Jüdische Gewerbebetriebe (2) Versandhaus A. Blumenreich (Teil 2)

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Herkunft Arnold Blumenreichs – und seiner Geschwister – vorgestellt, insbesondere den berühmt-berüchtigten Vater Paul Philipp Perez Blumenreich und seine vier Ehen mit insgesamt 14 Kindern (JUELE vom 22. Juni 2024). Wir haben uns gefragt, was bei so einer chaotischen Kindheit aus den vier Kindern der ersten Ehe geworden sein mag. Hier und heute also die Geschichte des ältesten Sohnes und seiner Familie, nachdem zwei Geschwisterkinder, die vor ihm geboren worden waren, noch im Kleinkindalter verstarben.
Laut Geburtsurkunde hieß er Arnold, aber er schrieb sich später im Leben gelegentlich, wenngleich nicht immer Arnhold (Bild 1) – wir werden ihn einheitlich Arnold nennen.

Bild 1: Aus der Bücherei des Arnhold Blumenreich (aus: Sammlung Ex Libris, Datenbank der Sammlungen des Museums für Angewandte Kunst, Budapest, Ungarn. Künstler: Felix Willmann, Berlin)

Von Wien nach Berlin

Arnold Blumenreich, geboren am 6. November 1875 in Berlin, heiratete am 3. Dezember 1905 in Wien Ilse Mautner, Tochter des Hauptschullehrers Julius Jakob Mautner, geboren am 23. August 1877. Im diesem Jahr 1877 waren die Eltern von Arnold, der Schriftsteller Paul Blumenreich und seine (erste) Frau Adele, geborene Fränkel, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war, mit Arnold nach Wien umgezogen, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung wurde und vor allem Theaterstücke verfasste; drei Jahre später (Arnold war 5 Jahre alt) zog die Familie wieder zurück nach Berlin. Als er neun Jahre alt war (1885), starb seine Mutter an Tuberkulose. Ein Jahr später (1886) heiratete sein Vater erneut. Diese Ehe hatte nur vier Jahre Bestand, sie wurden 1890 geschieden, Arnold war jetzt 15 Jahre alt. Zuvor bereits hatte sein Vater, vermutlich in Wien, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899) kennengelernt, sie wurde 1891 seine dritte Frau.

Es ist völlig unklar, wo Arnold seine Schulzeit verbracht hat (vermutlich größtenteils in Berlin), wo er seine Buchhändler-Lehre gemacht hat, und wann und wo er die Ilse Mautner kennengelernt hat, wahrscheinlich in Wien. Jedenfalls haben sie dort 1905 in der jüdischen Gemeinde geheiratet. Im Jahr 1906 kam ein Sohn, Victor, zur Welt, und im Jahr 1911 eine Tochter, Gerda. 1919 zogen Victor und Gerda mit den Eltern nach Berlin. Victor Tod wurde im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens 1960 dokumentiert : er starb Neufchatel (Schweiz) „gegen Ende des 1. Weltkriegs … sein Tod wird mit dem Zeitpunkt 31. Dezember 1923 festgestellt“ (1).

Im Jahr 1908 eröffnete Arnold Blumenreich in Wien, in der Webgasse 12, das Wiener Kunsthaus Ges.m.b.H., das bis 1923 in Wien nachweisbar ist, jedoch mit Unterbrechungen. Darüber hinaus war Arnold Blumenreich Gesellschafter eines Kunst- und Musikalienhandels in Wien, und meldete 1916 in Wien „Blumenreich´s Versandhaus Ges.m.b.H.“ an; eine gleichnamige Fima eröffnete er in Budapest. Dieser Teil seiner Biografie ist in der exzellenten Master-Arbeit von Victoria Louise Steinwachs (2) gut recherchiert und dokumentiert. Auch die vielfältigen Aktivitäten des Versandhauses (Kauf, Verkauf, Vermittlung von Kunst etc.) sind bei Steinwachs gut dokumentiert und werden hier nicht behandelt (Bild 2).

Bild 2: Visitenkarte des Arnold Blumenreich (aus: Der Querschnitt, Sommerheft (Heft 2) 1922).

Den Beitrag von Bethan Griffiths „Jüdische Gewerbebetriebe rund um die Potsdamer Straße: Versandhandel Arnhold Blumenreich“ über den Aufstieg und die anschließende Auflösung des Geschäftes nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wollen wir hier nicht wiederholen, sondern verweisen auf die Veröffentlichung hier vom 17. Februar 2023. Diese Geschichte endet mit dem folgenden Absatz: 

Für das Ehepaar wurde es in Berlin immer bedrohlicher. Im Mai 1939 wurde Arnhold aus unbekannten Gründen verhaftet und im Polizeigefängnis Mitte inhaftiert. Er und Ilse wurden schließlich am 28.10.1942 aus ihrer Wohnung in der Solinger Str. 6 nach Theresienstadt deportiert. Die furchtbaren Bedingungen des Konzentrationslagers überlebte Ilse nur ein halbes Jahr. Arnhold starb ein Jahr nach seiner Deportation. 

Die weitere Geschichte wirft einige Fragen auf, denen wir nachgegangen sind: Warum und wie wohnte die Familie in der Solinger Straße 6? Was geschah mit den Kunstgegenständen? Was wurde aus Gerda Blumenreich, der Tochter? Gab es nach dem Krieg ein Wiedergutmachungsverfahren, und wie ging es aus?

Judenhäuser in der Solinger Straße

In der Levetzowstraße 7/8 in Berlin-Moabit befand sich seit 1914 eine der größten Synagogen Berlins. Die Nationalsozialisten richteten dort 1941 ein Sammellager für Juden ein, die sie anschließend in den Osten deportierten (3) – und drumherum gab es eine Vielzahl von sogenannten „Judenhäusern“, in denen die von außerhalb Berlins oder aus anderen Stadtteilen zusammengezogenen Juden bis zur – geplanten – Deportation ab dem Jahr 1939 einquartiert wurden. Die Solinger Straße 6 war so ein Judenhaus in der Nähe der Synagoge, neben einigen anderen in der gleichen und den umliegenden Straßen (Bild 3). Natürlich wohnten besonders viele Juden in der Umgebung der Synagoge, und viele dieser Häuser hatten ursprünglich jüdische Besitzer – sie standen nach der Machtergreifung des Nazis unter Zwangsverwaltung, auch das Haus Solingerstraße 6. Es gehörte einem J. Kaufmann aus Riga und wurde ab 1939 von einer Charlotte Meurer im Auftrag der Treuhandstelle Ost verwaltet. Arnold Blumenreich arbeitete zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Buch- und Kunsthändler, sondern als „Wohnungsberater“ der Jüdischen Krankenversicherung (JKV) für 190 Reichsmark (RM) monatlich. Die Miete für die 4-Zimmer-Wohnung war 130,30 RM im Monat. In der gleichen Wohnung war weiterhin eine jüdische Familie (Ernst und Elfriede Süßmann und ihre Tochter Franziska) untergebracht (4). Der Vormieter der Wohnung, Heymann Grossmann, war im Oktober „ausgewandert“.

Bild 3: Sogenannte „Judenhäuser“ in der Umgebung der Synagoge in der Levetzowstraße, insbesondere in der Solinger Straße. Screen-Kopie der Webseite „Zwangsräume“ (5).

Die Webseite „Zwangsräume“, die Judenhäuser in Berlin dokumentiert (5), nennt wenigstens 16 Umzüge an diese Adresse nach 1939. Eine dieser Umzüge war der der Familie Arnold Blumenreich, die nach 1939 nicht mehr unter ihrer alten Adresse (1938: Schöneberger Ufer/Großadmiral von Koester-Ufer 55; 1939: Kluckstraße 13) im Berliner Adressbuch gelistet war. Sie zog zum 28. November 1940 in die Solinger Straße 6, 2. Stock, nachdem sie zuvor offenbar kurzzeitig schon in der Solinger Straße 3 gewohnt hatte, ein weiteres Judenhaus mit mindestens 13 Einzügen seit 1939. Durch diese Zwangsumzüge war, wie die Nazi-Presse lauthals verkünden konnte, das Tiergartenviertel „judenfrei“ und bereit zum großen Umbau für „Germania“, den Monster-Stadtplan von Albert Speer (6).

Wir erfahren all dies aus den Akten, die das Finanzministerium angelegt hatte (4), um Eigentum und Vermögen der Juden zu erfassen und zu konfiszieren. Auf der Grundlage eines entsprechenden anti-jüdischen Gesetzes musste alle Juden in Deutschland eine gesonderte Vermögenserklärung gegenüber dem Finanzamt abgeben – die Erklärung der Familie Blumenreich (Arnold, Ilse und Gerda) listet alle Einrichtungsgegenstände der Wohnung auf, die sie in der Solinger Straße bewohnten (s. unten) – Kunstgegenstände waren nicht darunter. 

Da jüdische Galeristen bereits vor 1939 ihre Geschäfte aufgeben mussten, aus den Kunst- und Kunsthändler-Verbänden ausgeschlossen wurden und die von ihnen gehandelte Kunst oftmals als „entartet“ gebrandmarkt worden war, wurde die Kunst versteigert; die „entartete“ ging ins Ausland, um Devisen einzufahren für den geplanten Krieg, und wenn sie dem nationalsozialistischen „Zeitgeist“ entsprach, an einheimische Sammler. Wenn sich nicht zuvor Göring oder Hitler die Werke selbst unter den Nagel rissen für ihre Privatsammlungen (7).

Arnold und Ilse hatten einen Ehevertrag zur Gütertrennung vom 24. März 1906, also noch in Wien vereinbart und im Notariatsregister Breslau am 12. August 1911 hinterlegt. Die Vermögenserklärungen von Arnold und Ilse Blumenreich (vom 16. Oktober 1942) sind darüber hinaus deswegen spärlich, weil sie den gesamten Hausrat 1939 ihrer Tochter Gerda als Aussteuer übertragen hatten und bis auf weniges Persönliches, vor allem Kleider, nichts mehr besaßen. Sollten sie noch Geld gehabt haben, so haben sie dies sicherlich für die Reise und Unterbringung in Theresienstadt ausgeben müssen – die Nazis ließen sich auch dies von den Deportierten bezahlen, da ihnen ja ein „Altersruhesitz“ versprochen wurde – welch ein Zynismus. Als Gerda ihre Vermögenserklärung abgab (am 24. November 1942), waren ihre Eltern bereits „abgereist“: Sie wurden mit dem 68. Alterstransport am 28. Oktober 1842 nach Theresienstadt deportiert (8) – ob sie danach noch mal Kontakt mit ihnen hatte, ist zweifelhaft, beide starben innerhalb eines Jahres. Aber die geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte dem Oberfinanzpräsidenten die erfolgreiche Beschlagnahmung des Vermögens weiterer 100 Juden nebst deren Abschiebung nach Theresienstadt in einem geschäftsmässigen Schreiben melden (Bild 4).

Bild 4: Schreiben der Gestapo vom 30. Oktober 1942 an den Oberfinanzpräsidenten zum Vollzug des 68. Alterstransportes (aus (8)).

Gerda Blumenreich

Gerda Blumenreich, am 16. März 1911 in Wien geboren, war 22 Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Sie war unverheiratet, hat noch bei ihren Eltern gewohnt, und war laut Informationen aus den Akten des BLHA (9), von Beruf Fürsorgerin und ständige Helferin in der Synagoge in der Levetzowstraße. In ihrer Vermögenserklärung gibt sie weitere Informationen: Sie arbeitete zuletzt bei der Jüdischen Kulturvereinigung zu Berlin e.V. für 200 RM netto im Monat, bewohnte die 4-Zimmer-Wohnung nach der „Abwanderung“ ihrer Eltern nach Theresienstadt allein, zahlte dafür 135 RM Miete, hatte aber einen weiteren Untermieter aufgenommen – möglicherweise war die Familie Süßmann ebenfalls bereits deportiert worden.

Das Wohnungsinventar wurde Finanzamt auf eine Gesamtwert von 1239 RM geschätzt, wobei bei vielen Positionen vermerkt wurde: defekt, alt, beschädigt, zerbrochen etc. Dies wurde später im Wiedergutmachungsverfahren als „übliche Praxis“ der Auktionshäuser bezeichnet, um den Preis zu drücken und so auf jeden Fall die Gegenstände zu verkaufen – das Finanzamt war schließlich nicht an Möbeln interessiert, sondern an Geldwerten. Die Versteigerung von etwa 60 Positionen am 23. März 1943 listet auch die vielen Käufer des Blumenreichschen Hausrates. Der auf der Auktion erzielte Gesamtverkaufspreis von 3097,00 RM reduzierte sich um 309,70 RM als Gebühr für die Versteigerung, und 203,10 RM für den Transport des Hausrats, so dass am 6. April 1943 nur 2584,20 RM an die Finanzkasse des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg überwiesen wurden. Auch das Eigentum der Familie Süßmann kam zur Versteigerung und erbrachte (netto) 387,10 RM. Als das Geld beim Finanzamt einging, war Gerda Blumenreich schon mit dem 23. Osttransport am 29. November 1942 als Nr. 1007 von 1021 anderen nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich unmittelbar nach Ankunft umgebracht worden (10) (Bild 5).

Bild 5. Gerda Blumenreich auf der Deportationsliste des 23. Osttransports (aus: 10).

Aber es gab weitere Interessenten an dem wenigen Geld: Die Hausverwaltung veranlasste unmittelbar nach Auszug von Gerda Blumenreich umfängliche Renovierungen der Wohnung, deren Gesamtrechnung sich auf 1093,46 RM belief. Diese Kosten machten sie gegenüber dem Finanzamt am 29. September 1943 geltend, und dann begann das, was man wohl eine Schacherei nennt. Das Finanzamt monierte, dass eine Gesamtrenovierung nach zwei Jahren Wohnens nicht angemessen sei, da bei Wohnungsbezug keinerlei Mängel notiert worden seien, sondern die Wohnung laut Mietvertrag renoviert übernommen worden sei. In der Vermögenserklärung hatte Arnold Blumenreich demgegenüber erhebliche Mängen in den hinteren Räumen beanstandet. Ausnahmsweise bot das Finanzamt die Übernahme von einem Drittel der Kosten an, und erhöhte schließlich auf 50%, nachdem die Hausverwaltung nachgelegt und über erhebliche Mietschäden durch ungenehmigte Untervermietung geltend gemacht hatte. Und so überwies das Finanzamt am 30. November 1944 vom Verkaufserlös des Mobiliars einen nicht unerheblichen Teil (510,76 RM) wieder zurück in den Geldkreislauf – 6 Monate vor Kriegsende. Die darüber hinaus gehenden vielfachen persönlichen wie dienstlichen Bereicherungen Einzelner wie auch unterschiedlicher Ämter und Behörden am Vermögen der Juden ist gut dokumentiert und diskutiert, z.B. bei Dinkelaker (3).

Das Wiedergutmachungsverfahren

Ein Antrag auf Wiedergutmachung (1) wurde am 19. März 1959 vom Bruder von Ilse Blumenreich geborene Mautner gestellt, Dr. Leo Viktor Mautner, der rechtzeitig vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich nach Columbien ausgewandert war – er war, als er den Antrag stellte, 85 Jahre alt und machte in seinem Antrag wegen seines hohen Alters auf eine gewissen Dringlichkeit aufmerksam. Das hinderte den Justizapparat in Deutschland jedoch nicht, zunächst die bürokratischen Mühlen mahlen zu lassen: Er musste nicht nur nachweisen, dass er der rechtmäßige Erbe seiner Schwester ist (was wegen der fehlenden Informationen über den Verbleib von Gerda schwierig war), er musste auch den Inhalt der Wohnung nachweisen, „da Hausratsgegenstände in der letzten Wohnung Berlin NW 87, Solinger Str. 6 nicht vorgefunden worden (sind)„. Er musste, als die Versteigerungsliste auftauchte, widerlegen, dass die Wohnungseinrichtung alt, defekt, zerbrochen etc. war – eine eidesstattliche Versicherung war dazu unzureichend, es musste vom Gericht ein Gutachten eingeholt werden, dass dies bestätigte und dass den wahren Wert des Mobiliars zum Zeitpunkt der Konfiszierung schätzte – es kam auf einen Wiederbeschaffungswert von 16.727 DM. Erst als das Gericht durchblicken ließ, dass es der Argumentation des Antrag folgen würde, bewegte sich das Finanzamt und bot am 13. Februar 1963 als Kompromiss die Zahlung von 10.000 DM – das RM:DM-Verhältnis lag in all diesen Verfahren bei etwa 10:1. Und erst nochmaliges Insistieren der Antragsteller und des Gerichtes führten schließlich am 1. März 1965 zum Vergleich: Zahlung von 13.364 DM – aber da war der Antragsteller bereits verstorben, und sein Sohn führte das Verfahren zu Ende. 

Literatur

1. Wiedergutmachungs-Akten (WGA) im Landesarchiv Berlin:  B Rep. 025-02 Nr. 22127/59.

2. Victoria Louise Steinwachs: Arnold Blumenreich. Ein Beitrag zur Erforschung jüdischen Kunsthandels in Berlin im Dritten Reich. Masterarbeit Kunstgeschichte, FU Berlin, ohne Jahr (2016).

3. Philipp Dinkelaker: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Metropol Verlag Berlin 2017.

4. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich Arnold, 36A (II) 3700.

