Pferdes Tullus Hostilius war in der B.Z. am Mittag Nr. 35 vom 5. Februar 1930 auf der Titelseite abgebildet.

25. Deutsche Allgemeine Zeitung, Mittagsausgabe vom 23.November 1927, Seite 3.

26. Die Liste der antijüdische Gesetze finden sich bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_antijüdischer_Rechtsvorschriften_im_Deutschen_Reich_1933–1945

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 2

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Großeltern des Egon Sally Fürstenberg kennengelernt, Joseph David (Fürstenberg), der Handelsmann aus Lindow und seine Frau Fanni, geborene Levin/Michel. Sie hatten zwei Söhne, David Fürstenberg, geboren 1820 in Lindow, und Philipp Fürstenberg, geboren 1824, ebenfalls in Lindow, der Vater des Egon Sally.

Familie Ledermann – 7

Im 6. Teil der Geschichte der Familie Ledermann hatten wir die von Franz Anton Ledermann geschriebene Geschichte „Zur Naturgeschichte des Dilettantenquartetts“ vorgestellt (Beitrag vom 22. April 2023, dort Bild 4), die am 9. Mai 1924 im Berliner Tageblatt erschienen war. Diese Glosse, als Teil eines humorvollen Buches über Hausmusik und Hausmusiker, insbesondere Streichquartette, betitelt „Das stillvergnügte Streichquartett“ (Bild 1), findet sich ab 1936 und bis heute sowohl als Buch (antiquarisch, letzte Auflage 2006) als auch auf CD, auf deutsch oder englisch (The Well-Tempered String Quartet), veröffentlicht von Ernst Heimeran (1902-1955) und Bruno Aulich (1902-1987) im Münchner Heimeran Verlag, der 1980 aufgelöst wurde.

Bild 1: Titelbild der Buchausgabe von 1936 und den nachfolgenden Ausgaben (3)

Den späteren Ausgaben vorangestellt ist die Anmerkung, dass erst die 7. Auflage der Geschichte (Untertitel: Auf Wiedersehn bei der Fermate – was wohl nur Musiker verstehen: Jeder spielt für sich, aber man trifft sich in den Pausen – den Fermaten) den Autor nennt, Franz Anton Ledermann, ein Rechtsanwalt, der Bratsche spielt, und den Erstabdruck 1924 im Berliner Tagblatt (Bild 2). Da wir diese Ignoranz zunächst für eine anti-semitische Einstellung des Verlags und der Herausgeber gehalten hatten, haben wir uns auf die Suche nach der „Geschichte hinter der Geschichte“ gemacht, und sind eines Besseren belehrt worden.

Bild 2: Die verschiedenen Einleitungstexte 1929 (1), 1932 (2), 1936 (3) und 1938 (3).

Dabei war die Suche 1929 deutlich näher an der Wahrheit als alles später Geschriebene. Im Vorwort zur Geschichte „Das Dilettantenquartett. Von F.A.Ledermann“ schreibt der Autor „Osmin“: Ich habe einen Kasten, in dem liegen Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, gesammelt in vielen Jahren …. Als ich kürzlich darin wieder einmal kramte, fiel mir die köstliche Humoreske … in die Hände. Sie muß vor etwa fünf Jahren erschienen sein, in einer Tageszeitung, die ich nicht mehr feststellen kann. Auch den Verfasser habe ich vergebens zu ermitteln versucht … Ich konnte ihn nicht gebührend fragen, ob er den Abdruck seines witzigen Aufsatzes erlaube. Kommt er ihm irgendwie zu Gesicht, so bitte ich ihn, nicht böse zu sein und nachträglich Ja und Amen dazu zu sagen … Freilich wüßte ich auch gern, wer der Verfasser eigentlich ist.

Drum frag ich hiermit jedermann, wer kennt Herrn F.A.Ledermann?“ (1)

Drei Jahre später wird die Autorenschaft mystifiziert: „Diese geradezu klassische, humorvolle Schilderung … zirkuliert nämlich in wenigen Abschriften bei Musikliebhabern, ist u.W., die wir sie als kostbaren Schatz hüteten, noch nie veröffentlicht und angeblich von einem Herrn F. A. Ledermann verfaßt. Vielleicht finden wir ihn auf diesem Wege, damit wir ihm den Dank unzähliger Quartettspieler abstatten können“ (2).
Und die erste Auflage des Buches von 1936 weist weit in die Vergangenheit: „… diese humorvolle Schilderung … zirkuliert nämlich in Abschriften … (die) sich … bis zur Jahrhundertwende zurückverfolgen (lassen)“ (3), d.h. bis 1900; kein Wunder, dass die Suche nach dem Autor vergeblich gewesen war. Gleichzeitig weisen Heimeran und Aulich aber darauf hin, dass sie zuvor schon zweimal versucht haben, vergebens, wie sie in der ersten Buchausgabe 1936 vermerken (s. Bild 2).

