Von Tiergarten nach Theresienstadt

Leben und Werk der Malerin Julie Wolfthorn

Ein Beitrag von Marc-Thomas Bock

Hier, im südlichen Tiergarten-Kiez, erinnert ein zerkratzter Stolperstein an sie, ein anderer, weiter entfernt, vor einem Haus in Vitte auf der Insel Hiddensee: Die Malerin Julie Wolfthorn, 1864 gebürtig in der westpreußischen Kopernikus-Stadt Thorn an der Weichsel, jüdischer Abkunft und schon früh der Malkunst leidenschaftlich verfallen, lebte 30 Jahre lang, von 1912 bis zu ihrer Deportation 1942 in das KZ Theresienstadt, in dem heute nicht mehr existenten Wohnhaus in der Kurfürstenstraße 50.

Stolperstein vor dem Haus Kurfürstenstr. 50 Foto G. Hulitschke

Im Jahre 1864 geboren und im Kaiserreich sozialisiert, hatte Wolfthorn mit massiven gesellschaftlichen Vorurteilen zu tun: Eine Frau, die sich als Künstlerin etablieren wollte, wurde – wie andere ihrer Zunft – noch bis weit in die Weimarer Republik hinein, etwa auf der Insel Hiddensee in der dortigen Künstlerinnenkolonie von Einheimischen und Provinzredakteuren als „Malweib“ diffamiert. Andererseits war Wolfhorn selbst eher konservativ, was durch ihre Haltung gegenüber der Malerin Paula Modersohn-Becker schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Künstlerdorf Worpswede zum Ausdruck kam. Modersohn-Becker wurde von Wolfthorn despektierlich als „Hosendame“ bezeichnet. 

Julie Wolfthorn in ihrem Atelier, noch in der Bülowstr. 90
Foto Public domain

Wer sich aber – wie Wolthorn – der Rolle als nicht erwerbstätige Ehefrau verweigerte, galt im spießigen Milieu wilhelminischer Behaglichkeit als seltsam, wenn nicht gar infantil und wurde entsprechend diffamiert. Wenn eine Malerin darüber hinaus auch noch Zutritt zu den einschlägigen Kulturinstitutionen und Berufsverbänden suchte, traf sie auf den Standesdünkel rein männlicher Akademierepräsentanz, vor deren gestrengen Augen wohl nicht immer das Können entschied, sondern das Geschlecht.

Das wohl bekannteste Bild von Julie Wolfthorn „Mädchen mit blaugrünen Augen“ (1899)
Bild Public domain

Und schließlich war da der im Kaiserreich durchaus schon virulente Antisemitismus alldeutscher Prägung, der zur verdrucksten Ablehnung der Künstlerin als Jüdin führte, während ihre künstlerische Leistung als Porträtmalerin schon lange Anerkennung genoss: So ließ etwa die von ihr im Jahre 1929 dargestellte Marta Baedecker, spätere Leiterin des gleichnamigen Verlages, Wolfthorns Signatur durch Umwenden der Leinwand an dieser Stelle verschwinden. Unter den Nazis dann wurde die bekannte und erfolgreiche Malerin, die schon um die Jahrhundertwende mit ihren Titelblatt-Illustrationen etwa für die „Zeitschrift „Jugend“ Bekanntheit erlangt hatte, mit Berufsverbot belegt. Gemeinsam mit ihrer Schwester, der Schriftstellerin Luise Wolf, einer Schriftstellerin, musste sie sich im Oktober 1942 in einer sogenannten Sammelstelle einfinden und wurde in das KZ Theresienstadt deportiert, wo die Malerin nach zwei Jahren verstarb.    

Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 4)

Im vierten Teil der Familiengeschichte der Blumenreichs geht es um den 1880 geborenen Walter Blumenreich, der sich ab 1919 aus uns bislang nicht bekannten Gründen Walter Blonck nannte. Es gibt nur wenige Informationen zu ihm.