5. Webseite „Zwangsräume“ des Aktien Museums: https://zwangsraeume.berlin/de

6. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania – Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Berlin, Transit Buchverlag 1986.

7. Günther Haase: Die Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring. Kunstsammlung Göring. Eine Dokumentation. Quintessenz-Verlag Berlin 2000

8. Transportliste des 68. Alterstransport Theresienstadt. Arolsen Datenbank Doc ID: 127207457: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207457

9. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich, Gerda, 26A (II) 3695

10. Transportliste des 23. Osttransport in das Konzentrationslager Auschwitz. Arolsen Datenbank Doc ID 127207555: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207555.

Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 1)

Auch für diese Geschichte gibt es eine Vorlage von Beth Griffiths (mittendran am 18.  Dezember 2022, diese Webseite vom 17. Februar 2023), und auch diese Geschichte – in zwei Teilen – erzählt zunächst die familiäre Herkunft des Arnold Blumenreich, bevor im Teil 2 sein Schicksal und das seines Versandhandels nach der Machtergreifung der Nazis thematisiert wird. Der Bezug zum Lützow-Viertel ist dabei zunächst eher zufällig, wenn die Familie Blumenreich immer wieder mal für kurze Zeit hier wohnte: in der Potsdamer Straße 66 von 1891-1893, in der Dennewitzstraße 19 in den Jahren 1903 und 1904. Erst seine Söhne Arnold, Leopold und Walter hatte ihre Wohnsitze dauerhaft im Lützow-Viertel.

Der Vater, Paul Philipp Blumenreich

Paul Philipp Perez Blumenreich war der Sohn des Optikers (Optirist, Optikus) Lesser Blumenreich in Berlin, über dessen Herkunft das Judenbürgerbuch der Stadt Berlin (1) keine Auskunft gibt: er muss also um oder nach 1848 nach Berlin gekommen sein, als Juden keinen Bürgerbrief mehr beantragen mussten – auch wenn das volle Bürgerrecht damit noch lange nicht erreicht war. Das Adressbuch von Berlin kennt Lesser Blumenreich im Jahr 1849 zum ersten Mal (Oranienburger Straße 12). Er blieb – mit Unterbrechung einzelner Jahre, in denen er umzog – bis 1876 als Optiker im Adressbuch, war aber laut einem Heiratsdokument seines Sohnes auch 1891 noch am Leben – sein Sterbedatum ist nicht bekannt. Er war verheiratet mit Doris Thiras, die 1873 verstarb, und am 17. November 1849 kam ihr (einziges?) Kind zur Welt. Und das hatte anderes im Sinn, als in die handwerklichen Fußstapfen des Vaters zu treten. 

Bekannt geworden ist Paul Blumenreich als Schriftsteller. Schreiben konnte er offenbar, für die Tagespresse für die Vossische Zeitung – nach eigenen Angaben nur kurzfristig -, für Das kleine Journal (2), für die Gartenlaube; er gab die Zeitschrift Montag heraus und führt ein Literarisches Bureau. Erstmals im Adressbuch erschien er als Redakteur Paul Blumenreich 1874 (Alte Jacobstraße 136), wenn er nicht identisch war mit dem Buchhändler und Antiquar Paul Blumenreich (Dresdnerstr. 66) in den Jahren 1872 und 1873 – das wäre bei dieser Familienherkunft ein sehr früher Beginn einer intellektuellen Karriere, vor Erreichen der Volljährigkeit mit 24 Jahren. 

Paul Philipp Perez Blumenreichs berufliches und familiäres Leben reichte für mehr als eine Person, und genau so hat er es auch organisiert: Das fängt schon damit an, daß er sich im Schriftsteller- und Theaterleben Paul Blumenreich nannte, private Urkunden und Dokumente aber meist mit PhilippBlumenreich unterschrieb. In der Geburtsurkunde seines Sohnes Walter von 1880 geriet diese Konzept offenbar kurzfristig in Unordnung, als er bei seiner Unterschrift seinen Vorname Paul durchstrich und durch Philipp ersetzte. Er heiratete 1891 unter dem Namen Philipp Blumenreich. Und als der Schriftsteller Paul Blumenreich aus den USA zurückkam (s. unten), lebte er – zumindest für kurze Zeit – unbeschadet des Haftbefehls in Berlin unter dem Namen Philipp Blumenreich in Wien. Auch seine Sterbeurkunde im Standesamtsregister weist ihn als Philipp Blumenreich aus (Bild 1).

Bild 1: Unterschriften-Korrektur (Paul gestrichen, Philipp ergänzt) auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich 1880.

Paul Blumenreich war Schriftsteller, auch wenn er 1869 als Schauspieler am Leipziger Stadttheater angefangen hatte. Er schrieb Theaterstücke am laufenden Band, die in Berlin, Wien und anderswo aufgeführt wurden, zumeist Komödien und Glossen, nicht selten in – manchmal nicht-autorisierter – Übernahme oder Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen (3). Und außerdem publizierte er unter verschiedenen Pseudonymen: Hellmuth Wilke, Jörg Ohlsen und Georg Berwick.

Blumenreich war auch Mitbegründer des 1895 im Berliner Stadtteil Charlottenburg gegründeten Theater des Westens (Bild 2)ebenso wie „Erfinder“ und Direktor des Theaters Alt-Berlin auf der Berliner Gewerbeschau von 1896, das unter dem Protektorat des Vereins für die Geschichte Berlins von 1869 stand und mit einem finanziellen Desaster endete. Details dazu waren in der Tagespresse in Berlin, Wien und anderswo Thema kontinuierlicher Diskussion, an die er sich laufend beteiligte. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Betrugs kommentierte er mit einer 68-seitigen „Festschrift“ von 1897 (4), mit umfangreichem, interessantem, wenngleich nicht in allen Fällen gesichertem Detailwissen, das in der Stadt einen Skandal auslöste. 

Bild 2: Postkarte (Ausschnitt, von 1900) des Theaters des Westens in der Kantstrasse.

Die von ihm erwartete, nicht unbedingt befürchteten Beleidigungsklagen blieben aus, der Vorwurf des Betrugs aber blieb. Im Laufe der Jahre sammelte er Gerichtsurteile: Im Oktober 1883 verlor er eine Beleidigungsklage als Chef des Kleinen Journals (60 Mark Strafe), im Januar 1884 wurde eine Klage wegen unerlaubten Nachdrucks eingestellt, im Juni 1885 war er bei einer Klage wegen falscher Anschuldigung in einem Artikel unauffindbar. Nach dem Scheitern des Theaters Alt-Berlin wurde er im Oktober 1896 steckbrieflich gesucht wegen Betruges, war für einige Zeit verschwunden, stellt sich dann, um im darauffolgenden Jahr (1897) erneut mit einem Steckbrief gesucht zu werden, da er nach dem Urteil und einer abgelehnter Revision verschwand; dazu unten mehr. 

Philipp Blumenreich heiratete am 15. März 1873 Adele Fränkel aus Breslau (1850 – 16. Mai 1885 Berlin). Das Ehepaar hatte neun Kinder, von denen allerdings fünf noch im Kindesalter starben: Benjamin (1873-1877), Oskar (1874-1875), Arnold (1875-1943), Elsa (1877-1956), Hans (1878-1878), Walter (1880-1940), Dorothea (1881-1882), Erich (1883-1885), und Leonhard (1884-1932). Im Jahr 1877 zog die Familie nach Wien, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung war, Feuilletons schrieb, aber vor allem Theaterstücke verfasste (siehe oben). Gelegentlich wurde er hier mit einem Doktor-Titel geziert, aber das mag dem österreichischen Hang zu klangvollen Titeln geschuldet sein. Drei Jahre später zog die Familie wieder nach Berlin, und Paul Blumenreich arbeitete als Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Kleines Journal“. In den folgenden Jahren (1881 bis 1888) wechselte die Familie nahezu jährlich die Wohnadresse, bevor sie nach sieben Umzügen in acht Jahren für drei Jahre in der Potsdamer Straße 66 verblieben – vermutlich war dies der wachsenden Kinderzahl geschuldet. Ein halbes Jahr nach der Geburt des Jüngsten, Leonhard, starb Adele Blumenreich geborene Fränkel im Alter von nur 35 Jahren, vermutlich an Tuberkulose. 

Der Witwer mit vier minderjährigen Kindern (drei Söhnen und eine Tochter) im Alter von 6 Monaten, 5 Jahren, 8 Jahren und 15 Jahren heiratete ein zweites Mal am 21. November 1885: die Lehrerin Gutchen Gertrud Lewissohn (1856-1903). Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit: ein Mädchen noch am Tag der Geburt (19. Juni 1887), ein Junge (Ludwig) nach 5 Wochen (15. Juli 1888). Zum Zeitpunkt des Todes des zweiten Kindes war der Aufenthalt des Vaters nicht zu ermitteln, wie die Geburtsurkunde bezeugt. Diese Ehe wurde am 11. Oktober 1890 geschieden. Gertrud Blumenreich geborene Lewissohn starb am 20. März 1903 in der „staatlichen Irrenanstalt Dalldorf“ in Berlin – ob ihre Krankheit mit dem unglücklichen Verlauf ihrer Ehe zusammenhing oder Grund für das Scheitern der Ehe war, entzieht sich unserer Kenntnis.

Der Vater, mit immer noch vier minderjährigen Kindern zwischen 5 und 20 Jahren heiratete erneut am 30. Juni 1891: Franziska Essenther, geboren am 2. April 1845, fing in Wien mit der Schriftstellerei an, erarbeitete sich einen tadellosen Ruf als frühe und engagierte Frauenrechtlerin, und erhielt für ihre schriftstellerische Tätigkeit 1886 einen Preis. Sie muss in Wien Paul Philipp Blumenreich kennengelernt haben, ging sie doch 1888 nach Berlin und bekam noch im gleichen Jahr ein Kind, Illa, geboren am 14. August 1888, für das Blumenreich die Vaterschaft bestätigte (Bild 3). Zwei weitere Kinder (Hertha, geboren am 5. September, Julius, geboren am 21. Januar 1891) wurden in Berlin geboren, bevor sie 1891 heirateten. Zwischen 1892 und 1894 lebte die Familie wohl in Stuttgart.

Bild 3: Geburtsurkunde von 1888 der Illa/Ella, dem ersten Kind aus der dritten Ehe. Zu diesem Zeitpunkt waren Philipp Blumenreich und Franziska Essenther noch nicht verheiratet, sie trug noch den Nachnamen ihres ersten Mannes (Kapff), von dem sie wenige Monate zuvor geschieden worden war; das Kind bekam daher den Nachnamen Kapff. In der Beischrift von 1891 rechts bestätigt Philipp Blumenreich, dass er die Franziska Kapff geheiratet habe und dass das Kind seinen Namen tragen könne, er also die Vaterschaft anerkenne.

In den folgenden 5 Jahren hatte Paul Blumenreich das Theater Alt-Berlin im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung (Bild 4) zunächst aufgebaut und dann in den Konkurs geschickt, hatte deswegen die geplante Direktion des Westend-Theaters an der Kantstraße verloren und war 1897 wegen Veruntreuung und Betrug angeklagt und verurteilt worden. Er floh, nachdem die Revision verworfen worden war, im gleichen Jahr in die USA; unklar ist, ob ihn dabei einige seiner Kinder begleiteten, wie manche Zeitungen zu berichten wussten. In der US-Volkszählung vom Januar 1900 jedenfalls waren zu diesem Zeitpunkt vier Kinder bei ihm: die 23-jährige Elsa und der 16-jährige Leo aus der ersten Ehe, und Illa/Ella mit 12 Jahren und Siegfried mit 9 Jahren aus der dritten Ehe (Bild 5).

Bild 4: Liebig-Sammelkarte zur Gewerbeausstellung 1896. In verschiedenen Serien dieser Karten werden Szenen aus der Berliner Geschichte dargestellt, die im Theater Alt-Berlin auf der Ausstellung aufgeführt wurden; hier die Überbringung der Nachricht von der Besetzung Berlins durch russische Truppen 1760 an Friedrich den Großen.

Paul Blumenreich bekam eine Anstellung beim Deutschen Theater in New York, schickte Geld nach Berlin, und unbestätigten Meldungen in der Presse zufolge schickte seine Frau ihm 1899 (zwei) Kinder nach New York City, reiste aber selbst nicht aus Angst vor der Seereise; sie hatte in dieser Zeit einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Als er seine Anstellung in New York verlor, schrieb er nach Berlin, dass er Geld brauche. Sie erhöhte ihren schriftstellerischen Output und schickte Geld in die USA, als er aber schrieb, er habe „Rückenmarkschwindsucht“, war dieser Schicksalsschlag offenbar zu viel für sie: sie nahm sich im November 1899 das Leben (5). 

Bild 5: US-Census vom Januar 1900 für New York: Gelistet ist die Familie Blumenreich mit Vater und 4 Kindern.

Blumenreich kam im Juli 1900 aus den USA nach Wien, wurde als Redakteur eines illustrierten Wiener Wochenblattes angestellt, und heiratete im August 1902 in Wien ein viertes Mal: Ernestine (Erna) Gruber (1870-1941). Gemeldet war er unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich, Schriftsteller, wohnhaft Lerchenfelderstr. 44. Als er Unterlagen in Berlin beantragte, wurde die Berliner Polizei auf seinen Aufenthalt in Österreich aufmerksam. Auf Antrag wurde er von der österreichischen Polizei verhaftet und ausgeliefert. Er kam für neun Monate ins Gefängnis und im Januar 1902 wieder auf freien Fuß. Auch im Gefängnis Plötzensee schrieb er weiterhin Romane und Theaterstücke.

Aus dieser vierten Ehe stammen zwei Kinder: Hans, geboren 1902 und Rudolph, geboren 1903. Über die Witwe des Schriftstellers wissen wir wenig: Sie war bis 1910 noch in Berlin gemeldet und wohnte in der Altonaer Str. 13 im Gartenhaus. Ausweislich einer weiteren Quelle (6) ging es ihr nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht besonders gut, so dass sie einen Antrag auf Unterstützung bei der Schiller-Stiftung in Weimar stellte, die gemäß ihrer Satzung nicht nur Literaturpreise an Schriftsteller vergab, sondern auch finanzielle Unterstützung an notleidende Schriftsteller und ihre Angehörigen – ob ihr diese gewährt wurde ist bislang nicht bekannt. 1910 war sie offenbar nach Wien zurückgekehrt und lebte von 1916 bis 1941 an der gleichen Adresse (Rechte Wienzeile 117), dann verschwand sie aus dem Adressbuch. 

Das ließ Böses ahnen: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 setzte sich dort die Judenverfolgung und -vertreibung durch die Nationalsozialisten in noch brutalerer Weise fort, und es stand zu befürchten, dass Ernestine (Erna) Gruber nach Theresienstadt oder in ein anderes KZ deportiert worden war. Eine Check der Arolsen-Datenbank der Holocaust-Opfer (7) ergab keinen Hinweis darauf, und in der Zeitungsdatenbank ANNO des österreichischen Nationalarchivs fand sich schließlich eine Notiz vom 16. April 1942 im Völkischen Beobachter, der Zeitung der NSDAP, wonach sie am 6. September 1941 verstorben sei. Diese amtliche Notiz fragte nach dem Verbleib ihres Sohnes Rudolf Blumenreich, der als Erbe gesucht wurde. Beide, Hans und Rudolf waren rechtzeitig nach Amerika ausgewandert.

Paul Philipp Perez Blumenreich starb 3. Juli 1908 in Berlin – unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich. Er hinterließ seine Frau und sechs Kinder aus zwei seiner vier Ehen, von denen die vier aus der ersten Ehe versuchten, in Berlin Fuß zu fassen. Ob ihnen dies mit so einer chaotischen Kindheitsgeschichte geglückt ist, werden wir im nächsten Teil beschreiben – die Chancen dafür standen allerdings schlecht.

Literatur

1. Jacob Jacobson:  Die Judenbürger-Bücher der Stadt Berlin. Walter de Gruyter & Co. Verlag, Berlin 1962.

1. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, 6. Auflage. Reclam Verlag, Leipzig 1913, Seite 266.

2. Das kleine Journal“ – Berliner Wochenschrift für Theater, Film und Musik“ (1878 bis 1935).

4. Paul Blumenreich: Das Theater des Westens. Festschrift und Epilog. Selbstverlag (Berlin) 1896 (digital in der Zentralen Landesbibliothek, ZLB Berlin).

5. Neues Wiener Tagblatt vom 30. Oktober 1899, Seite 3. Alle biografischen Informationen, mit all ihren Tatsachen, Spekulationen und Widersprüchlichkeiten, sind den Berliner Tageszeitungen Berliner Börsenblattund Berliner Tagblatt und Handelszeitung im Deutschen Zeitschriftenarchiv und den Österreichischen, insbesondere Wiener Tageszeitungen im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO entnommen.

6. http://www.thilo-reffert.de/minima/skizzen/paul-blumenreich_biographische-miniatur

7. https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/suche-online-archiv/

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Das Altersheim (Teil 3)

Eine E-Mail aus Schweden dieser Tage hat die Geschichte des jüdischen Altersheims in der Lützowstraße 48/49 (auf dieser Webseite am 8. Mai 2022 und 18. August 2023) auf ein neues Niveau gehoben, man kann den schwedischen Rechercheuren Johan Ulvenlöv, Matti Palm und Anders Larsson, die ihre Ergebnisse bereits 2017 in einem schwedischen Buch und 2019 in dessen englischer Übersetzung (Bild 1) (1) publiziert haben, nur gratulieren zu ihren Befunden – das ist mehr, als was ich mir persönlich zugetraut hätte.