Das Buch war populär, wofür spricht, dass 1938 schon die 7. deutsche Auflage gedruckt war, und dass im gleichen Jahr die erste englische Ausgabe auf den Markt kam, einer Übersetzung von D. Millar Craig (4). In beiden heißt es in der Einleitung zum Text, man kenne jetzt den Autor, „Ledermann ist Jurist, zählt heute 46 Jahre und spielt Bratsche“ (4) – und die englische Ausgabe nennt auch die korrekte Quelle: Berliner Tageblatt vom 9. Mai 1924 und vermerkt, dass das Buch vielleicht besser „Variations on a theme by Ledermann“ betitelt worden wäre.

Woher allerdings diese Informationen stammen, wird nicht berichtet. Franz Ledermann war im Oktober 1889 geboren worden, und war also bei der Erstausgabe des Buches tatsächlich 46 Jahre alt. Er lebte aber zu diesem Zeitpunkt bereits in Amsterdam, drei Jahre nach seiner Flucht aus Deutschland und sechs Jahr vor seinem Tod in Auschwitz – vielleicht ein Fall schamhaften Verschweigens der vermuteten Wahrheit? In der ersten Ausgabe nach dem Krieg (12. Auflage 1955) dann die „schaudernde“ Erkenntnis, dass er Opfer der Nationalsozialisten geworden war, falsch zwar in den Details (von der SS in Amsterdam ermordet), aber immerhin konzedieren sie, dass sie diesem Text viel zu verdanken hätten.

Literatur

  1. Deutsche Musiker-Zeitung Nr. 29 vom 29. Juli 1929, Seite 613-4
  2. Münchner Neueste Nachrichten Nr. 285 vom 19. Oktober 1932, Seite 11
  3. Bruno Aulich, Ernst Heimern. Das stillvergnügte Streichquartett. Heimeran Verrlag, München 1936 (1. Auflage), Seite 60; 7. Auflage (1838), Seite 60.
  4. The Well-Tempered String Quartet. By Bruno Aulich & Ernst Heimeran. Translation by D. Millar Craig. London: Novello and Company Ltd. 1938. Der entsprechende Abschnitt mit dem Text von Ledermann ist betitelt: „See you again at the Double Bar, a contribution to the Natural History of the Amateur Quartet“ (Seite 47).

REDE VON SARAH RICHARDSON 

Anlässlich der Stolpersteinverlegung für die Familie Ledermann / Citroen

Am 8. September wurden vor dem Haus Genthiner Straße 14 fünf Stolpersteine zum Gedenken an die Familie Ledermann verlegt. Sarah Richardson lebt heute in den USA, wohin ihre Großmutter Barbara Ledermann als einzige Überlebende ihrer Familie 1947 auswanderte. Auf der Gedenkveranstaltung zur Verlegung der Stolpersteine am 8. September in der Villa Lützow hielt Sarah Richardson eine berührende Rede, die wir in Auszügen veröffentlichen.

Kleine Quellenkunde für Jüdische Geschichte in Tiergarten

von Prof. Dr. Paul Enck, (www.paul-enck.com)

… damit kann die Recherche jetzt erst richtig beginnen, hatten wir am Ende der ersten Folge von „Jüdisches Leben in Tiergarten-Süd“ (mitteNdran vom 8.5.2022) formuliert. Gemeint war: Hat man erst einmal ein Fadenende erwischt, ist es wesentlich leichter, einer Spur nachzugehen.

Jüdische Viertel in Berlin

Zwar wohnten im Bezirk Tiergarten nördlich des Landwehrkanals vor 1933 etliche reiche jüdische Familien (1), aber ein jüdisches Viertel (Bild 1) wurde es dadurch nicht, dazu gab es viel zu viele arme (und auch reiche und nicht-so-reiche) Juden in anderen Teilen der Stadt in den vergangenen 350 Jahren.