Walter Blumenreich (1880-1942)

Walter Blumenreich wurde 15. Mai 1880 in Berlin geboren; sein Vorname variierte in der Schreibweise (Walter, Walther), so dass wir uns entschieden haben, ihn einheitlich Walter zu nennen, wie es in seiner Geburtsurkunde geschrieben steht. Wie seine Geschwister hatte er mehrere „Mütter“, die sich nacheinander um ihn kümmerten – genau genommen vier -, aber er scheint den steten Wechsel der Bezugspersonen (1884 Tod der leiblichen Mutter, 1886 erneute Heirat des Vaters, 1890 Scheidung, 1891 erneute Heirat, 1899 Suizid der Stiefmutter, 1902 erneute Heirat, 1906 Tod des Vaters) im Alter zwischen 4 und 26 Jahren dramatischer erlebt haben als der jüngere Leo (mittendran vom 11. August 2024) und der ältere Arnhold (mittendran vom 20. Juli 2024), wie wir sehen werden.

Auffällig ist, dass er wie seine beiden Brüder dem Vorbild des Vaters folgte und zunächst eine Ausbildung als Buchhändler machte – nur das wo und wann können wir nicht rekonstruieren, aber das ist bei den meisten Ausbildungsgängen so, es sei denn, sie finden an Universitäten statt. Wir finden Walter Blumenreich erstmals im Berliner Adressbuch im Jahr 1905: Der 25-jährige Walter Blumenreich war Geschäftsführer und Gesellschafter der „Berliner Verlag GmbH“, Lützowplatz 3; im Jahr darauf: Schöneberger Ufer 32, und von 1908 bis 1910: Verlagsbuchhandlung Walter Blumenreich, Kurfürstenstr. 3.  Von 1911 bis 1918 schließlich wohnte er in der Genthiner Str. 13, in der heute Begas-Winkel genannten Privatstraße. Die Villa K hat heute die Nr. 31K und ist die ehemalige Villa des Künstler-Ehepaars Begas-Parmentier (mittendran vom 6. April 2022). Buchhandlung und Verlag residierten in der Linkstraße 29. Dann verschwand Walter Blumenreich aus dem Adressbuch, war aber noch bis 1927 im Handelsregister als Buchhalter der Firma Brack & Keller in der Linkstraße registriert.

Der Kunstbuchverlag Carl Brack & Keller GmbH mit einem Stammkapital vom 70.000 Mark (1905 erhöht auf 90.000 Mark) war am 24. Februar 1904 von den Kaufleuten Willy Wollank und Albert Heinrich Goldschmidt übernommen und im Handelsregister eingetragen worden (HRB 2458). Nach mehreren Änderungen der Geschäftsleitung und Prokura trat am 6. Dezember 1916 der Verlagsbuchhändler Walter Blumenreich der Firma bei und wurde zum Vorstand gewählt. Im Handelsregister wurde mit Datum vom 27. August 1919 eine Änderung des Nachnamens von Blumenreich in Blonck notiert (1).

Die Namensänderung

Laut seiner Geburtsurkunde wurde ihm am 29. Juli 1919 gestattet, den Familiennamen Blonck zu führen; er war zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt. Einen Grund nennt die Urkunde nicht (Bild 1), sondern verweist auf eine Polizeiverfügung vom 15. Juli 1919 mit der Geschäftsnummer 178 B. T I 3.19. Also haben wir uns auf die Suche gemacht nach diesem Erlass in der Hoffnung, dort einen Grund für diese Namensänderung zu finden. Im Landesarchiv Berlin sind Akten zugänglich, die sich sowohl mit individuellen Fällen von Anträgen auf Namensänderungen in Berlin (2) wie auch mit den rechtlichen Voraussetzungen und Regelungen bei Namensänderungen generell befassen (3).

Bild 1. Beischrift auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich (Quelle: Ancestry).