Bild 1: Titelseite des Buches über Gustaf Ekström (1). „No remorse“ heisst: keine Gewissensbisse.

Im Teil 2 der Geschichte des Jüdischen Altersheims hatte ich nämlich geschrieben, dass von den vielen, geschätzt mehr als 200 Bewohnern des Altersheim nur wenige Spuren übriggeblieben sind, und hatte stellvertretend zwei Namen genannt, den einer Altenpflegerin, Johanna Calvary, geboren am 3. Januar 1896 in München, und den einer Heimbewohnerin, Rosa Mayer, geboren am 25. September 1868 aus Wittlich, die von den Nationalsozialisten deportiert und umgebracht worden waren. Und dass das ehemalige Altersheim nach seiner Räumung 1942 von der SS-Hauptabteilung des RSHA besetzt und genutzt wurde. Nur zu einem Heimbewohnerpaar, Hugo Mannheim und seine Ehefrau Emma, hatte ich zwischenzeitlich Akten um Centrum Judaicum Berlin gefunden und erhalten (2), die ich demnächst auswerten und beschreiben wollte.

Die schwedischen Kollegen, die ursprünglich auf einer ganz anderen Fährte unterwegs waren, haben mich nun eines Besseren belehrt: Sie konnten alle 256 Einwohner des Altersheims im Jahr 1939 namentlich identifizieren und ihr Schicksal nachverfolgen, das in den meisten Fällen – wie bei Calvary und Mayer – in Deportation und Ermordung endete. Aus dieser Recherche ist ein höchst lesenswertes Buch entstanden, das ich vor wenigen Tagen von Johan Ulvenlöv, einem der Autoren erhielt. Ich stelle es Interessierten gern zur Verfügung.

Ulvenlöv und Kollegen waren – und sind – auf der Suche nach Spuren eines schwedischen Alt-Nazis, Gustaf Ekström (1907-1995), der sich 1941 als Freiwilliger der deutschen Waffen-SS anschloss und in Berlin stationiert war, und der nach dem Krieg, wieder in Schweden, braunes Gedankengut in die schwedische Neo-Nazi-Szene einbrachte und 1988 an der Gründung der nationalsozialistischen Partei „Schweden Demokraten“ beteiligt war. Er war sein Leben lang ein Holocaust-Leugner, auch wenn er nachweislich an dessen Exekution beteiligt war.

Bei der Recherche nach seinem Arbeitsplatz in Berlin stießen die Kollegen auf die Lützowstraße (Bild 2) (3), und als ihnen klar wurde, dass dort zuvor ein jüdisches Altersheim existierte, wollten sie dessen frühere Bewohner und deren Schicksal ausfindig machen. Die Quelle, die ihnen dabei half, war mir vor zwei Jahren noch nicht bekannt: Es gab im Mai 1939 eine allgemeine Volkszählung in Deutschland, bei der alle Einwohner – nicht nur Berlins – neben allgemeinen Angaben auch die arische bzw. nicht-arische Abstammung der vier Großeltern angeben mussten. Diese Zusatzinformationen – nebst Adresse zum Zeitpunkt der Erhebung – haben als „Ergänzungskarten der Volkszählung vom 17. Mai 1939“ den Krieg überlebt und stehen heute in einer Datenbank zur Verfügung (4). Darüber konnten Ulvenlöv und Kollegen insgesamt 256 Individuen (184 Frauen, 72 Männer) identifizieren, die im Mai 1939 in der Lützowstraße 48/49 wohnten, und mit Hilfe dieser Namen und Geburtsangaben war es ihnen möglich, für 237 von ihnen in den diversen Quellen zum Holocaust (5) deren Verbleib zu rekonstruieren. Es ist hier nicht der Platz, das traurige Schicksal dieser 237 Personen nachzuzeichnen, selbst die Namensliste allein wäre hier zu lang, aber in der Summe ist die reine Statistik erschreckend genug: von 237 identifizierten Personen konnten nur acht noch rechtzeitig emigrieren, und nur drei hatten die Deportation überlebt – sie waren zum Zeitpunkt der Deportation jung. Vor der Deportation starben 57 in Berlin, in fünf Fällen ist ein Suizid gesichert. Insgesamt 166 wurden ermordet, die meisten in Theresienstadt; viele wurden von dort weiter transportiert nach Auschwitz und Treblinka, alle andere wurden in Riga, Minsk, Warschau, Litzmanstadt (Lodz) und anderen Ghettos und Konzentrationslagern ermordet.

Bild 2: Anweisung des SS-Hauptamtes zum Umzug in die Lützowstraße 48/49. Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte NS 33/376, Blatt 12.

Eine weitere deutsche Quelle (6) (Bild 3) haben die Autoren ausfindig gemacht, die Hinweise auf das Altersheim enthalten: Ester Golan (geborene Dobkowsky) wurde 1939 mit 16 Jahren mit einem Kindertransport nach England geschickt und korrespondierte bis 1942 mit ihren Eltern daheim. Ihre Mutter schrieb ihr, dass sie im August 1939 Anstellung im Altersheim in der Lützowstraße 48/49 gefunden hatte und in als Köchin arbeitete; sie bestätigte indirekt die große Belegung des Altersheims („wir verteilen knapp dreihundert Portionen„). In der Küche arbeitete sie zusammen mit Renate Golinski, eine Klassenkameradin von Ester. Renate Golinski wiederum, geboren 1924, ist eine der wenigen Überlebenden der Deportation: zuerst 1943 nach Theresienstadt, dann 1944 nach Auschwitz, wo ihre Eltern ermordet wurden, schließlich nach Flossenbürg und zuletzt nach Mauthausen. Auch Esters Eltern wurden ermordet, wie auch der Leiter des Altersheim, Dr. Martin Salomonski: er wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert und starb 1942 in Auschwitz.

Bild 3: Titelseite des Buches von Ester Golan (6).

Was aber besonders bemerkenswert an dem Buch ist, ist nicht die sorgfältige, gut dokumentierte Recherche, sondern der meines Erachtens gelungene Versuch, die Geschichte eines Nazi-Täters, die ja immer in Gefahr steht, von den falschen Leuten mit Applaus bedacht zu werden, mit der Geschichte seiner Opfer zu verbinden. Und das nicht nur im Buch insgesamt, dass zwischen biografischen Informationen zu dem SS-Mannes Ekström und denen seiner Opfer kapitelweise wechselt, sondern auch innerhalb eines Kapitels bleiben Täter und Opfer aus das Engste miteinander verbunden, gelingt es Ekström nicht, seiner Vergangenheit zu entkommen – man wünscht sich fast, er hätte das Erscheinen dieses Buches noch erlebt.

Literatur

1. Johann Ulvenlöv, Matti Palm, Anders Larsson: No Remorse. Gustaf Ekströn, the SS volunteer who founded the Sweden Democrats. Faktel förlag, Eskilstuna, Schweden 2019.

2. Archiv des Centrum Judaicum Berlin, Akte:  1 E, Nr. 536, #14823.

3. Akte Bundesarchiv Berlin Lichterfelde: Akte NS 33/376, Blatt 12.

4. Bundesarchiv Berlin Lichterfelde, Akte: R 1509 bis R 1518. Die Film-Akten sind digital aufbereitet auf der Webseite „Mapping the Lives“ (https://tracingthepast.org/mapping-the-lives/).

5. Die Datenbank von Yad Vashem, das Gedenkbuch der Holocaust-Opfer im Bundesarchiv Berlin, das Erinnerungsbuch von Theresienstadt und viele andere Quellen.

6. Ester Golan: Auf Wiedersehn in unserem Land. ECON Verlag, Düsseldorf 1995.

Jüdische Gewerbetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 2)

Der folgende Text ist eine überarbeitete – einerseits gekürzte, andererseits ergänzte – Fassung eines Textes, den Beth Griffiths erstellt und bei mittendran am 16. Januar 2022 veröffentlich hatte. Der erste Teil der gesamten Geschichte findet sich in mittendran vom 20. April 2024 und auf dieser Webseite am 20. April 2024.

Die Arisierung der Firma Theodor Heymann Herrenartikel

Den ersten Hinweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten seitens des Hut- und Herrenartikelgeschäfts finden sich in den Handelsregisterakten in einem Brief der Industrie- und Handelskammer am 7. März 1938 an das Amtsgericht: Das Unternehmen sei zwar noch vollkaufmännisch tätig, aber es betreibe lediglich Einzelhandel mit Herrenartikeln, die Hutfabrikation sei eingestellt worden (9). Es ist anzunehmen, dass die antisemitischen Maßnahmen, insbesondere der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Beschädigung der Schaufenster eine große Rolle in der Verkleinerung des Betriebes gespielt hatten. Nur wenige Monate später erreichte die antisemitische Gewalt mit den deutschlandweiten Novemberpogromen einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt, der das Ende des Hutgeschäfts bedeutete, das fast ein halbes Jahrhundert lang existiert hat.

Die Schaufenster müssen unverzüglich ersetzt werden spätestens bis 28. November“ – so schrieb nach dem Novemberpogrom der Zwangsverwalter des Hauses Potsdamer Straße 61, Carl A. Schmidt, am 22. November 1938 (11); zu diesem Zeitpunkt waren die meisten jüdischen Geschäfte aufgrund gesetzlicher Vorgaben den Inhabern entzogen worden, und Immobilien wurden unter Zwangsverwaltung gestellt.  Schmidt schrieb daher nicht an Heymann, sondern an Heinrich (Heinz) Barchen, der in der Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Gewalt gegen die jüdischen Inhaber eine Chance für sich sah. Barchen hatte sein Geschäft, „Brauner Laden Yorck“, zehn Häuser weiter, Potsdamer Straße 71 (12) (Bild 6); es war unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 eröffnet worden, dort verkaufte er Uniformen und „NS-Bedarf“. Wenige Tage nach dem Progrom im November 1938 kam Barchen in das zertrümmerte Geschäft, um zu sehen, ob er es übernehmen und dort sein Uniformgeschäft für nationalsozialistische Organisationen weiter betreiben konnte (11). Er entschied, die Geschäftsräume zu nehmen und am 3. Dezember wurde der Laden eröffnet, mit Waren, die für genau die Leute bestimmt waren, die zuvor die Fensterscheiben eingeschlagen hatten. Theodor Heymann sah fast nichts von der finanziellen Transaktion, die ihn seines Geschäfts beraubte. Im Schreiben des Hausverwalters Schmidt an Barchen wurde mitgeteilt: „Aus dem Kaufpreis soll die rückständige Miete bis einschließlich November ausgeglichen sowie der Ersatz der Schaufensterscheiben beglichen werden.“ Jedoch schrieb Heymanns Rechtsanwalt in der Wiedergutmachungsklage im Jahr 1950, dass das Schaufenster nicht von Barchen sondern von der Jüdischen Gemeinde Berlins bezahlt wurde. Barchen bezahlte 3.500 RM für einen Teil des Warenlagers und 1500 RM für die Einrichtung, aber Heymann „ging hinaus ohne einen Pfennig“, so Heymanns Rechtsanwalt (11). Theodor Heymann gab nach dem Krieg an, dass die nicht bezahlte Summe 18.000 RM betragen habe. Am 24. März 1939 wurde das Geschäft Theodor Heymanns im Handelsregister gelöscht (s. Bild 5 in Teil 1). 

Bild 6: Anzeige des Geschäftes für NS-Bedarf Brauner Laden ´Yorck´ (aus (12), Seite 286).

Was geschah mit der Familie Heymann?

Laut Adressbuch gehörten die Häuser Potsdamer Straße Nr. 61 und Nr. 62 dem Kaufmann Franke bis 1935, ab 1936 war Nr. 62 unter Zwangsverwaltung gestellt, d.h. dem jüdischen Eigentümer entzogen worden (im Adressbuch 1936 war die Nr. 61 noch dem Franke gehörig), und die Heymanns wohnten noch im Haus Nr. 61 (nach der Umnummerierung: 146) bis Ende 1938, dann hatte das Haus einen neuen Eigentümer.

Am 7. Juni 1930 hatte Betty Heymann geborene Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, erneut geheiratet, den Gastwirt Julius Rosenthal, geboren am 15. Juni 1893 in Berlin. Am 29. Februar 1932 kam ihre Tochter Irma zur Welt. Das „Restaurant Rosenthal“ befand sich laut den Adressbüchern 1929 bis 1933 in der Kommandantenstraße 77 (Bild 7), danach in der Potsdamer Str. 81, und ab 1935 hatte Rosenthal einen „Mittagstisch“ am Wittenbergplatz 5. Zum Zeitpunkt der Volkszählung Mai 1939 befand sich das Restaurant in der Kleiststraße 15. 

Bild 7: Anzeige des Restaurant Rosenthal aus den „Posener Heimatblätter“ Nr. 4 vom Januar 1929, Seite 34.

Theodor Heymann wurde gezwungen, die Privatwohnung ab Dezember 1938 aufzugeben. In einem Schreiben vom 23. November 1938 heißt es: „Herr Heymann ist dagegen verpflichtet, spätestens am 3. Dezember 1938 seine Privatwohnung in den Räumen aufzugeben.“ (11). Danach verläuft sich zunächst seine Spur, ebenso wie die seiner Stiefmutter und deren zweiter Ehemann. 

Exil in Shanghai, dann nach Amerika

Wenige Wochen später emigrierten sowohl Theodor Heymann wie auch Betty und Julius Rosenthal und ihre 7 Jahre alte Tochter Irma nach Shanghai. Die Unterlagen der Volkszählung im Mai 1939 benennen den 10. und 29. Juli 1939 als Ausreisedatum für die Rosenthals bzw. für Heymann. Die Emigration nach Shanghai war für viele Juden die letzte Möglichkeit, aus dem Deutschen Reich zu fliehen, da die mit dem Deutschen Reich verbündeten Japaner, die die Häfen Chinas kontrollierten, zu diesem Zeitpunkt keinerlei Visapflicht eingeführt hatten – Shanghai war zwar fern und fremd und hatte den schlechtesten Ruf unter den möglichen Fluchtorten, aber es genügte zur Einreise ein Pass und ein Bahn- bzw. Schiffsticket. Bis zum Kriegsbeginn September 1939 gab es drei prinzipielle Reisewege: Über Bremen oder Hamburg mit den deutschen Schiffen Potsdam bzw. Usaramo (oder über einige nordeuropäische Häfen), über Genua oder Triest mit den Schiffen Conte RossoConte Verde bzw. Conte Biancomano, oder auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn, entweder nach Wladiwostok oder nach Mandschukuo, und weiter mit dem Schiff nach Japan bzw. nach Shanghai; diesen Landweg haben immerhin mehr als 2.000 Flüchtlinge genommen. Die Schiffspassagen waren teuer, 3.500 RM pro erwachsener Person, nicht zuletzt, weil Hin- und Rückfahrt gebucht werden mussten; die Landpassage war deutlich billiger – 490 RM -, aber nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf Russland („Unternehmen Barbarossa“) nicht mehr möglich.

Auf welchem Wege und mit welchem Schiff die Heymann/Rosenthal-Familie nach Shanghai reiste, ist nicht mehr zu ermitteln, aber wie fanden sowohl den Kaufmann Theodor Heymann wie auch den Restaurateur (Gastwirt) Julius Rosenthal im Emigranten-Adressbuch Shanghais von 1939 (737/19 Broadway bzw. 818 Tongshan 57) (15), wenngleich genauere Informationen fehlen, womit sie ihren Lebensunterhalt unter diesen schwierigen Bedingungen verdienten. Aus einer anderen Quelle wenige Jahre später (1944), nämlich der Registrierungsliste aller Ausländer in Shanghai durch die japanischen Polizei (16) erfuhren wir, dass Julius Rosenthal offenbar Wohneigentum erworben hatte (Adresse: 626/29 Tongshan Lu; er wird in dem Dokument als „owner“ bezeichnet) und seine Frau als Köchin arbeitete – offensichtlich hatten sie wieder ein Restaurant aufgemacht, das wir bei einer Bildersuche zufällig entdeckten – das Bild kann wegen ungeklärter Rechtsverhältnisse zur Zeit nicht gezeigt werden. In dem japanischen Register wird auch erstmals die Tochter Irma erwähnt, die zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt war. Theodor Heymann wird in diesem Dokument nicht genannt, aber eine andere Spur (17) weist ihn als Fotograf aus. 

Bild 8: Theodor Heymann auf der Schiffspassage-Liste der USS General W. H. Gordon (aus: Ancestry) und Foto des Schiffs (aus: Wikipedia, gemeinfrei).

Über die schwierige soziale und wirtschaftliche Situation der jüdischen Flüchtlinge in China ist in den vergangenen 20 Jahren einiges publiziert worden (16,18). Nach dem Krieg wollten daher viele Flüchtlinge, die in Shanghai überlebt hatten, entweder zu einem geringen Teil zurück nach Deutschland, zu einem größeren nach Israel, Südamerika und Australien, und zu mehr als 50% in die USA auswandern. Die Familie Rosenthal fanden wir auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General M.C.Meigs von Shanghai nach San Francisco, Ankunft am 17. Juni 1947. Theodor Heymann, jetzt von Beruf Fotograf, stand auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General W. H. Gordon, Ankunft in San Francisco am 29. Juni 1947 (Bild 8). Von dort waren sie offenbar weitergereist in den Osten der Vereinigten Staaten, weil sowohl Theodor Heymann wie auch Julius und Betty Rosenthal aus Cincinnati bzw. New York in den Jahren in den Jahren nach 1950 Wiedergutmachungsanträge in Berlin gestellt hatten.

Theodor Heymann starb am 20. Januar 1971 in Paramus, Bergen, New Jersey, in der Metropolregion von New York City; er blieb unverheiratet und hatte keine Nachkommen. Betty Rosenthal geb. Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, Theodors Vater, starb am 16. März 1996, ebenfalls in Paramus, Bergen, New Jersey. Julius Rosenthal, ihr Mann war bereits am 2. Juni 1950 im Alter von nur 56 Jahren verstorben. Ihre Tochter Irma hatte 1954 in New York City Frank Reinhold Lewy geheiratet, der am 5. Dezember 1930 in Berlin-Dahlem geboren wurde und am 30. September 2014 in Yarmouthport, MA, USA verstarb. Sie hatten zwei Kinder, Sharon und Michael, die heute in den USA leben und beide verheiratet sind. Irma starb am 10. Oktober 2023.

Fragliche Wiedergutmachung nach dem Krieg

Nach der Übernahme des Geschäftes durch Heinrich Barchen stieg der Umsatz des Uniformgeschäfts in der Potsdamer Str. von 48.000 auf 62.000 RM. Trotzdem behauptete Barchens Rechtsanwalt nach dem Krieg, dass der Kaufmann aus der politischen Entwicklung im Nationalsozialismus keinerlei persönliche Vorteile gezogen hatte. Auffällig war Barchens Verteidigunglinie in der Wiedergutmachungssache, nämlich seine Nazi-Verbindungen nicht zu verschleiern, sondern zu betonen (11). Als Antwort auf die Anklage, dass Barchen nichts für die Reputation („good will“) des seit 46 Jahren bestehenden Geschäfts bezahlt hatte, erwiderte Barchens Beauftragter: „Die bisherige Geschäftsaufschrift Hüte und Mützen mit einem grünen Hut auf einem Transparent als Branchenzeichen wurde überstrichen. Stattdessen bekam das Geschäft das Äußere eines Braunen Ladens und die Aufschrift hieß fortan „NS Bedarf“. Lediglich auf dem Teilgebiet von Herrenwäsche und Herrenunterkleidung waren beide Geschäfte miteinander verwandt. Aber es liegt auf der Hand, dass der Charakter beider Geschäfte ein grundsätzlich anderer war. So waren z.B. bunte Oberhemden und bunte Krawatten in einem Braunen Laden nur ausgesprochene Nebenartikel. Insbesondere kann nicht davon die Rede sein, dass der „good will“ des Geschäfts des Antragstellers von dem Antragsgegner übernommen worden wäre“ (11). 

Weiterhin schrieb er, dass ein Kundenkreis, der bis 1938 in einem jüdischen Geschäft gekauft hatte, das Geschäft des Antragsgegners nie besuchen würde. Auf diese Weise versuchte Barchen, seinen Anteil an der antisemitischen Diskriminierung und Gewalt, mit der Heymann konfrontiert war, und seine Verbindung zu der NSDAP zu verschleiern. Dass Barchen ein NSDAP-Parteimitglied war, behauptete Heymanns Rechtsanwalt in einem Brief vom 27. Juni 1950 (11), aber betonte auch die NSDAP selbst, die den „Pg Barchen“ in der 1934er Ausgabe des Gesamtadressenwerks der Partei auflistete (siehe Bild 6). Das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde schließlich bestätigte die Parteimitgliedschaft: Heinz Barchen aus Berlin-Schöneberg (Hauptstraße 108), geboren am 13. September 1903, war bereits am 1. Mai 1931 Mitglied des NSDAP geworden (Mitglieds-Nr. 535859) (19) (Bild 10), also noch zwei Jahr vor der Machtergreifung des Nazis.

Bild 9: NSDAP-Mitgliedschaft von Heinz Barchen (Quelle: (19): BArch R 9361-IX KARTEI 1400187).

Der Streit im Wiedergutmachungsverfahren ging in erster Linie um die Frage, ob dies eine Geschäftsübernahme (Heymann) oder eine Geschäftsverlagerung (Barchen) war. Im September 1952 beschloss die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts, dass Barchen an Heymann 3635 DM zu zahlen hatte, 3485 DM für die Übernahme des Warenlagers und 150 DM für die Ladeneinrichtung – sie entsprach damit weitgehend den Wertangaben Heymanns (3) bei einem DM:RM-Verhältnis von 1:10. Heymann und Barchen hatten zuvor diesem Vergleich zugestimmt. Barchens Geschäft wurde nach dem Krieg als normales Herrenartikelgeschäft weitergeführt und war noch im Berliner Adressbuch von 1954 zu finden, nur das „Heinz und Frieda Barchen“ jetzt keine NS-Klamotten und -Devotionalien verkauften, sondern Herren- und Damenkleidung. 

Literatur (Nr. 1 bis 10 im Teil 1)

11. Landesarchiv Berlin (LAB), Akte: B Rep. 025-01, Nr. 176/49.

12. Gesamtadressenwerk der NSDAP-Geschäftsstellen. Die Deutsche Tat, Verlagsgesellschaft für das Deutsche Schrifttum, 1934. Digital erhältlich unter <https://digital.zlb.de/viewer/toc/34296129/1/>, zuletzt eingesehen am 5.Mai 2024.

13. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Akte: 36A (II) 15178.

14. https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Évian, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.

15. Emigranten-Adressbuch für Shanghai November 1939. Digital zugänglich bei CompGen unter <https://digibib.genealogy.net>, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.

16. Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck, Sonja Mühlberger (Hrg.): Exil Shanghai. Jüdisches Leben in der Emigration 1938–1947. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2000. Die dem Buch beiliegende CD enthält u.a. die „List of Foreigners Residing in Dee Lay Jao District …“ vom 24. August 1924 mit den Namen von Heymann und Rosenthal.

17. Ein Foto im Besitz des Museums of Jewish History in New York zeigt das Personals des Shanghai Refugee Hospitals aus den 1940er Jahren: es weist Theodor Heymann als Fotografen aus.

18. Jüdisches Museum Berlin (Hrg.): Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938-1947. Druck durch Jüdischen Museum im Stadtmuseum, Berlin 1997.

19. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL): Akte BArch R 9361-IX KARTEI 1400187.

Jüdische Gewerbebetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 1)

Aufmerksame Leser werden sich erinnern, dass wir einen Artikel zur „Hermann Heymann Hutfabrik“ in mittendran schon einmal hatten, danach auch im Blog „Jüdisches Leben und Widerstand im Tiergarten“: Im Dezember 2022 und im Januar 2023 hatte Bethan Griffiths im Rahmen einer Serie von drei Artikeln zu „Jüdisches Gewerbe rund um die Potsdamer Straße“ über die Arisierung der Firmen Hermann Heymann HutfabrikA. Blumenreich GmbH und die Ultrazell GmbH und die entsprechenden Wiedergutmachungsverfahren nach dem 2. Weltkrieg berichtet. Diese Leser werden aber auch festgestellt haben, dass in diesen Berichten die Familien selbst und deren Herkunftsgeschichten eher kurz geschildert worden waren – das war der Autorin in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Dies soll in den nächsten Wochen für die jüdischen Familien hinter diesen drei Firmen nachgeholt werden. Heute also für die Hutfabrik Hermann Heymann und deren Inhaber Theodor Heymann (Bild 1).

Bild 1. Anzeige im HRA 1931

Rogasen, Kreis Obornik, Provinz Posen

Die Herkunft der Familie Heymann bleibt trotz intensiven Suchens weitgehend im Dunkel, aus vielerlei Gründen: Heymann (manchmal Heimann geschrieben) ist ein nicht seltener Name, auch unter Juden, und der sehr gebräuchliche Vorname Hermann macht die Suche nicht leichter. Aus der Sterbeurkunde des Herrmann Heymann wissen wir, dass er in Rogasen (nach 1815 der preußischen Provinz Posen; heute: Rogoszno, Polen) geboren wurde (s. unten), und dass auch seine Frau aus diesem kleinen Ort 30 km nördlich der Stadt Posen stammte. Aber das hilft nicht viel weiter, weil komplette Einwohnerlisten fehlen, nicht zuletzt durch schwere Stadtbrände im Jahr 1794 (1), bei denen Dokumente vernichtet worden sind. Selbst ausgewiesene jüdische Genealogen wie Jacob Jacobson (2) und David Luft (3) haben sich mit diesen Schwierigkeiten abgemüht. Wir beginnen also die Familiengeschichte der Heymanns mit der Geburt von Herrmann am 8. Oktober 1858 – zu diesem Zeitpunkt und noch für viele Jahre später wird sein Vorname mit doppeltem „r“ geschrieben, eine von ihm selbst später veranlasste Korrektur auf die gebräuchliche (und korrekte) Schreibweise mit einem „r“ werden wir von hier ab übernehmen.

Wenn ein wenige Jahre später (1863) ebenfalls in Rogasen geborenen Gustav Heymann (verstorben 1905) der Bruder von Hermann Heymann gewesen wäre, wüssten wir auch noch die Namen seiner Eltern: Kaufmann Josef Heymann (verstorben vor 1884) und seine Frau Karoline, geborenen Krause (1834-1917), aber das ist nicht gesichert, sondern Spekulation, hervorgerufen durch die drei doch sehr traditionellen deutschen Vornamen. Aber Hermann Heymann könnte auch der Bruder von Abraham Heymann gewesen sein, der am 22. Dezember 1861 in Rogasen geboren wurde und der um 1905 in Berlin starb – dann wäre die gemeinsamen Eltern David Heymann und seine Frau Rosalie, geborene Silberstein gewesen. Leider haben wir keinerlei Informationen, dies zu entscheiden. In Berlin zu suchen, macht demgegenüber wenig Sinn: 1890 gab es in Berlin allein 40 Kaufleute mit den Nachnamen Heymann – ohne die Variante Heimann -, Vornamen wurden meist abgekürzt, und die Schreibweise des Nachnamens war nicht verbindlich, da auch Hermann Heymann gelegentlich Hermann Heimann geschrieben wurde.

Hermann Heymann muss spätestens zu der Zeit, als er volljährig wurde, also um 1882 Rogasen in Richtung Berlin verlassen haben – vielleicht war seine Familie auch schon vorher aus der preußischen Provinz Posen nach Brandenburg gezogen, einem allgemeinen Trend folgend. 

Die Situation der Juden in Posen

Denn obwohl um 1840 nahezu 40% der Rogasener Gesamtbevölkerung jüdischen Ursprungs war, d.h. es etwa 1500 jüdische (erwachsene) Einwohner gab, hatten nur 55 Personen in den Jahren 1834 und 1835, als Preußen den Juden die rechtliche Gleichstellung versprach, auch ein Naturalisierungspatent erhalten (4), und darunter war kein Mitglied einer Familie Heymann – die anderen blieben bestenfalls geduldete Juden. Das gleiche galt auch für andere Gemeinden im Regierungsbezirk Posen: Nur 7 bis 10% der jüdischen Einwohner wurden naturalisiert (5).

Hinzu kam, dass Juden von der mehrheitlich polnischen, katholischen Bevölkerung nicht nur gemieden wurden, sondern – wie die preußischen Besatzer selbst – zum Teufel gewünscht wurden. Davon zeugen Zeitungsberichte wie der folgende im Landboten von 1848: „In dem Landstädtchen Rogasen in der Provinz Posen ist es am 7. April zu einem Aufstand gekommen. Die Polen durchzogen mit Sensen, Heugabeln und Feuerhaken bewaffnet die Stadt und drohten, die Deutschen und Juden niederzumetzeln, sie legten sogar Feuer an. Den vereinten Kräften der Bürgerschaft gelang es jedoch, die Meuterer zu Paaren zu treiben“ (6) (Bild 2). Und auch wenn die Vertreibung (noch) verhindert werden konnte, so war auch die rechtliche Gleichstellung der Juden ein hohles Versprechen der Preußen, dass in Kriegs- und Kriegszeiten (1848, 1864, 1866, 1870, 1914) gern wiederholt, aber danach auch schnell wieder vergessen wurde: „Die Juden in der Provinz Posen … wissen, daß die ihnen von den Polen vorgeworfene Undankbarkeit eine Legende ist, sie wissen aber auch, daß die Begeisterung ihrer deutschen Behörden für die Gleichberechtigung der Religionen nur in den Zeiten der Not zu Tage trat, und daß sie alle Rechte, die sie in Wirklichkeit errungen haben, ihrer eigenen zähen Arbeit verdanken“  (7). So kam es, dass die große Auswanderung aus dem Großherzogtum Posen bereits mit der versprochenen Gleichstellung um 1840 begann und nach der Reichsgründung 1871 seinen Höhepunkt fand. Lebten 1858 noch 1500 Juden in Rogasen, waren es 1887 noch 1318, 1895 noch 834, 1905 nur noch 666 und 1913 noch 516 Personen, d.h. 9% der Bevölkerung. Diese massenhafte Auswanderung betraf nicht nur Rogasen, sondern nahezu alle Gemeinden in Posen (7), denn davon versprachen sich die Juden bessere Chancen für Beruf und Leben, sei es in Berlin, in Brandenburg oder im europäischen und überseeischen Ausland.

Bild 2. Artikel aus Der Landbote (5)

Familiengründung

Wir wissen daher nicht, wann und wo Hermann Heymann seine Frau Reisal (Rosalie), geborene Rummelsburg getroffen und geheiratet hat, möglicherweise noch in Rogasen – sie war ebenfalls dort geboren worden, um 1861, und war daher volljährig nach 1885. In den Namenslisten der Juden in Posen taucht der Name Rummelsburg überhaupt nicht auf, daher ist es möglich, dass dieser Nachname erst mit dem Umzug nach Brandenburg angenommen wurde – alternativ kann die Familie allerdings auch aus der Stadt oder dem Landkreis Rummelsburg in Pommern (heute: Miastko, Polen) stammen, einer Kleinstadt 250 km östlich von Stettin von etwa 4000 Einwohner (um 1850), von denen 3% jüdischen Glaubens waren.

Zu dieser Zeit (ab 1890) gab es in Berlin nur eine Familie Rummelsburg, ein Kaufmann Siegfried Rummelsburg in der Alexanderstraße 37a, Mitinhaber der Firma Gottheim & Co., die er später allein weiterführte. Nach 1893 findet sich außerdem ein Moses Rummelsburg im Osten von Berlin (Blankenfelderstraße 6), der Miteigner des Herrengarderobegeschäftes Salomon Kurzweg & Co. (Inhaber: Leopold Kurzweg, Königstraße 30). Er war möglicherweise ein Sohn des Siegfried Rummelsburg; Rosalie Rummelsburg könnte seine Schwester gewesen sein.

Hermann Heymann und seine Frau Rosalie wohnten 1890 bis 1893 zunächst in der Schlegelstraße 27 in der Oranienburger Vorstadt, bevor sie (ab 1893) an die Potsdamer Straße 61 zogen. Sie bekamen zwischen 1891 und 1898 fünf Kinder: 

– Alfred, geboren am 11. Dezember 1891. Er starb im ersten Weltkrieg am 5. Oktober 1915 (im Grenadier-Regiment No. 12) (8) (Bild 3).

– David, geboren am 24. Januar 1893, verstarb wenige Tage später (2. Februar 93).

– Frieda Flora, geboren am 29. November 1893. Sie heiratete 1921 Isidor Isaak Barkowsky, der, wie sie und ihre beiden Kinder, Margot Lilly (* 2. März 1922) und Alfred (* 14. März 1924), 1942 deportiert und in Auschwitz am 27. Februar 1943 ermordet wurde.

– Helene, geboren 18. Februar 1896. Sie heiratete 1922 Julius Barkowsky, den Schwager ihrer Schwester Frieda, und hatte mit ihm einen Sohn Adolf (* 20. Dezember 1923). Helene, ihr Sohn Adolf und ihr Ehemann Julius wurden 1941 deportiert und starben im Konzentrationslager Kauen in Kaunas (Litauen) am 25.11.1941.

– Theodor David schließlich wurde am 30. April 1898 geboren. Er übernahm nach dem Tod des Vaters 1928 das Hutgeschäft in der Potsdamer Straße 61.

Bild 3. Traueranzeige für Alfred Heymann (aus: (8))

Firmengründung

Das Haus Nummer 61 in der Potsdamer Straße (heute: Nr. 146, zwischen Bülow- und Winterfeldstraße) war 1890 neu gebaut worden (es gab schon vorher ein Mietshaus, nur kleiner) und gehörte ab 1892 einem königlichen Kammerherrn und Zeremonienmeister Werner Hesse Edler von Hessenthal (1845-1914), der in der Villa Genthinerstraße 13D (heute: 30D, im sogenannten Begaswinkel) wohnte. Nach 1894 war der Fabrikant (Hutfabrikant) Heimann (später Heymann) hier nachweisbar, auch wenn er seine Firma erst am 8. Januar 1908 in das Handelsregister hat eintragen lassen (9): HR A 31717: Der Gewerbebetrieb ist eine „Schirm- und Huthandlung“ mit einem jährlichen Einkommen und Umsatz oberhalb eines Kleingewerbes. Anlässlich der Registrierung musste Heymann einen Fragebogen (Bild 4) ausfüllen, der weitere Informationen über sein Gewerbe hergibt: Jährlicher Umsatz ca. 47.000 RM, Betriebskapital ca. 15.000 RM, Betriebsertrag 3.000 RM, Mietbedarf 4.700 RM für 2 Läden (1 großer, 1 kleiner), 2 Verkaufsräume, Kreditbelastung 9.000 bis 10.000 RM, ca. 20 Lieferanten. Auf der Basis dieser Daten wurde der Betrieb der Steuerklasse III zugeordnet und musste 72 RM an Steuern im Jahr zu zahlen. Auch wenn Heymann das Formular zur Eintragung seiner Firma mit „Herrmann Heymann“ unterzeichnete, wurde die Firma als „Hermann Heymann Hutfabrik“ auch für die amtlichen Eintragungen in den Zeitungen registriert.