Eine Akte, in der der individuelle Fall der Namensänderung „Blumenreich zu Blonck“ dokumentiert wurde, haben wir nicht gefunden. Aber von den vielen Akten, in denen diese Anträge zwischen 1812 und 1945 gesammelt wurden, fehlen sehr viele, nicht nur die von Walter Blumenreich – möglicherweise sind diese Akten an anderen Orten ausgewertet worden, z.B. als es nach 1933 den Nazis darum ging, Juden zu identifizieren, die sich durch Taufe und Namensänderung assimiliert und weniger angreifbar gemacht hatten.

Namensänderungen waren aus folgenden Gründen möglich: Wenn Namen für deutsche Zungen unaussprechlich waren, z.B. polnische und russische Namen, oder wenn sie lächerlich waren (z.B. Dummer, Fick); jüdische Namen konnten auf Antrag geändert werden. Die meisten Namensänderungen wurden aus rechtlichen Gründen (bei Adoptionen, Scheidungen etc.) bewilligt. 

Beantragten Juden die Änderung des Familiennamens, kam es offenbar des Öfteren zu uneinheitlichen Regelungen, so dass sich der Innenminister 1900 veranlasst sah, in allen diesen Fällen darauf zu bestehen, dass diesen Anträgen „nicht ohne meine vorher einzuholende Ermächtigung Folge gegeben werde“ (3). Letztendlich haben wir den Grund für Walter Blumenreichs Änderung seines Nachnamens nicht gefunden, sondern können nur vermuten, dass dies aufgrund der antisemitischen Stimmung im Deutschen Reich erfolgte, die sich seit der sogenannten „Gründerkrise“ 1873 vor allem als „akademischer Antisemitismus“ nicht nur im Deutschen Reich breit machte (4). Aber der weitere Verlauf der Lebensgeschichte von Walter Blumenreich/Blonck lässt auch die Vermutung zu, dass die Namensänderung mit psychischen Problemen zu tun hatte.

Die schwere Nervenerkrankung

Von 1919 -1922 wohnte Walter Blonck noch in der Genthiner Str. 13, ab 1923 findet er sich nicht mehr im Berliner Adressbuch unter eigener Adresse. Die entscheidenden Hinweise auf seinen Verbleib ergaben sich stattdessen aus der Handelsregister-Akte des Kunstbuchverlages Carl Brack & Keller GmbH, wo er noch bis 1927 als alleiniger Verantwortlicher geführt wurde (1). 

Die von ihm jährlich zu führende und an das Handelsregister einzureichende Liste der Gesellschafter wurde für das Jahr 1921 nicht ausgeführt, sondern mit Begleitschreiben vom 14. Februar 1922 an das Amtsgericht Berlin-Mitte zurückgesandt, wonach sich der Geschäftsführer Walter Blonck seit 5 Monaten, d.h. seit Oktober 1921 „infolge einer überaus schweren Nervenerkrankung in einem Sanatorium befindet“ und eine Wiederherstellung der Gesundheit noch nicht abzusehen sei. Eine Mahnung des Gerichtes vom April 1922 beantwortete stattdessen sein Bruder Leo Blumenreich, Geschäftspartner des Kunsthandels Paul Cassirer (s. diese Webseite vom 19. August 2024) unter Verweis auf den inzwischen 6-monatigen Aufenthalt seines Bruders im Sanatorium Waldhaus in Nikolassee. Auch für 1922 schickte Leo das Formular zurück an das Amtsgericht, und für 1923 fragte das Amtsgericht vorsorglich bei Leo Blumenreich nach dem Gesundheitszustand, der sich im Oktober 1923 noch nicht gebessert hatte. 