Bild 4. Fragebogen zur Gewerbe des Hermann Heymann (aus: (9)).

Rosalie Heymann geborene Rummelsburg starb am 18. März 1926 in ihrem Heim in der Potsdamer Straße 61 – sie wurde 65 Jahre alt. Ihre beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt verheiratet und lebten in zuletzt Berlin-Wedding (Reinickendorfer Straße 77), Sohn Theodor wohnte bei seinen Eltern. Ein Jahr nach dem Tod seiner Ehefrau, am 21. März 1927 heiratete Herrmann Heymann erneut: Betty Winterfeld, geboren am 1. Januar 1896 in Lauenburg (Pommern).

Am 1. Oktober 1926 wurde Sohn Theodor Heymann Mitinhaber und persönlich haftender Gesellschafter der Firma Hermann Heymann Hutfabrik (10) (Bild 5). Am 3. November 1927, ein Jahr vor seinem Tod, schloss Hermann Heymann einen Erbvertrag (9), in dem er die Übernahme der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ an seine Erben im Falle seines Todes regelte: Den gesamten Haushalt erbe seine Ehefrau, das Geschäft solle seinem Sohn Theodor und seiner Ehefrau je zur Hälfte zufallen, seine Ehefrau und seine drei Kinder sollen den übrigen Nachlass zu je einem Viertel erhalten. Falls seine Ehefrau sich wieder verheirate, solle sein Sohn sie auszahlen, ebenso, falls sie entscheide, aus dem Geschäft auszusteigen. Falls seine Töchter die Regelung anfechten, sollen sie unter Anrechnung der erhaltenen Aussteuer auf den gesetzlichen Pflichtteil gesetzt werden. Der Wert des Nachlasses wurde auf 10.000 Mark geschätzt.

Bild 5. Anzeigen im Reichsanzeiger (10) und in der Handeslregister-Akte (9).

Hermann Heymann starb am 29. April 1928 in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße 61. Das Testament (Erbvertrag) wurde am 15. Mai 1928 im Beisein aller Erben sowie der Ehemänner der beiden Töchter eröffnet (9). Danach übertrugen die Ehefrau und die beiden Töchter des Heymann ihren Erbteil an Theodor, der sich seinerseits verpflichtet, seiner Stiefmutter 10.000 Mark und seinen beiden Schwestern je 4000 Mark auszuzahlen mit Stundung und Verzinsung bis 1931.

Im Testamentseröffnungsprotokoll 1928 werden zwei Geschäftsräume (Läden) erwähnt, die Hermann Heymann auch in seinem Anmeldeformular von 1908 notiert hatte. Im Jahr 1928 handelte es sich um die Potsdamer Straße 61 einerseits, um die Frankfurter Allee 70 andererseits: hier hatte Theodor Heymann 1927 ein eigenes Geschäftslokal mit Herrenartikeln eröffnet, das noch 1928 bestand, danach jedoch nicht mehr. Ob auch sein Vater Hermann Heymann in den Jahren vor seinem Tod ein zweites Geschäftslokal unter seinem Namen an anderer Stelle in Berlin betrieb, erschließt sich aus den Unterlagen nicht.

Mit dem Tod des Vaters schied dieser aus der Firma aus und wurde gelöscht, und Theodor Heymann wurde als alleiniger Inhaber eingetragen; der Name der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ blieb jedoch zunächst bestehen. Erst im April 1938 wurde die Firma umbenannt in „Theodor Heymann Herrenartikel“ (10) (s. Bild 5); zu diesem Zeitpunkt war die Nummerierung der Potsdamer Straße geändert worden, die Nr. 61 war jetzt die Nr. 146. 

Im zweiten Teil der Geschichte werden wir uns mit dem Verbleib der Firma unter der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen, der Flucht Heymanns nach Shanghai 1939, der Auswanderung in die USA 1947, und dem Wiedergutmachungsprozeß nach dem Krieg. 

Literatur

1. https://jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/p-r/1679-rogasen-posen

2. Jacob Jacobson. Zur Geschichte der Juden in Rogasen. Unveröffentlichtes Manuskript von 1935, einsehbar im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Signatur: II. HA GD, Abt. 10, VI Nr. 2680.

3. Edvard David Luft. The naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Scholars Press, Atlanta, Georgia 1987.

4. Edvard David Luft. The Jews of Posen Province in the Nineteenth Century. A Selective Source Book, Research Guide, and Supplement to The Naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Washington 2015, einsehbar im Archiv des Leo-Baeck-Instituts, New York. 

5. Sophia Kemlein. Die Posener Juden 1815 – 1848. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997.

6. Der Landbote. Ein Blatt zur Belehrung und Unterhaltung. Nr. 33 von Donnerstag, den 23. April 1846, Seite 1.

7. Bernhard Breslauer. Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. Denkschrift im Auftrag des Verbandes der Deutschen Juden. Druck Berthold Levy, Berlin 1909.

8. Berliner Tagblatt und Handelszeitung vom 28. Oktober 1915, Seite 14.

9. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): Handelsregister A. Herrmann Heymann Hutfabrik, Akte Nr. A Rep. 342-02 Nr. 35400 (Amtsgericht Charlottenburg HRA 94940)

10. Deutscher Reichsanzeiger, 31. März 1927, Seite 34 und 19. April 1938, Seite 1. 

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 10

Mit der Zusammenfassung der Wiedergutmachungsverfahren der Fürstenberg-Söhne nach dem 2. Weltkrieg wollen wir die Geschichte der Familie beenden. Dabei stellt sich – nicht nur für die Nachkommen von Sally Fürstenberg – die Frage, ob mit den prozessualen Ergebnissen eigentlich eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erreicht wurde, oder ob die finanzielle Kompensation nur dieses Unrecht verschleierte; dann wäre, wie wir oben (Teil 8) diskutiert haben, der Begriff der Restitution (der Wiederherstellung des finanziellen Status quo ante), der angemessenere Begriff. Zu unserer Überraschung hatte diese Diskussion bereits in den 1950er Jahre eingesetzt und war ihm allzeit immanent. Dazu im Folgenden ein längerer Textausschnitt von 1990 (58).

„Der unselige Begriff ´Wiedergutmachung`

In den Gründerjahren der Bundesrepublik haben gerade solche Politiker den Wiedergutmachungsbegriff hochgeschätzt, die klarer als andere erkannten, dass die Deutschen sehr viel zu ersetzen, zu bezahlen und zu sühnen hatten. Adolf Arndt oder Carlo Schmid, Franz Böhm oder Theodor Heuss sahen in diesem Sprachgebrauch ein Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und einen moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden. Dabei schwang die Idee einer deutschen Selbstreinigung mit, die Bundespräsident Heuss auf die Formel brachte: Es gelte nicht zuletzt, „sich selber wieder gut zu machen“. 

Ein Streiter für die Sache der Verfolgten, der Unionsabgeordnete Franz Böhm, erläuterte 1954 die zeitgenössische Semantik so: ´Wen die Grausamkeiten der Hitlerzeit damals, als sie verübt wurden, entsetzten, wer mit den Opfern fühlte, wer, wenn er konnte, zu helfen suchte, dem ist heute die Wiedergutmachung Herzenssache. Wer aber damals mit Hitler sympathisierte, wer jeden, den die Gestapo abholte, für einen Feind, Übeltäter oder Schädling hielt oder wer sich auch nur beim Anblick all der Herzlosigkeit und Brutalität mit dem Satz tröstete: wo gehobelt wird, da fallen Späne, für den ist heute die Wiedergutmachung ein Ärgernis.`

In unserer Gegenwart verhält es sich gerade umgekehrt: Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz in das Zentrum deutscher Erinnerungskultur getreten ist, um so mehr ist der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gilt er als ´unerträglich verharmlosend`. Die Abwehr ist verständlich, auch deshalb, weil es immer problematisch ist, einem Diskursbegriff der Zeitgenossen die historiografische Deutungshoheit zu überlassen. Doch sollte man sich vor dem anachronistischen Fehlschluss hüten, den frühen Protagonisten der Wiedergutmachung sei es nur um eine Art Schadensabwicklung gegangen.

Wenn heute an diesem Begriff festgehalten wird, dann primär aus pragmatischen Gründen. Wie keine andere Sammelbezeichnung rückt er einen Gesamtkomplex in den Blick, der sich in fünf Felder unterteilen lässt. Es handelt sich, erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens, die Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen. Zu den einschlägigen Gesetzen traten, drittens, Sonderregelungen auf verschiedenen Rechtsgebieten, insbesondere in der Sozialversicherung. Die juristische Rehabilitierung, viertens, stand vor der Aufgabe, Unrechtsurteile zu beseitigen – vor allem in der Strafjustiz, aber auch Unrechtsakte wie die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade sind zu bedenken. Diese vier Bereiche betrafen das innerdeutsche Recht. Aber die Verfolger haben Staatsgrenzen niedergerissen, Terror nach außen getragen und Millionen von Ausländern in das Deutsche Reich deportiert. Das Thema hat somit auch, fünftens, weite internationale Dimensionen, die den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilden“ (58).

War die Wiedergutmachung der Fürstenbergs nur Schadensabwicklung oder mehr?

Versucht man, die verschiedenen Wiedergutmachungsprozesse der Familie Fürstenberg bezüglich ihrer Ergebnisse zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild:

1. Aus den beiden hier ausführlicher diskutierten Verfahren (Teil 8 und Teil 9) ergeben sich finanzielle Zahlungen an die Familie in der Größenordnung von 1.2 Millionen DM.

2. Von den übrigen Immobilien der Familie zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung (1938) wurde die Lützowstraße 60 offenbar vor einer Enteignung im Frühjahr 1938 an das Finanzministerium (Abteilung Militär) verkauft. Nimmt man einen Bodenwert von 20-40€/qm an (59), kann man vermuten, dass das Grundstück nebst Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt und mindestens zu diesem Preis verkauft wurde und dieses Geld den Fürstenbergs auch zur Verfügung stand – sonst hätten sie zu Recht dafür Wiedergutmachung verlangen können.

3. Die Immobilien Leipzigerstraße 72/73 und Niederwallstraße 13/14 lagen nach dem Krieg in Ost-Berlin, die DDR hat sich an der Wiedergutmachung nicht beteiligt – sie sahen sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Für diese Immobilien wurde daher wohl kein Rückerstattungsanspruch erhoben.

4. Für die Immobilie Wassertorstraße 3 wurde am 6. Januar 1954 ein Rückerstattungsantrag von 1950 zurückgezogen (60), da das Grundstück zurückgegeben wurde. Laut Bauakten (61) war das Haus 1934 für 19.000 RM aus einer Versteigerung erstanden und hatte einen Verkehrswert von etwa 24.000 bis 26.000 RM. Es war nach dem Krieg noch nahezu vollständig bewohnbar, nur eine Werkstatt im Hof war vollständig zerstört.

5. Das gleiche galt für das Grundstück Lietzenburgerstraße 13, über das es keine Wiedergutmachungsakte gibt. Laut Räumungsakte von 1949 (62) war das Grundstück 1600qm groß und zu 26% beschädigt (nur Quergebäude, das Vorderhaus war bewohnt).

Wie hoch war der Grundwert, und wie verhielt sich dies zu den Werten um 1955?

Die Kaufkraft einer Reichsmark vor dem Krieg (1938) entspricht einer Kaufkraft von 4,7€ heute (63), aber das sagt uns wenig über den Wert der RM vor nunmehr 90 Jahren, 20 Jahre nach der Restitution, 1956, außer vielleicht einem etwa 10:1 Verhältnis von RM:DM. Dem entspricht aber sehr genau eine andere Kalkulation: Der VbK bewertete den Kaufpreis für Grund und Gebäude Lützowplatz 9 (370.000 RM) im Jahr 1956 mit 37.000 DM (37). 

Das vom Landgericht veranlasste Gutachten des Dipl.-Ing. Enderlein vom 23. Juli 1953 im Wiedergutmachungsprozess Fürstenberg gegen den VbK (59, Bl. 58-72) bezifferte den Bodenwert der etwa 1800qm, die der VbK 1938 erworben hatte, mit 58.000 RM, und das Gebäude mit 228.000 RM, zusammen also etwas mehr als die bezahlten 370.000 RM. Gegenüber dem Gebäudewert, der sich im Jahr 1953 durch die Zeit, aber auch durch das Ausmaß der Zerstörung 1943 gegenüber 1938 verringert hatte, war der Bodenwert praktisch gleichgeblieben und wurde im Gutachten mit 50.000 DM angenommen (59, Bl. 71).

Nehmen wir also der Einfachheit halber an, dass die beiden Grundstücke zu 4. und 5. im Jahr 1956 zusammen einen Grundwert von etwa 50.000 DM hatten, dann beläuft sich die Gesamtsumme der finanziellen Restitution für die Familie Fürstenberg auf etwa 1.25 Millionen DM im Jahr 1960, und dies entspricht etwa dem zehnfachen Wert (12,5 Mio. RM) im Jahr 1938.

Die Fürstenbergs (Sally, Paul und Sophie Fürstenberg) hatten im Rahmen ihrer Vermögenserklärungen 1938 (s. Teil 7) in der Größenordnung von ca. 7 Millionen RM angegeben, die im Ausland angelegten Vermögenswerte nicht mitgerechnet. Da auch das Vermögen von Fritz Fürstenberg und seiner Firma Reveillon in Amsterdam 1942 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, und die Firma Reveillon in London durch deutsche V2-Bomben zerstört wurde (wofür es vor Ort keine Kompensation gegeben haben dürfte), lässt sich das Vermögen der Familie 1938 auf mindestens 10 Mio. RM schätzen und entspricht somit von der Kaufkraft ungefähr der Restitutionssumme von 1.25 Mio DM im Jahr 1960. 

Es muss an dieser Stelle aber daran erinnert werden, dass Vermögenden, insbesondere mit Immobilienbesitz, im Rahmen des Lastenausgleichs (1952) (64) ebenfalls erhebliche finanzielle Abstriche ihres Vermögens hinnehmen mussten, wenngleich gestreckt auf viele Jahre, wozu auch der Entzug von Vermögen und Immobilien im Machtbereich der DDR gehörte, den auch sehr viele haben hinnehmen müssen. Und „last but not least“: Hätten die Fürstenbergs nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, wären sie, so makaber das klingt, vermutlich wie viele weniger vermögende Juden Opfer des NS-Terrors geworden und ermordet worden.

War die Lösung der Wiedergutmachungsprozesse also gerecht?

Da wir darauf keine befriedigende Antwort finden können, sollen am Schluss die Söhne von Sally Fürstenberg selbst zu Wort kommen. In einem Zeitungsartikel im „Tagesspiegel“ vom 17. März 1954 (65) (Bild 1) berichtet der Reporter (G.L.) über ein soeben stattgefundenes Treffen mit zwei der Gebrüder Fürstenberg – bei denen es sich möglicherweise um Fritz aus den Niederlanden und Ulrich aus Ägypten handelt, von denen wir aus anderen Quellen wissen, dass sie gelegentlich in Berlin bzw. auf der Frankfurter Messe waren. Sie hatten offenbar auf der Durchreise in Berlin Station gemacht, vermutlich auch, um im Prozess auszusagen. Zum Zeitpunkt dieses Besuches aber waren die Prozesse noch keineswegs beendet, sondern noch mehr als sechs Jahre von den oben beschriebenen Ergebnissen entfernt.

Bild 43: Artikel im Tagesspiegel vom 17. März 1954

Das Treffen fand in einer Villa im Grunewald statt, und die beiden „plauderten … bei einer Tasse Tee von ihren Erlebnissen, in den letzten zwanzig Jahren: Verfolgung, Emigration, Aufbau von Geschäften in Kairo, Alexandrien, Rhodesien und Amsterdam, erneute Flucht, Internierung in der Schweiz mit Lagerleben, Gefängnismauern, gewaltsamer Trennung der Familie und schließlich wieder geschäftliche Erfolge in Europa und in Afrika. Lächelnd, mit verbindlichen Handbewegungen, geht man von diesen angedeuteten Reminiszenzen, als wolle man die Gesprächspartner damit nicht belasten, zur Gegenwart über“ und deutet an, dass sie zukünftig vielleicht auch am Kurfürstendamm in Berlin wieder ein „Haus der Geschenke“ eröffnen möchten, „wenn die gegenwärtigen Restitutionsverhandlungen günstig verlaufen„. Auch wenn sie das am Ende vielleicht gewesen sind, Jahre später waren vermutlich die Bedingungen für einen Neubeginn ungünstig, die Preise für Immobilien am Ku-Damm zu hoch, und alle Beteiligten um Jahre älter und um Erfahrungen reicher.

Literatur

58. Quelle: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-1945-1990-ein-ueberblick/

59. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): B Rep. 025-05 Nr 204/49 Nr. 5725/50. 

60. LAB: B Rep. 020-02 Nr. 2138/51, Blatt 2.

61. LAB: B Rep. 206 Nr. 4619 (Bauakte Wassertorstraße 3).

62. LAB: B Rep. 207-01 Nr. 971 (Abräumakte Lietzenburger Str. 13).

63. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

64. https://de.wikipedia.org/wiki/Lastenausgleichsgesetz.

65. Tagesspiegel vom 17. März 1954.

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 9

Im Wiedergutmachungsverfahren Fürstenberg gegen die Firma Reiwinkel „Haus der Geschenke“ bzw. gegen dessen Kommanditisten Walter Koch war die Ausgangssituation eine etwas andere: 

Die Firma Reiwinkel im und nach dem Krieg

Das Geschäft in der Leipziger Straße 72-73 bis zur Niederwallstraße 13 war zwar im Krieg erheblich beschädigt worden (Bild 41), lag aber nach dem Krieg im sowjetischen Sektor der Stadt, und die Sowjets haben die Restitutionsanordnungen der westlichen Militärbehörden nicht mitgetragen; die 1949 gegründete DDR sah sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches und hat daher die Wiedergutmachungsregelungen ebenfalls nicht für sich akzeptiert: die entsprechenden Gebäude und Grundstücke gingen vermutlich in Staatseigentum über (36).

Bild 41: Foto des Geschäftes der Firma Rosenhain in der Leipziger Straße 72/73 aus dem Jahr 1945. Hinter dem Haus rechts von Rosenhain sieht man die ebenfalls kriegsbeschädigten Kollonaden. Zum Vergleich siehe die Bilder 20 und 21 im Teil 5 (Quelle: Albert Rosenhain Collection im Leo-Baeck-Institut New York, Archiv Nr. AR 3272: mit freundlicher Genehmigung).

Das Geschäft am Kurfürstendamm 230/232 (Bild 42) war durch Bomben 1943/4 zerstört worden, Teile des Warenlagers im Wert von 170.000 Mark waren vor den anrückenden russischen Truppen gen Westen gebracht worden und landeten schlussendlich im niedersächsischen Bückeburg (zwischen Hannover und Bielefeld) im britischen Sektor, wo sie teilweise von der Armee bzw. der Luftwaffe 1945 beschlagnahmt worden war (49, Bl. 8f). Ein separates Klageverfahren der Fürstenbergs gegen diese Beschlagnahmung wurde dem Hauptverfahren zugeschlagen.

Bild 42: Das Geschäft „Rosenhain, Haus der Geschenke“ am Kurfürstendamm im Jahr 1936 (Beflaggung für die Olympischen Spiele) (Quelle: Albert Rosenhain Collection im Leo-Baeck-Institut New York, Archiv Nr. AR 3272: mit freundlicher Genehmigung).

Der Reiwinkel-Teilhaber Ludwig Reisse war am 7. Mai 1943 aus der Firma ausgeschieden, und der Teilhaber Fritz Grawinkel war am 11. August 1944 bei einem Bombenangriff in Berlin ums Leben gekommen. Seine Witwe Gertrud Grawinkel lebte bei Kriegsende in Erkelenz (bei Düsseldorf) und registrierte am 9. Dezember 1957 die Firma Reiwinkel in Düsseldorf (Königsallee 98), aber schon zwei Jahr später überlies sie die Firma Reiwinkel Walter Koch allein, der sie im Jahr 12. November 1959 zurück nach Berlin verlegte, jetzt mit seiner Frau Hildegard geborene Hoffmann als Geschäftsführerin (50). Bis 1964 versuchte die Firma noch, in Berlin Geschäftsräume am Kurfürstendamm anzumieten oder zu kaufen, dann wurde sie auf Drängen der Industrie- und Handelskammer (51, Bl. 5,18,25,27) am 12. Dezember 1964 im Handelsregister gelöscht (52). In dieser ganzen Zeit lief gegen Koch und die Firma der Wiedergutmachungsanspruch der Fürstenbergs. Die wurde auch in diesen Verfahren durch den Rechtsanwalt (RA) Hans-Georg Tovote, Berlin vertreten, der ihr Familienanwalt bereits vor dem Krieg war und der auch der Testamentsvollstrecker für das Testament von Gustav Fürstenberg war (siehe Teil 6). Walter Koch wurde vom Rechtsanwalt (RA) Hermann Reuss aus Berlin vertreten.

Die gleichen Argumente, ein ähnlicher Ton

Die Ausgangssituation war, wie gesagt, eine andere und weitaus klarer: Der Prozess der Arisierung („Entjudung“ wurde dies in der Zeit genannt) war, anders als bei Kauf des Wohnhauses durch den VbK, mit dem Ziel gemacht worden, jüdische Gewerbebetriebe zu enteignen, und dafür wurden „arische“ Käufer gesucht, die nach Möglichkeit den Gesamtkomplex und nicht nur Teile davon übernehmen sollten und wollten. Dass, wie im Falle von Walter Koch, dabei auch noch Devisen (englische Pfund) in die deutsche Kriegskasse kamen, war keineswegs von Nachteil, ganz im Gegenteil. Und dass Walter Koch und sein bislang unbekannter Bruder in England zu diesem Zeitpunkt und kurz vor dem Krieg nicht wohlgelitten waren, hatte schon die deutsche Handelskammer in London bestätigt (siehe oben Teil 6). Wären sie mit ihrem Geld bis nach Kriegsausbruch September 1939 in England geblieben, wäre nicht nur ihr Geldtransfer nach Deutschland unmöglich geworden, sondern sie wären vermutlich auch als „Alien enemies“ in England interniert worden.

Walter Koch hatte im Übrigen „vorgesorgt“: Noch bevor Klagen der Familie Fürstenberg 1949 aktenkundig wurde, hatte in seinem Auftrag ein Wirtschaftsprüfer namens Dr. habil. Waldemar Koch, Berlin (Bayrische Straße 6), am 26. Juni 1948 ein 61-Seiten langes Gutachten (nebst 48 Seiten Dokumentenanhang) erstellt (53), in dem all die Argumente, die auch später im Wiedergutmachungsverfahren aufgefahren werden, bereits prophylaktisch und im Sinne des Walter Koch abgehandelt werden. Dieses Gutachten spielt allerdings im späteren Prozess kaum keine Rolle, nicht zuletzt, weil es ein Parteiengutachten war, das zwei Jahre vor Prozessbeginn erstellt wurde – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. 

Ohne auch nur die Vorgeschichte der Firma Reiwinkel in Betracht zu ziehen, widerspricht RA Reuss dem Rückerstattungsanspruch (am 27. Oktober 1950): „Es ist schlechterdings unerfindlich, wie dieser Rückerstattungsanspruch begründet sein sollte. Das Unternehmen in „Firma Reiwinkel ‚Das Haus für Geschenke‘ Reisse & Grawinkel K.G.“ war zu keiner Zeit Bestandteil des Vermögens der Antragsteller oder ihrer Rechtsvorgänger. Daher kann es sich hierbei auch nicht um ihnen entzogenes Vermögen‘ handeln, das ihnen zurückzuerstatten wäre. Was einem Antragsteller niemals gehört hat, kann ihm weder ‚entzogen‘ worden sein noch ‚zurückerstattet‘ werden“ (54, Bl. 5-7) – blauäugiger geht es kaum.

Ein dubioser Charakter: Walter Koch

Sein Mandant, Walter Koch, befand sich zu diesem Zeitpunkt in Wildbad/Schwarzwald (Eiberg 1), aber dem Anwalt lag natürlich das Gutachten Koch (53) vor. Auf dessen Basis behauptete RA Reuss in einem 30-seitigen Schriftsatz vom 24. Oktober 1950 (55, Bl. 111-125) unter anderem, dass er gemäß den Vorschriften des Militärgesetzes Nr. 59 (56) belegen kann, dass die Fürstenbergs einen angemessenen Kaufpreis erhalten haben, dass sie darüber frei verfügen konnten, und dass Walter Koch „in besonderer Weise und mit wesentlichem Erfolg den Schutz der Vermögensinteressen“ der Fürstenbergs wahrgenommen hat, insbesondere durch Mitwirkung bei der Übertragung ihres Vermögens ins Ausland (55, Bl. 112f). Ferner wird behauptet, dass die Übernahme der Firma Rosenhain durch Koch und zwei Kompagnons im Jahre 1938 ein reines Verlustgeschäft gewesen sei: Statt den 57.000 britischen Pfund, die 1938 einem Devisenwert von etwa 2,5 Millionen Reichsmark (RM) entsprachen, hätte Koch in das Geschäft – direkt und indirekt – rund 6 Millionen RM investiert (55, Bl. 114); dem ständen übertragene Sachwerte in Höhe von netto 4,3 Mio. RM gegenüber. Auch hätte Walter Koch in England mit den investierten 57.000 Pfund weit mehr Profit machen können, hätte er die Aktien nicht verkauft, und die übernommene Firma Rosenhain habe im Übrigen in den Jahren zuvor nur Verluste eingefahren – daher, so der Tenor, habe er den Fürstenbergs, die sich schließlich an ihn gewandt hatte, eigentlich nur einen Gefallen getan mit der Übernahme der Firma. Dass ihnen das Geld nicht ausgezahlt worden sei, sei schließlich eine Angelegenheit der deutschen Behörden gewesen: rückständige Steuerzahlungen einerseits, Verhinderung von Geldtransfer ins Ausland andererseits, jenseits von politisch motivierten Strafzahlungen für Juden wie der Reichsfluchtsteuer und den sogenannten „Sühnezahlungen“ nach der Reichspogromnacht – dafür sei Koch nicht verantwortlich zu machen. RA Tovote hatte dieser Argumentation zuvor widersprochen (55, Bl. 78-110), führte die monatlichen Mieteinahmen der Augsburger Straße 34 an und die Gewinne von Rosenhain, die Steuerpflichten von Rosenhain, und korrigierte Angaben zum Verlauf der Gespräche und Transaktionen 1938, zur Übernahme der holländischen Firma Reveillon 1942 und vieles mehr. 

Die Rückübertragung und die Rücknahme der Rückübertragung

Die Argumentation von RA Reuss verfing bei Gericht nicht, und es deutete sich früh an, dass das Kammergericht, im Hinblick auf das Grundstück Augsburger Straße 34, eine Teilentscheidung (Rückübertragung) für möglich hielt. Auf diesem Grundstück stand ein nicht-beschädigtes Wohnhaus, das bis zu diesem Zeitpunkt auch Mieteinnahmen hatte und einen Grundwert vom 110.000 RM. Mit Datum vom 7. November 1950 erließ die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Berlin eine Teilentscheidung über eine Rückübertragung des Grundstücks unabhängig von Fragen in der Hauptsache mit sofortiger Wirkung (55, Bl. 141). Die Umschreibung im Grundbuch auf die Familie Fürstenberg wurde angeordnet, die dort eingetragene Hypothek blieb bestehen. In einer Ergänzung zum Urteil notierte der vorsitzende Richter, dass RA Tovote zusätzliche Urkunden und Abschriften in einer „grünen Sammelmappe“ zu den Akten gegeben habe (55, Bl. 142) .

In einer ausführlichen Stellungnahme mit sofortiger Beschwerde gegen dieses Urteil machte Kochs Rechtsanwalt Reuss erheblich verfahrensrechtliche Bedenken, unter anderem im Hinblick auf die „grüne Mappe“ geltend (55, Bl. 177ff), die dem Gericht erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung überreicht worden sei (55, Bl. 180). Diese Argumentation veranlasst das Gericht, den Beschluss mit Datum vom 20. Mai 1952 wieder zurückzunehmen (55, Bl. 260) und in der Hauptsache weiter zu verhandeln.

In der Hauptsache (55, Bl. 260-277; 56; 57) ging es dann um zwei Argumentationslinien: Zum einen um die Frage, ob und warum die Fürstenberg Familie kein Geld aus dem von Koch bezahlten Kaufpreis bekommen habe, sondern dieser von den deutschen Finanzbehörden einbehalten worden war. Zum anderen darum, ob Koch dieses Kaufgeschäft guten Glaubens abgeschlossen habe (so, wie vermeintlich der VbK) oder ob er in Kenntnis der Zwangslage der Familie Fürstenberg gehandelt habe. Beide Parteien nutzen die wenigen Gerichtstermine ausgiebig, entweder die vielen dokumentarischen Belege aus der Arisierungsgeschichte 1938 (s. oben, Teil 6) zu präsentieren (RA Tovote), oder die finanzpolitischen und ökonomischen Implikationen des Erwerbs 1938 zu diskutieren, mit Gutachten von Bank- und Finanzexperten (RA Reuss, dem inzwischen weiterer Rechtsanwälte zur Seite standen, RAe Osthoff und Rapp aus Bielefeld).

Da uns über die persönliche Situation des Walter Koch bislang wenig bekannt ist, und Gerichtsakten diesbezüglich kaum Informationen enthalten, sind wir an dieser Stelle in dieser Frage auf wenige Vermutungen angewiesen. Dazu gehört die oben angeführte Behauptung, dass die Gebrüder Koch ihr in England angelegtes Vermögen im Deutschen Reich in Sicherheit bringen wollten; dazu gehört auch, dass Walter Koch, der in den Arisierungsakte bis 1938 mit einer vagen englischen Adresse (Fulmer, England) auftrat, zwar ausweislich der Akten immer wieder betonte, in England bleiben zu wollen, der aber – da deutscher Herkunft – nach dem Kauf nicht nach England zurückkehrte, sondern seinen Wohnsitz in Berlin nahm. Die wenigen biografischen Informationen, die wir bis heute erhaben sammeln können, sprechen ebenso dafür.

Die finale Entscheidung der Kammer zur Rückerstattung (55, Bl. 260ff) wurde vom Obersten Restitutionsgericht Berlin (ORG) (56, Bl. 12-23) am 13. Juli 1955 bestätigt, aber auch korrigiert: Die Rückerstattung habe an die wieder existierte frühere Eigentümerin des streitigen Grundstücks, die Wohnstätte Kurfürstendamm AG zu erfolgen und nicht an die derzeitigen Mitglieder der Familie Fürstenberg (56, Bl. 23).

Auch hier wird hinter verschlossenen Türen verhandelt

Wie im Prozess gegen den VbK wird auch im Prozess gegen Walter Koch parallel zum Gerichtsverfahren quasi „privat“ weiterverhandelt (43: Bl. 163), und auch hier kommt es überraschend und im letzten Moment zu einem Vergleich, den die Parteien am 6. November 1957 dem Gericht zur Kenntnis geben (57, Bl. 117-119). 

Danach zahlte Walter Koch der Familie Fürstenberg den Betrag von 1.095,800 DM, im Gegenzug verzichtete die Familie Fürstenberg auf alle Ansprüche auf Rückübertragung der Grundstücke Kurfürstendamm, auf Erstattung der Mieteinnahmen, und bestätigte die Löschung der Rückübertragung Augsburger Str. 34. Ansprüche auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz verblieben bei den Fürstenbergs, Treuhänderguthaben aus den drei Grundstücken verblieben bei Walter Koch.

Ende gut – Alles gut?

Im nächsten und letzten Teil der Geschichte werden wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob dies nun ein gutes oder ein nicht-so-gutes Ende der Geschichte des Hauses Fürstenberg am Lützowplatz ist.

Literatur

49: Akte des Landesarchivs Berlin (LAB): B Rep. 025-06 Nr. 616/51

50: LAB: A Rep 342-02 Nr. 21057,21058

51. LAB: A Rep 342-02 Nr 21056

52. LAB: A Rep 342-02 Nr. 21059, 21061

53. LAB: B Rep 025-04 Nr. 482/49 (4)

54. LAB: B Rep 025-06 Nr. 891/50 

55. LAB: B Rep 025-04 Nr. 482/49 (2)

56. https://de.wikipedia.org/wiki/Militärregierungsgesetz_Nr._59

57. LAB: Akte B Rep 025-06 Nr. 482/49 (3)

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 8

Im Wiedergutmachungsverfahren Fürstenberg gegen den Verein Berliner Künstler (VbK) wurden die Angehörigen der Familie Fürstenberg durch den Rechtsanwalt (RA) Hans-Georg Tovote, Berlin vertreten, der ihr Familienanwalt bereits vor dem Krieg war und der auch der Testamentsvollstrecker für das Testament von Gustav Fürstenberg war (siehe Teil 6). Der VbK hatte dem Rechtsanwalt (RA) Georg Graul aus Berlin Vollmacht gegeben, seine Angelegenheit zu vertreten.

Runde Eins: Der Ton macht die Musik

Den Auftakt machte RA Tovote in seinem Schriftsatz vom 18. Juli 1950, in der er den VbK als „Rechtsnachfolger eines Nazi-Vereins gleichen Namens“ titulierte (41, Bl. 37). Das hat den vermutlich geschmerzt, weil es nicht der Nachfolger, sondern der gleiche Verein war, den es schon seit 1841 gab (siehe Teil 7); der befand sich aber zumindest seit 1938 fest in der Hand der Nationalsozialisten (39). Der Verweis auf die letzte große Ausstellung des Juden Max Liebermann im Jahre 1927, mit dem RA Graul den Vorwurf zurückwies, half da wenig, Legitimation herzustellen (41, Bl. 90). Stattdessen stilisierte sich Graul selbst als „Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückungsmaßnahme“ (41, Bl. 87) und bezweifelte gleichzeitig, dass die Fürstenbergs sich 1938 in einer Zwangslage befunden hätten. 