Bürokratische Mühlen sind nicht nur schwer in die Gänge zu setzen, und sie sind auch schwer zu stoppen, wenn sie einmal in Bewegung kommen: So kam es im März 1924 zu einer Ordnungsstrafe (20 Mark) und der Androhung weiterer Kosten, falls der Meldepflicht nicht nachgekommen werde; diesmal (Mai 1924) antwortete Bruder Arnold, da Leo Blumenreich im Monat zuvor einen schweren Autounfall überlebt hatte, infolgedessen seine Frau verstorben war. In einem Schreiben an das Amtsgericht vom 17. November 1924 schlug Arnold vor, die Firma zu liquidieren, da „leider keine Hoffnung auf Genesung vorhanden ist“. Es dauerte dann noch zwei weitere Jahre, bis die Industrie- und Handelskammer zu Berlin am 30. Oktober 1926 dem Amtsgericht mitteilte, dass die Firma Carl Brack & Keller „im Jahre 1921 [den Geschäftsbetrieb eingestellt] hat. Vermögen besitzt die Firma nicht. Wir bitten, die Löschung der Firma im Handelsregister von amtswegen herbeizuführen„. Dies erfolgte mit Datum vom 31. Januar 1927.

Zehlendorf-Nikolassee, Wittstock (Dosse), Berlin-Buch, Brandenburg (Havel)

Das Sanatorium Waldhaus, heute eine Privatklinik für internistisch-psychosomatische und psychiatrische Behandlung in Zehlendorf-Nikolassee (Potsdamer Chaussee 69), war 1903 von dem Arzt und späteren Sanitätsrat Dr. med. Emil Nawratzki (1867–1938) zusammen mit seinem Kollegen Dr. Max Arndt (1871-1956) als „Heilanstalt für Gemütskranke“ gegründet und eröffnet worden (Bild 2). Sie ist im Berliner Adressbuch von 1904 bis 1936 als „private Heilanstalt“ aufgeführt. Die Bettenzahl im Jahr 1906 betrug 136, 67 für Männer und 69 für Frauen (5). Die jüdischen Eigentümer verkauften die Klinik 1936 zwangsweise an die Innere Mission der Evangelischen Landeskirche Berlin, vertreten durch Pastor Dr. Theodor Wenzel, die dort eine evangelische Kur- und Pflegeanstalt für Nervenkranke auf gemeinnütziger Grundlage einrichtete; im 2. Weltkrieg wurde die Klinik Lazarett.

Bild 2: Foto des Sanatorium Waldhaus in Steglitz-Nikolassee (Postkarte um 1910, gemeinfrei).

Es ist anzunehmen, dass auch die jüdischen Patient*innen in der Klinik nach der Machtergreifung der Nazis 1933 nicht unbehelligt blieben, aber spätestens mit Kriegsbeginn wurde Walter Blonck vermutlich in das Pflegeheim nach Wittstock (Dosse) verlegt, einer der Provinzialanstalten für Irre und Geisteskranke aus Berlin (Bild 3) (6). Wie man der Tabelle entnehmen kann, waren im Jahr 1925 etwa 5000 Pfleglinge, Alte und Kranke (Sieche) in Anstalten in Berlin untergebracht, und etwa die gleiche Anzahl in Anstalten außerhalb Berlins, davon etwa 300 in Wittstock. Hier verliert sich wieder die Spur von Walter Blonck, Krankenakten werden regelhaft nur 30 Jahre aufbewahrt.

Bild 3: Tabelle der pflegerischen, psychiatrischen und geriatrischen Patient*innen in den verschiedenen Pflegeanstalten Berlins und Brandenburgs (Quelle: (6)).

Es fand sich dann doch noch ein weiterer Hinweis auf seinen Verbleib im Gedenkbuch des Bundesarchivs zu den Opfern des Nationalsozialismus (7). Danach wurde der Patient „Walter Blonk“ im Rahmen der sogenannten T4-Sonderaktion von Wittstock nach Berlin-Buch in die dortigen Heilanstalten verlegt. In Buch wurden die psychiatrischen Patienten aus den umliegenden Anstalten gesammelt und dann nach Brandenburg (Havel) deportiert, wo sie direkt nach Ankunft ermordet (vergast) wurden; für Walter Blonck ist der 17. Juli 1940 als Tag der Deportation und Ermordung festgestellt (Bild 4). 