Dem Prinzip nach war alles strittig, was die Fürstenbergs im Wiedergutmachungsverfahren ab 1948 – zehn Jahre nach ihrer faktischen Enteignung – vorbrachten, vielleicht mit Ausnahme des für das Haus bezahlten Kaufbetrages von 370.000 Reichsmark: dass der Verkauf unter Zwang für die Familie stattfand, dass der Kaufpreis unangemessen war, und dass die Familie Fürstenberg dieses Geld nie erhalten habe. Im Originalton des Anwaltes klang das so: „Inwieweit der Grundstücksverkäufer sich wirklich in einer Zwangslage befunden hat oder sich in einer solchen glaubte, kann – und konnte damals – der Verein nicht übersehen. Dem Verein gegenüber ist jedenfalls diese Zwangslage vom Verkäufer selbst durch eine freiwillige Handlung des Verkaufes unterbrochen worden, indem er nicht etwa einen Käufer an sich herantreten ließ, sondern durch einen Makler dem Verein das Grundstück von sich aus zum Kaufe anbot“ (41, Bl. 88). Mit anderen Worten: Echte Opfer verhalten sich passiv, wer sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, verliert die Glaubwürdigkeit.

Im Prinzip verfolgen Rechtsanwälte keine eigenen Interessen (jenseits ihrer Gebührenordnung, die sich über den Streitwert bestimmt), sondern drücken mit ihrer Position die Ansicht ihrer Mandanten aus. In den wenigen Unterlagen des VbK, die wir dazu einsehen konnten, findet sich daher der gleiche aggressive Ton, z.B. in dem oben erwähnten Bericht des Vereinsvorsitzenden Arthur Hoffmann an die Mitglieder von 1956 („… da die Gegner behaupten, keinen Pfennig erhalten zu haben, da der Kaufpreis seinerzeit auf ein Sperrkonto gezahlt werden mußte …“) (37).

Interessant ist, dass die Parteien jenseits ihres Gerichtsstreites immer auch parallel direkt miteinander verhandelt hatten und dies den Akten nicht zu entnehmen ist, solange kein Vergleichsvorschlag zu Protokoll gegeben wird. Ein erster solcher Vergleich wurde gerichtsprotokolliert am 7. November 1950, wonach der VbK der Familie Fürstenberg eine Zahlung von 40.000 DM als Nutzungsentschädigung für die Zeit 1938 bis 1943 anbot, um endgültig Eigentümer zu werden – dies nahmen die Fürstenbergs nicht an. In einem privaten Gegenangebot sollte der VbK noch 100.000 DM an die Familie zahlen, um Mitbesitzer des Hauses zu werden – dies lehnt der VbK ab, nachdem klar wurde, dass dies – trotz Zahlung – auch den Verlust des Gebäudes bedeutete (37). Die Parteien erklärten am 19. September 1952 den Vergleich für gescheitert (41, Bl. 130), und die Verhandlungen gingen in die zweite Runde.

Runde Zwei: Alles ist strittig

Strittig aufgearbeitet werden mussten zunächst die Enteignungsdaten von 1938 und finanziellen Regelungen, mit denen das Deutsche Reich sich des Vermögens der Fürstenberg bemächtigt hatte – bis hin zur Frage, ob über den Kaufpreis überhaupt verfügt werden konnte. Dazu legten die Fürstenbergs viele im Arisierungsverfahren angefallenen Dokumente, Verträge und Verordnungen vor, die – mit Sicherheit – dem VbK zu diesem Zeitpunkt erstmals zu Gesicht kamen.

Als das 1953 Gericht erwog, im Rahmen eines Teilbeschlusses eine Rückübertragung des Grundstücks anzuordnen, legte RA Graul letztmalig eine Stellungnahme vor, in der der das Gericht auf die Notwendigkeit eines „gerechten Ausgleichs“ zwischen den Antragsparteien hingewiesen wurde (42, Bl. 133ff) – offenbar war er selbst nicht in der Lage, dies zwischen den Parteien zu vermitteln. Stattdessen trat ein neuer Anwalt, Dr. Walter Fuhrmann, Berlin auf den Plan (42, Bl. 139), der die weitere Vertretung des VbK übernahm (12. November 1953). RA Fuhrmann verwies unmittelbar auf die vergleichbare Situation der Antragsteller Fürstenberg im parallelen Prozess Fürstenberg gegen Walter Koch (s. unten, WGA-2), bei dem eine Teilentscheidung des Kammergerichts über einer Rückübertragung des Grundstücks Augsburgerstraße 34 im Mai 1952 wieder rückgängig gemacht wurde (43, Bl. 260) und warnte davor, RA Tovote argumentierte dagegen und nannte die Rückerstattungspflicht „absolut entscheidungsreif“ (41, Bl. 166). 

Runde Drei: Sanierung oder Abriss nach dem Krieg

Als die Wohnungen im Hause Lützowplatz 9 im Jahr 1954 baupolizeilich gesperrt wurden (41, Bl 174), forderte RA Tovote am 19. Mai 1954 Ortstermin, Sachverständigengutachten und wegen „Gefahr im Verzug“ eine Änderung der Hausverwaltung. Der Ortstermin unter Beteiligung des Architekten Prof. Sagrekow am 10. Juni 1954 ergab hingegen nur einen gesperrten Raum, ansonsten unfertiger Umbauzustand, und die Parteien einigten sich auf erneute Vergleichsverhandlungen. 

Strittig war nach wie vor der Zustand des Gebäudes nach den Bombardierungen 1943, der Grad der Zerstörung und der Aufwand, der zur Nutzung des Gebäudes als Ausstellungsraum betrieben wurde – allein über diese Kosten gibt es fünf Verfahrensbeiakten (44). Es wurden Gutachten zum Bauzustand 1945 eingeholt, die zum Ergebnis kamen, dass die Zerstörung mehr als 60 bzw. „nur“ 44% betrugen – der Unterschied bedeutete Abriss oder Sanierung (45, Bl. 224) (Bild 40). Es wurden unterschiedliche, alte und aktuelle Verkehrswerte des Grundstücks berechnet und vorgetragen (weniger als 150.000 DM versus 210.000 DM und mehr), entstandene Schäden während des Krieges (45, Bl. 291) und die getätigten Auswendungen des VbK vor Ort begutachtet (46, Bl. 58ff), argumentiert, inwieweit sie werterhaltend oder wertsteigernd waren, getrennt nach Kosten in Reichsmark während des Krieges, und vor und nach der Währungsreform 1948 sowie gegenwärtig (1953).

In der Wahrnehmung des VbK (37) hatte der Verein das Gebäude (bei mehr als 60% Zerstörung) entgegen der Vernunft vor dem Abriss gerettet, daher müsse ihm, bei Rückgabe an die Familie Fürstenberg, diese Kosten erstattet werden, ebenso die Ablösung einer Hypothek.

Bild 40: Selbst Bilder sind nicht immer objektiv, sondern können zugunsten der einen oder der anderen Position herangezogen werden. Das linke Bild (aus: 37) zeigt das Haus und seine Zerstörung nach Kriegsende 1945, und man hat den Eindruck, dass hier nur Abriss hilft. Das rechte Bild (aus: 48) zeigt das Haus nach Räumung des Schutts, vermutlich also Anfang der 50er Jahre und vermittelt den Eindruck einer Beschädigung, die man reparieren kann – was ja dann letztlich auch passiert ist.

Das Finale: Der Vergleich

Gemessen an der gerichtlichen Auseinandersetzung in den drei Phasen, die wir oben berichtet, hätten wir erwartet, dass der Vergleich ein Kompromiss zwischen den Parteien ist; leider haben wir keine Dokumente, die den „privaten“ Verhandlungsprozess zwischen den Parteien dokumentieren. Unabhängig davon entschied das Landgericht am 6. November 1959 nach mündlicher Verhandlung am 28. September und präsentierte eine Teilentscheidung (47, Bl. 11ff) – zu diesem Zeitpunkt hatte der VbK offenbar einen neuen, dritten Rechtsvertreter bestellt, RA Dr. Gregor, Berlin.

Danach wurde die VbK verurteilt, das Grundstück Lützowplatz 9 sowie das 501qm große Zwischenstück (siehe oben, Teil 7) zurückzuerstatten (d.h. die Grundstücke mussten im Grundbuch umgeschrieben werden), und etwaige Kriegssachschädenersatzansprüche und Lastenausgleichsansprüche abzutreten. Eine bestehende Hypothek auf dem Grundstück bleibe bestehen und würde der Familie Fürstenberg als Gesamtschuldner übertragen. Außerdem müsse sie dem VbK Kosten in Höhe von 77.700 DM zzgl. 4 % Zinsen seit dem 1. Januar 1960 zahlen. Dazu solle eine Hypothekenlast in gleicher Höhe auf dem Grundstück eingetragen werden. Weiterhin wurden die Fürstenbergs verurteilt, dem VbK alle Rückerstattung- und Entschädigungsansprüche abzutreten, wenn in entsprechenden Verfahren festgestellt wird, dass solche Ansprüche bestehen. Und jetzt erst kam es zum Vergleich.

Der Vergleich

Die Rechtsanwälte Tovote und Gregor formulierten in einem Eilbrief (41, Bl. 167) am 15. November 1960 an das Kammergericht: Der VbK wolle das Grundstück vorbehaltlich eines Vergleiches weiterveräußern an den Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V., der 1960 zu diesem Zweck von Berliner Sozialdemokraten unter Leitung von Willy Brandt (1913-1992) gegründet worden war (48); man bitte um einen Vergleichstermin beim Kammergericht. Dort verzichteten die Fürstenbergs auf ihren Rückerstattungsanspruch und auf die Rechte aus dem Beschluss vom 28. September 1959 auf das Grundstück Lützowplatz 9, übertrugen das Eigentumsrecht daran und an die 501qm großen Parzelle an den „Förderkreis Kulturzentrum Berlin e.V.“, der das Grundstück Lützowplatz 9 vom VbK erwerben wollte. Im Gegenzug zahlte der VbK an die Familienmitglieder Fürstenberg den Betrag von 100.000 DM. Etwaige Lastenausgleichsansprüche verblieben beim VbK, Ansprüche aus dem Bundesentschädigungsgesetz (wegen der Nicht-Verfügbarkeit des Kaufpreises von 370.000 RM im Jahr 1938) verblieben bei der Familie Fürstenberg.

Der Verkaufsvertrag zwischen dem VbK und dem Förderverein vom 22. November 1960 (45, Bl. 435) sah einen Kaufpreis von 271.507,88 DM vor, davon sollten 100.000 DM an die Familie Fürstenberg überwiesen werden, der Förderverein übernahm die eingetragene Grundschuld von insgesamt 42.000 DM, die verbleibenden 128.000 sollten an den VbK überwiesen werden.

Literatur

Vorbemerkung: Es gibt im Landesarchiv Berlin insgesamt über 30 Akten in den Wiedergutmachungsverfahren der Familie Fürstenberg, mit insgesamt weit über 1500 Blatt, die dieser Auswertung zugrunde liegen. Der Verweis auf einzelne Aktenseiten wird dadurch erschwert, dass viele dieser Akten die gleiche Archiv-Nummerierung tragen (z.B. B Rep. 025-05 Nr. 204/49), die aber oft unterschiedlichen Gerichtsprozess-Akten zugewiesen wurde (z.B. Beiakte 1 bis 10.). Innerhalb einer Akte sind die Seiten nummeriert. Die Zitation erfolgt daher mit Angabe der Seitennummerierung im Text (z.B. 41, Bl. 167)

41. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (1)

42. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (2)

43. Akte B Rep 025-04 Nr. 482/49 (1) 

44. Akte B Rep 025-04 Nr. 482/49 (5) bis (10)

45. Akte B Rep 025/05 Nr. 204/49 (3)

46. Akte B Rep 025-05 Nr. 204/49 (2)

47. Akte B Rep 025-05 Nr. 5723/5048.

48. https://de.wikipedia.org/wiki/Haus_am_Lützowplatz

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 7

Bereits vor dem Tode von Sally Fürstenberg im Juni 1942, spätestens aber nach seinem Tod zogen seine vier Söhne in alle Welt und brachten sich vor den Nazis in Sicherheit. Während und am Ende des Krieges waren sie mit ihren Familien in Ägypten, England, Rhodesien, der Schweiz und den USA, und sie stellten bereits 1948 gemeinsam und konzentriert Anträge auf Restitution ihrer Vermögenswerte, deren Darstellung hier die Familiengeschichte der Familie Fürstenberg beschließen soll. Zuvor jedoch wollen wir ihre jeweils persönlichen Geschichten nacherzählen, soweit wir sie rekonstruieren konnten. Wesentliche Grundlage dafür war ein Bericht, den Paul Fürstenberg dem Leo-Baeck-Institut zur Verfügung stellte (28). Die genealogischen Angaben sind – wie meist – durch Michael Schemann komplettiert worden.

Die Söhne des Egon Fürstenberg

Der Erstgeborene, Paul Philip Hans Fürstenberg, geboren am 30. Juli 1900, heiratete am 26. März 1929 in Berlin Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, geboren am 10. Januar 1905 in Berlin. Sie war von 1923 bis 1929 verheiratet gewesen mit Joseph Birnholz, und Sophie Birnholz, die Ehefrau von Gustav Fürstenberg (siehe Teil 3), war dessen Schwester. Er (Paul) verbrachte die Kriegszeit in England und führte dort die englische Niederlassung der Firma Reveillon gemeinsam mit seinem Bruder Ulrich. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und wanderte wie Ulrich nach Rhodesien aus, vermutlich, um der Internierung in England während des Krieges zu entgehen (Bild 35). In Rhodesien heiratete er am 25. September 1950 Edith Ida Baer, die am 10. Februar 1915 in Worms geboren worden war; seine erste Frau heiratete in England erneut im November 1943 einen bekannten Cricketspieler. Paul und Edith Fürstenberg wanderte in den 50er Jahren in die USA aus, wo sie am 22. November 1966 naturalisiert wurden und sich dann Forbes nannten. Paul Forbes starb am 8. November 1979 in Oakland (Kalifornien), seine Frau verstarb dort am 23. Dezember 2005. In seiner Vermögenserklärung von 1938 (siehe Teil 6) hatte Paul Fürstenberg darauf hingewiesen, dass er zwei minderjährige Kinder habe, Helga Pauline Birnholz (aus der ersten Ehe seiner Frau), geboren am 6. September 1924, und Stephan Egon Albert Fürstenberg, geboren am 18. Mai 1930 aus der Ehe mit Maria Birnholz. Mit seiner zweiten Frau hatte er ein weiteres Kind, dessen Identität bislang geschützt ist.

Bild 35: Biografische Daten der Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, insbesondere zu ihrem Internierungsaufenthalt auf der Isle of Men 1940-1941. Sie war zu diesem Zeitpunkt geschieden und heiratete 1943 erneut (Quelle: https://www.imuseum.im/search/collections/people/mnh-agent-99845.html)

Der zweitälteste Sohn, Werner Fritz Fürstenberg, geboren am 1. August 1903 in Berlin, zog 1933 nach Holland und heiratete dort am 29. Mai 1936 Käthe Ruth Smoszewski, geboren am 22. Mai 1913 in Posen (Bild 36). Werner leitet das Geschäft in Amsterdam, bis dieses – nach dem Einmarsch der deutschen Armee in den Niederlanden – konfisziert und von der Firma Reiwinkel übernommen wurde, die auch das Geschäft der Firma Rosenhain in Berlin übernommen hatte. Werner und Käthe Fürstenberg hatten zwei Kinder; ihre Tochter Madeline Rose wurde am 2. Oktober 1937 in Amsterdam geborenen, für ein weiteres Kind sind die Geburtsdaten nicht freigegeben. Die Eltern flohen 1942 in letzter Minute vor der Deportation aus Holland in die Schweiz und ließen ihre Tochter bei Freunden in Holland zurück. Sie wurden nach dem Krieg repatriiert und lebten in Amstel, wo Werner Fürstenberg am 15. Februar 1971 verstarb und seine Frau am 20. November 2003 in Amstelveen. Ihre Tochter Madeline war bereits am 3. März 1972 im Alter von nur 34 Jahre verstorben.

Bild 36: Werner Fritz Fürsternberg und seine Käthe Ruth, geborene Smoszewski (Quelle: Ancestry, Fotograph unbekannt um 1935).

Ulrich Ernst Rolf Fürstenberg, geboren am 15. August 1906 in Berlin, übernahm 1936 die Leitung einer Firma Rivoli in London, die 1941 durch deutsche V2-Bomben zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Aufgrund seiner Auswanderung wurde er seiner deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt. Er heiratete Hilde Eloise Klembt, geboren am 29. Juli 1915 in Bremen. Im Mai 1947 wanderte die Familie nach Rhodesien aus und nahm den Namen Ralph Ernest Forbes an. Ulrich und Hilde Forbes hatten einen Sohn, Roy Ralph Forbes, geboren am 17. Dezember 1947, der 1998 in Leeds, England verstarb. Irgendwann zwischen 1949 und 1988 wanderte die Familie nach Oregon, USA aus, wo Ulrich als Farmer tituliert wird. Ulrich Forbes starb in Turner, OR am 6. Juni 1988, seine Frau verstarb am 31. Oktober 2004 ebenfalls dort.

Der jüngste Sohn der Fürstenbergs, Hellmuth Joachim Moritz, geboren am 7. Juli 1908, wanderte 1937 nach Ägypten aus und leitete dort die Geschäfte der Firma Reveillon bis nach dem Krieg. Er heiratete Sylvia Low, geboren am 20. März 1904 in Vancouver, British Columbia, Kanada, die am 14. Dezember 1966 in Los Angeles, USA starb. Das Ehepaar hatte zwei Töchter: Rosanne J. Fürstenberg, geboren am 25. März 1929 in New York, die am 9. Juni 2008 dort verstarb, und Catherine, geboren 1930 in New York und im gleichen Jahr dort verstorben (?). Nach dem Tod seiner Frau 1966 zog Hellmuth Fürstenberg zurück nach Deutschland; er verstarb am 3. November 1971 in Frankfurt/Main.

Die rechtlichen und finanziellen Regelungen zur Wiedergutmachung 

Als die Fürstenberg-Söhne 1948 den Antrag auf Wiedergutmachung des durch die Nationalsozialisten erlittenen Unrechts stellten, war die rechtliche Regelung dafür noch keineswegs abgeschlossen. Erst am 16. August 1949 wurde das Gesetz Nr. 951 „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz)“ vom amtierenden Länderrat (den Bundestag gab es noch nicht) auf der Basis von zwei Proklamationen der Militärregierung von 1945 beschlossen. Danach hat „ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz …, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945) wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.

Das Gesetz hat in der Folge eine Reihe von Ergänzungen erfahren und wurde 1955 durch den Bundestag neu gefasst. Bis dahin waren insgesamt 418 Millionen DM ausgezahlt worden. Der finanzieller Gesamtaufwand für die Durchführung des Gesetzes in der neuen Fassung wurde auf 6,5 bis 7 Milliarden DM geschätzt, wovon bei Inkrafttreten der Novelle (1. April 1956) rund 1 Milliarde DM gezahlt sein sollten (35). Bis 2022 betrugen die Gesamtleistungen etwa 48 Milliarden Euro (als ca. 94 Milliarden DM), wovon (gerundet) 7 Milliarden auf Kapitalentschädigungen und 41 Milliarden auf Renten entfielen; 40 Milliarden Euro an Zahlungen gingen ins Ausland. Nahezu eine Milliarde DM wurde im Rahmen von Globalabkommen mit den europäischen Nachbarstaaten gezahlt. Insgesamt wurden von 1953 bis 1987 mehr als 4 Millionen Anträge auf Wiedergutmachung gestellt, von denen etwa die Hälfte positiv entschieden wurde und die übrigen je zur Hälfte abgelehnt oder zurückgenommen oder anderswie erledigt wurden (Daten aus (36)). Diese Zahl entspricht jedoch nicht der Anzahl der Antragsteller, die niedriger ist: Wie wir sehen werden, haben die vier Fürstenberg-Söhne insgesamt mehr als 30 gleichlautende Anträge in verschiedenen Wiedergutmachungsverfahren gestellt: gegen den deutschen Staat als Rechtsnachfolger des NS-Regimes, gegen die Firma Reiwinkel bzw. gegen Walter Koch, der die Firma Rosenhain übernommen hatten, und gegen den Verein Berliner Künstler, das das Haus am Lützowplatz erworben hatte; diese Anträge wurden in zwei Verfahren zusammengefasst (siehe unten).

Es versteht sich von selbst, dass bei der Vielzahl solcher Verfahren Irrtümer und Fehlentscheidungen nicht ausgeschlossen werden konnten, ebenso wie es versuchten und erfolgreichen Betrug von Antragstellern gegeben hat. Darüber hinaus ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass der „ideelle Wert“ eines erlittenen Verlustes mit der monetären Berechnung einer Sache (eines Hauses, eines Schmuckstückes etc.) nicht abgeglichen werden kann und immer zu Lasten des subjektiven Wertes gehen muss, da sich Emotionen nicht messen lassen. Die Wiedergutmachungsverfahren der Gebrüder Fürstenberg wurden daher, wie viele andere solcher Verfahren, vielfach mit erstaunlicher Härte auf Seiten der Beklagten geführt, mit Unterstellungen und Vorwürfen, die heute oft erschreckend wirken; davon weiter unten mehr.

Die beiden Wiedergutmachungsverfahren

Die Wiedergutmachungsakten (WGA) im Landesarchiv Berlin lassen sich grob in zwei Komplexe unterteilen:  1. Antrag auf Wiedergutmachung (Restitution) des Verlustes des elterlichen Hauses am Lützowplatz 9 (WGA-1), und 2. Antrag auf Restitution des Verlustes der Firma Rosenhain GmbH und der mit ihren verbundenen Immobilien (WGA-2). Auffallend ist dabei, dass eine Immobilie, Lützowstraße 60, in keinem der beiden Verfahren eine Rolle spielte, auch wenn die Familie dieses Grundstück bereits 1919 erworben hatte und darauf ein eindruckvolles Wohnhaus stand (Bild 37). 

Bild 37: Das Wohnhaus Lützowstraße 60 (rechts) sowie 61, 1938 kurz nach dem Umbau für die Herresplankammer. Das Wohnhaus 60 gehörte zur Hälfte der Familie Fürstenberg (s. unten, Bild 38) (Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte zur Heeresplankammer, digitalisiert: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/39ded8c4-abd5-4560-9b00-4ad0348fa79a/)

Bei Durchsicht der WGA-1-Akten fiel auf, dass ein Situationsplan der beiden Grundstücke Lützowstr. 60 und Lützowplatz 9 (Bild 38) darauf hinwies, dass es zum Grundstück an der Lützowstraße einen separaten Vertrag vom 28. Februar 1938 mit dem „Reichsfiskus (Heer) = Wehrkreiskommando III“ gegeben hatte, der zur „Auflassung“ und damit zum Verkauf des Geländes und Gebäudes am 29. Juni 1938 führte. Hier zog nach Umbau noch am 1. Oktober 1938 die Heeresplankammer ein. Zu diesem Vorgang gibt es keine Unterlagen, auch die Bauakte fehlt, aber das Fehlen eines Wiedergutmachungsantrags lässt darauf schließen, dass die Fürstenbergs diesen Vertrag noch ohne „Schaden“ abgewickelt haben und den Verkaufspreis, anders also als die beiden „Verkäufe“ zu WGA-1 und WGA-2, ohne Einschränkungen erhalten haben – er hat es ihnen möglicherweise die Flucht erst ermöglicht. Interessanterweise war das Gartengelände hinter diesem Haus Lützowstraße 60 wiederum Teil des Kaufvertrags mit dem Verein Berliner Künstler (VbK) vom 7. Dezember 1938 war. Nach Auffassung der Familie Fürstenberg war einzig ein 510qm großes Grundstück zwischen den beiden Grundstücken aus jeglicher Vereinbarung herausgefallen und wurde in WGA-1-Verfahren geltend gemacht.

Bild 38: Grundstückplan der Häuser Lützowstrasse 60 und 60a. Das Grundstück 60a (rot) war im Februar 1938 an das Deutsche Reich verkauft worden, das dazugehörige Gartenstück (blau) zusammen mit den Haus Lützowplatz 9 (blau, straffiert) im Dezember des gleichen Jahres
an den Verein Berliner Künstler (Quelle: Wiedergutmachungsakte im Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-05 Nr. 204/49, Blatt 80).

Der Verein Berliner Künstler (VbK)

Elf Jahre nach dem Krieg und 18 Jahre nach dem Erwerb des Hauses Lützowplatz 9 (früher: 5), 1956, legte der Verein in einem Bericht (in 7 Teilen) an seine Mitglieder (37) Rechenschaft ab über die Geschichte des Vereins, insbesondere in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Der 1841 gegründete Verein residierte von 1898 bis 1928 in der Bellevuestraße 3, war aber „aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten“ gezwungen, dieses Haus zu verkaufen. In einem Bieterstreit zwischen Wertheim, Eigentümer des Kaufhauses im Leipziger Platz nebenan, und der französischen Kaufhauskette Lafayette, die in Berlin Fuß fassen wollte, wurde dem Verein von Wertheim 3,1 Millionen Reichsmark für das Haus geboten (davon 1 Million als Hypothek auf das Grundstück) und der Kauf besiegelt. Von diesem Geld erwarb der VbK die Villa des Barons Erich von Goldschmidt-Rothschild in der Tiergartenstraße 2a (Bild 39), die umgebaut und für die Zwecke des Vereins eingerichtet (Gesamtkosten: etwa 700.000 RM) und 1931 eingeweiht wurde. Das verbleibende Vermögen, immerhin noch 1,5 Millionen RM, erlaubte dem Verein üppige Ausstellungstätigkeit in den nächsten Jahren, bis nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 sich alles änderte: NSDAP-Mitglieder übernahmen den Vorstand (1935), jüdische Vereinsmitglieder mussten den Verein verlassen, und der Plan für die Nord-Süd-Achse der neuen Hauptstadt Germania des Albert Speer (38) machte allen klar, dass auch das Haus Tiergartenstraße 2 nicht mehr lange bleiben konnte. In dieser Situation, so der Bericht, „wendet sich die jüdische Familie Fürstenberg (Egon Sally Fürstenberg) an den Verein und bietet dem Verein ihr Haus Lützowplatz 9 an. … Der Verein … geht auf das Anerbieten ein …und erwirbt nach einer vierteljährlichen Verhandlung das angebotene Haus …“ für 370.000 RM am 10 Dezember 1938 – Ende des 6. Teils des Berichtes. 

Bild 39: Das Künstlerhaus in der Bellevuestraße 3 (links) (Foto von 1900, Fotograf unbekannt) und das Vereinshaus ab 1928 in der Tiergartenstraße 2A (Foto von 1935, Fotograf: Walter Köster, Landesarchiv Berlin Nr. F 290 (08) Nr. 0152454 mit freundlicher Genehmigung).

Was hier aussieht wie ein freundliches Entgegenkommen auf das Angebot der Fürstenbergs ist in Wahrheit ein Ausnutzen der Notlage der Familie – die vierteljährliche Verhandlung wird also eher dem Zwecke gedient haben, den Preis zu drücken, wussten doch alle Beteiligten (insbesondere der aus Parteimitgliedern bestehende Vorstand) im Frühjahr 1938 um die systematische Arisierung jüdischer Geschäfte und Immobilien. Dass die Familie Fürstenberg sich aktiv an der Suche nach einem Käufer beteiligt hat, ist dagegen sehr wahrscheinlich, das hat sie auch im Zuge der „Entjudung“ der Firma Rosenhain gemacht (s. oben, Teil 6). Später (33) wird aus dem freundlichen „Anerbieten“ sogar noch die historisch falsche Behauptung, dieses Angebot sei vom zum VbK gehörenden ausserordentlichen Vereinsmitglied Egon Sally Fürstenberg gekommen (s. oben, Teil 6), schamloser geht es kaum. An anderem Ort und nach dem Krieg wird dieses „Angebot“ sehr wohl in Anführungszeichen gesetzt (39).

Im 7. Teil des VbK-Berichtes geht es dann um das Restitutionsverfahren selbst, das 1949 begann – der „große Umbruch des Reiches“ und der „furchtbare Krieg“ dazwischen kommen sehr kurz weg, die 100-Jahr-Feier seiner Existenz 1941 unter dem Hakenkreuz überhaupt nicht – sie finden sich in anderen Dokumenten ihrer Zeit (40). Dieser 7. Teil fasst die Auseinandersetzungen zwischen dem VbK und den Fürstenberg-Söhnen bis 1956 zusammen und endet 1956; der VbK wird noch weitere drei Jahre warten müssen, bis ein Urteil des Landgerichts Berlin am 6. November 1959 den Streit beendet – und er wird dabei die meisten seiner initial erhobenen Ansprüche und Forderungen verlieren. Einen finalen Teil des Berichtes gibt es nicht, zumindest nicht im Archiv der Akademie der Künste (38).

Literatur

35. https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesentschädigungsgesetz

36. Bundesministerium der Finanzen: Wiedergutmachung – Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. Im Internet: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2018-03-05-entschaedigung-ns-unrecht.pdf

37. Archiv der Akademie der Künste (AdK): Archivalien-Nr. VereinBK Nr. 27 (Manuskript der Chronik von Arthur Hoffmann von 1956), und Nr. 713 (Schreiben des Rechtanwaltes Graul vom Dezember 1952).

38. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Transit Buch-Verlag 1984.

39. Martin-M. Langner: Der Verein Berliner Künstler zwischen 1930 und 1945. In: Verein Berliner Künstler: Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Berlin, Nikolaische Verlagsbuchhandlung 1991 (hier: Seite 110).

40. Die Kunst im Deutschen Reich, 5. Jahrgang, Folge 8/9 (August/September) 1941 (Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. München), S. 182-187.

Judenhäuser in Tiergarten-Süd

Bild: Blick in den Blumeshof vom Schöneberger Ufer aus. Foto (Postkarte) von 1903 aus der Sammlung Ralf Schmiedecke mit freundlicher Genehmigung. Das 2. Haus auf der linken Seite ist die Nr. 15.

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Am 16. Oktober 2023 wurde eine Webseite freigeschaltet, die zu besuchen sich lohnt für alle, die sich für jüdische Geschichte, insbesondere für Berliner jüdische Geschichte interessieren, und auch diejenigen, die dies vielleicht nicht besonders wichtig finden, können hier lernen, wie man Geschichte hier und heute sichtbar machen kann, erzählen kann, ohne auf trockenes Lehrbuchwissen zurückzugreifen und auf längst und oft Gehörtes. 

Die Webseite heißt www.zwangsräume.berlin und erzählt einen vergessenen und/oder verdrängten Aspekt der Vertreibung der Juden aus Deutschland, ihrer Heimat, durch sukzessive Zusammenlegung in Häusern in der Stadt, die Juden gehörten und die lange von der „Entjudung“ verschont blieben zu genau diesem Zweck: „Ab 1939 musste fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Berlins ihre Wohnungen verlassen und umziehen. Jüdinnen:Juden wurden als Untermieter:innen in Wohnungen eingewiesen, in denen bereits andere jüdische Mieter:innen lebten. Zumeist waren die Zwangswohnungen der letzte Wohnort vor ihrer Deportation und Ermordung“

Die Arbeitsgruppe „Zwangsräume“ des Vereins „Aktives Museum“ um den Historiker Christoph Kreutzmüller, der schon 2012 das verdienstvolle Projekt über die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit veröffentlicht hatte (1), identifizierte in Berlin mindestens 791 solcher Häuser, die auf dieser Webseite genannt – und auf einem Stadtplan lokalisiert – werden, von denen bislang 32 ausführlicher recherchiert, mit Fotos versehen und optisch und graphisch eindrucksvoll erfahrbar gemacht wurden – darunter sieben im Lützowviertel zwischen Kurfürstenstraße und Landwehrkanal, Flottwellstraße und Budapester Straße. Unter den 32 aufgearbeiteten Beispielen von Judenhäusern ist auch das Haus Blumeshof 15, dessen Geschichte und Vorgeschichte wir mehrfach berührt hatten (mittendran vom 15. Juli 2021, vom 6. Januar 2023 und vom 7. September 2023) (Bild).

Aber wie immer gibt es noch Platz für Veränderungen und Verbesserungen – drei Anmerkungen:

1. Blumeshof 15 (heute Kluckstraße 3) existierte natürlich schon länger, vor dem Aufkauf durch die jüdische Gemeinde (1918) war es im Besitz der jüdischen Familie (Witwe) Gerson, die es vermutlich der Gemeinde verkauft/geschenkt hat. Auch das ist Teil der Geschichte.

2. Lützowstraße 48-49 war in den Jahren ab 1933 ein jüdisches Altersheim, worüber wir hier berichtet haben (mittendran von 8. Mai 2022 und vom 28. August 2023), die Häuser wurden 1933 gekauft von der jüdischen Gemeinde, und auch hier wurde „verdichtet“, d.h. zwangsweise wurden Bewohner zusammengelegt aus anderen Heimen und von auswärts. Am Ende waren es etwa 180 Bewohner, mehr als ursprünglich vorgesehen.

3. Als das Reichsicherheitshauptamt (RSHA) die Immobilie (Nr. 48 + 49) 1940 übernehmen wollte, wurde das Altersheim Lützowstraße 48/49 am 10. November 1940 aufgelöst, und 100 bis 125 Bewohner (genauso ungenau steht es in den Akten) wurden in ein Altersheim nach Pankow (Berliner Straße 120/121) verlegt und später von dort deportiert und ermordet. 

Die übrigen Heimbewohner wurden auf folgende Adressen verteilt: In die Lützowstraße 77 (heute: 78) kamen 22 Bewohner und 3 Angestellte; in die Lützowstraße 67 verlegt wurden 15 Bewohner und 1 Angestellte; in die Derfflingerstraße 17 kamen 14 Bewohner und 2 Angestellte; und in der Kluckstraße 27 und in der Lützowstraße 72 wurden 3 bzw. 1 „Externer“ als Untermieter untergebracht. Dies macht zusammen 55 Heimbewohner und 6 Angestellte. Deren Wohn-und Lebensbedingungen und weiteres Schicksal ist bislang weitgehend ungeklärt. Es ist also noch viel zu tun.

1. Christoph Kreutzmüller: Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930–1945, Berlin 2012 (2. Auflage Berlin 2013).