Bild 4: Walter Blonk in der Datenbank des Gedenkbuchs des Bundesarchivs (aus: (7)).

T4 steht für die Adresse Tiergartenstraße 4 (siehe mittendran am 3. Februar 2023), die Villa, in der leitende NSDAP-Mitglieder und eine Reihe Mediziner ab 1939 die Ermordung (euphemistisch „Euthanasie“ = „schöner Tod“ genannt) aller psychisch und körperlich behinderten Patienten in Deutschland beschlossen hatten. Die T4-Sonderaktion im Jahr 1940 führte alle jüdischen Patienten in Deutschland in einige wenige Institutionen zusammen – für Berlin und Brandenburg in Berlin-Buch – von wo aus die Deportationen erfolgten. In der „Landespflegeanstalt Brandenburg a. d. Havel“, einem umgebauten Zuchthaus, wurde ausprobiert, was in der Folge in vielen psychiatrischen Kliniken im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten exekutiert wurde: in Brandenburg wurden 9.000 Patienten, insgesamt wurden mehr als 70.000 kranke Menschen ermordet (8).

Literatur

1. Akte Brack & Keller im Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 342-02 Nr. 126.

2. Akte Namensänderungen speziell im LAB: A Pr. Br. Rep. 30, Nr. 20585 ff.

3. Akte Namensänderungen allgemein im LAB: A Pr. Br. Rep. 30 Tit. 203 Nr. 20720.

4. Wikipedia-Artikel zum Antisemitismus, speziell der Abschnitt zum Antisemitismus im Kontext der Reichsgründung 1871.

5. Hans Laehr, Hrg. Die Anstalten für Psychisch-Kranke: In Deutschland, Deutsch-Österreich, der Schweiz und den Baltischen Ländern. 6. Auflage, Georg Reimer Verlag, Berlin 1907.

6. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 1927 (Jahrgänge 1876 bis 1934 in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin: https://digital.zlb.de/viewer/metadata/16308258/)

7. Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945 (https://bundesarchiv.de/gedenkbuch/#list).

8. Henry Friedlander. Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: Götz Aly, Hrg. AKTION T4 1939-1945.  Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Edition Hentrich, Berlin 1989, Seite 34-44.

Jüdische Gewerbebetriebe (2) Versandhaus A. Blumenreich (Teil 2)

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Herkunft Arnold Blumenreichs – und seiner Geschwister – vorgestellt, insbesondere den berühmt-berüchtigten Vater Paul Philipp Perez Blumenreich und seine vier Ehen mit insgesamt 14 Kindern (JUELE vom 22. Juni 2024). Wir haben uns gefragt, was bei so einer chaotischen Kindheit aus den vier Kindern der ersten Ehe geworden sein mag. Hier und heute also die Geschichte des ältesten Sohnes und seiner Familie, nachdem zwei Geschwisterkinder, die vor ihm geboren worden waren, noch im Kleinkindalter verstarben.
Laut Geburtsurkunde hieß er Arnold, aber er schrieb sich später im Leben gelegentlich, wenngleich nicht immer Arnhold (Bild 1) – wir werden ihn einheitlich Arnold nennen.

Bild 1: Aus der Bücherei des Arnhold Blumenreich (aus: Sammlung Ex Libris, Datenbank der Sammlungen des Museums für Angewandte Kunst, Budapest, Ungarn. Künstler: Felix Willmann, Berlin)

Von Wien nach Berlin

Arnold Blumenreich, geboren am 6. November 1875 in Berlin, heiratete am 3. Dezember 1905 in Wien Ilse Mautner, Tochter des Hauptschullehrers Julius Jakob Mautner, geboren am 23. August 1877. Im diesem Jahr 1877 waren die Eltern von Arnold, der Schriftsteller Paul Blumenreich und seine (erste) Frau Adele, geborene Fränkel, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war, mit Arnold nach Wien umgezogen, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung wurde und vor allem Theaterstücke verfasste; drei Jahre später (Arnold war 5 Jahre alt) zog die Familie wieder zurück nach Berlin. Als er neun Jahre alt war (1885), starb seine Mutter an Tuberkulose. Ein Jahr später (1886) heiratete sein Vater erneut. Diese Ehe hatte nur vier Jahre Bestand, sie wurden 1890 geschieden, Arnold war jetzt 15 Jahre alt. Zuvor bereits hatte sein Vater, vermutlich in Wien, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899) kennengelernt, sie wurde 1891 seine dritte Frau.

Es ist völlig unklar, wo Arnold seine Schulzeit verbracht hat (vermutlich größtenteils in Berlin), wo er seine Buchhändler-Lehre gemacht hat, und wann und wo er die Ilse Mautner kennengelernt hat, wahrscheinlich in Wien. Jedenfalls haben sie dort 1905 in der jüdischen Gemeinde geheiratet. Im Jahr 1906 kam ein Sohn, Victor, zur Welt, und im Jahr 1911 eine Tochter, Gerda. 1919 zogen Victor und Gerda mit den Eltern nach Berlin. Victor Tod wurde im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens 1960 dokumentiert : er starb Neufchatel (Schweiz) „gegen Ende des 1. Weltkriegs … sein Tod wird mit dem Zeitpunkt 31. Dezember 1923 festgestellt“ (1).

Im Jahr 1908 eröffnete Arnold Blumenreich in Wien, in der Webgasse 12, das Wiener Kunsthaus Ges.m.b.H., das bis 1923 in Wien nachweisbar ist, jedoch mit Unterbrechungen. Darüber hinaus war Arnold Blumenreich Gesellschafter eines Kunst- und Musikalienhandels in Wien, und meldete 1916 in Wien „Blumenreich´s Versandhaus Ges.m.b.H.“ an; eine gleichnamige Fima eröffnete er in Budapest. Dieser Teil seiner Biografie ist in der exzellenten Master-Arbeit von Victoria Louise Steinwachs (2) gut recherchiert und dokumentiert. Auch die vielfältigen Aktivitäten des Versandhauses (Kauf, Verkauf, Vermittlung von Kunst etc.) sind bei Steinwachs gut dokumentiert und werden hier nicht behandelt (Bild 2).

Bild 2: Visitenkarte des Arnold Blumenreich (aus: Der Querschnitt, Sommerheft (Heft 2) 1922).

Den Beitrag von Bethan Griffiths „Jüdische Gewerbebetriebe rund um die Potsdamer Straße: Versandhandel Arnhold Blumenreich“ über den Aufstieg und die anschließende Auflösung des Geschäftes nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wollen wir hier nicht wiederholen, sondern verweisen auf die Veröffentlichung hier vom 17. Februar 2023. Diese Geschichte endet mit dem folgenden Absatz: 

Für das Ehepaar wurde es in Berlin immer bedrohlicher. Im Mai 1939 wurde Arnhold aus unbekannten Gründen verhaftet und im Polizeigefängnis Mitte inhaftiert. Er und Ilse wurden schließlich am 28.10.1942 aus ihrer Wohnung in der Solinger Str. 6 nach Theresienstadt deportiert. Die furchtbaren Bedingungen des Konzentrationslagers überlebte Ilse nur ein halbes Jahr. Arnhold starb ein Jahr nach seiner Deportation. 

Die weitere Geschichte wirft einige Fragen auf, denen wir nachgegangen sind: Warum und wie wohnte die Familie in der Solinger Straße 6? Was geschah mit den Kunstgegenständen? Was wurde aus Gerda Blumenreich, der Tochter? Gab es nach dem Krieg ein Wiedergutmachungsverfahren, und wie ging es aus?

Judenhäuser in der Solinger Straße

In der Levetzowstraße 7/8 in Berlin-Moabit befand sich seit 1914 eine der größten Synagogen Berlins. Die Nationalsozialisten richteten dort 1941 ein Sammellager für Juden ein, die sie anschließend in den Osten deportierten (3) – und drumherum gab es eine Vielzahl von sogenannten „Judenhäusern“, in denen die von außerhalb Berlins oder aus anderen Stadtteilen zusammengezogenen Juden bis zur – geplanten – Deportation ab dem Jahr 1939 einquartiert wurden. Die Solinger Straße 6 war so ein Judenhaus in der Nähe der Synagoge, neben einigen anderen in der gleichen und den umliegenden Straßen (Bild 3). Natürlich wohnten besonders viele Juden in der Umgebung der Synagoge, und viele dieser Häuser hatten ursprünglich jüdische Besitzer – sie standen nach der Machtergreifung des Nazis unter Zwangsverwaltung, auch das Haus Solingerstraße 6. Es gehörte einem J. Kaufmann aus Riga und wurde ab 1939 von einer Charlotte Meurer im Auftrag der Treuhandstelle Ost verwaltet. Arnold Blumenreich arbeitete zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Buch- und Kunsthändler, sondern als „Wohnungsberater“ der Jüdischen Krankenversicherung (JKV) für 190 Reichsmark (RM) monatlich. Die Miete für die 4-Zimmer-Wohnung war 130,30 RM im Monat. In der gleichen Wohnung war weiterhin eine jüdische Familie (Ernst und Elfriede Süßmann und ihre Tochter Franziska) untergebracht (4). Der Vormieter der Wohnung, Heymann Grossmann, war im Oktober „ausgewandert“.

Bild 3: Sogenannte „Judenhäuser“ in der Umgebung der Synagoge in der Levetzowstraße, insbesondere in der Solinger Straße. Screen-Kopie der Webseite „Zwangsräume“ (5).

Die Webseite „Zwangsräume“, die Judenhäuser in Berlin dokumentiert (5), nennt wenigstens 16 Umzüge an diese Adresse nach 1939. Eine dieser Umzüge war der der Familie Arnold Blumenreich, die nach 1939 nicht mehr unter ihrer alten Adresse (1938: Schöneberger Ufer/Großadmiral von Koester-Ufer 55; 1939: Kluckstraße 13) im Berliner Adressbuch gelistet war. Sie zog zum 28. November 1940 in die Solinger Straße 6, 2. Stock, nachdem sie zuvor offenbar kurzzeitig schon in der Solinger Straße 3 gewohnt hatte, ein weiteres Judenhaus mit mindestens 13 Einzügen seit 1939. Durch diese Zwangsumzüge war, wie die Nazi-Presse lauthals verkünden konnte, das Tiergartenviertel „judenfrei“ und bereit zum großen Umbau für „Germania“, den Monster-Stadtplan von Albert Speer (6).

Wir erfahren all dies aus den Akten, die das Finanzministerium angelegt hatte (4), um Eigentum und Vermögen der Juden zu erfassen und zu konfiszieren. Auf der Grundlage eines entsprechenden anti-jüdischen Gesetzes musste alle Juden in Deutschland eine gesonderte Vermögenserklärung gegenüber dem Finanzamt abgeben – die Erklärung der Familie Blumenreich (Arnold, Ilse und Gerda) listet alle Einrichtungsgegenstände der Wohnung auf, die sie in der Solinger Straße bewohnten (s. unten) – Kunstgegenstände waren nicht darunter. 

Da jüdische Galeristen bereits vor 1939 ihre Geschäfte aufgeben mussten, aus den Kunst- und Kunsthändler-Verbänden ausgeschlossen wurden und die von ihnen gehandelte Kunst oftmals als „entartet“ gebrandmarkt worden war, wurde die Kunst versteigert; die „entartete“ ging ins Ausland, um Devisen einzufahren für den geplanten Krieg, und wenn sie dem nationalsozialistischen „Zeitgeist“ entsprach, an einheimische Sammler. Wenn sich nicht zuvor Göring oder Hitler die Werke selbst unter den Nagel rissen für ihre Privatsammlungen (7).

Arnold und Ilse hatten einen Ehevertrag zur Gütertrennung vom 24. März 1906, also noch in Wien vereinbart und im Notariatsregister Breslau am 12. August 1911 hinterlegt. Die Vermögenserklärungen von Arnold und Ilse Blumenreich (vom 16. Oktober 1942) sind darüber hinaus deswegen spärlich, weil sie den gesamten Hausrat 1939 ihrer Tochter Gerda als Aussteuer übertragen hatten und bis auf weniges Persönliches, vor allem Kleider, nichts mehr besaßen. Sollten sie noch Geld gehabt haben, so haben sie dies sicherlich für die Reise und Unterbringung in Theresienstadt ausgeben müssen – die Nazis ließen sich auch dies von den Deportierten bezahlen, da ihnen ja ein „Altersruhesitz“ versprochen wurde – welch ein Zynismus. Als Gerda ihre Vermögenserklärung abgab (am 24. November 1942), waren ihre Eltern bereits „abgereist“: Sie wurden mit dem 68. Alterstransport am 28. Oktober 1842 nach Theresienstadt deportiert (8) – ob sie danach noch mal Kontakt mit ihnen hatte, ist zweifelhaft, beide starben innerhalb eines Jahres. Aber die geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte dem Oberfinanzpräsidenten die erfolgreiche Beschlagnahmung des Vermögens weiterer 100 Juden nebst deren Abschiebung nach Theresienstadt in einem geschäftsmässigen Schreiben melden (Bild 4).

Bild 4: Schreiben der Gestapo vom 30. Oktober 1942 an den Oberfinanzpräsidenten zum Vollzug des 68. Alterstransportes (aus (8)).

Gerda Blumenreich

Gerda Blumenreich, am 16. März 1911 in Wien geboren, war 22 Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Sie war unverheiratet, hat noch bei ihren Eltern gewohnt, und war laut Informationen aus den Akten des BLHA (9), von Beruf Fürsorgerin und ständige Helferin in der Synagoge in der Levetzowstraße. In ihrer Vermögenserklärung gibt sie weitere Informationen: Sie arbeitete zuletzt bei der Jüdischen Kulturvereinigung zu Berlin e.V. für 200 RM netto im Monat, bewohnte die 4-Zimmer-Wohnung nach der „Abwanderung“ ihrer Eltern nach Theresienstadt allein, zahlte dafür 135 RM Miete, hatte aber einen weiteren Untermieter aufgenommen – möglicherweise war die Familie Süßmann ebenfalls bereits deportiert worden.

Das Wohnungsinventar wurde Finanzamt auf eine Gesamtwert von 1239 RM geschätzt, wobei bei vielen Positionen vermerkt wurde: defekt, alt, beschädigt, zerbrochen etc. Dies wurde später im Wiedergutmachungsverfahren als „übliche Praxis“ der Auktionshäuser bezeichnet, um den Preis zu drücken und so auf jeden Fall die Gegenstände zu verkaufen – das Finanzamt war schließlich nicht an Möbeln interessiert, sondern an Geldwerten. Die Versteigerung von etwa 60 Positionen am 23. März 1943 listet auch die vielen Käufer des Blumenreichschen Hausrates. Der auf der Auktion erzielte Gesamtverkaufspreis von 3097,00 RM reduzierte sich um 309,70 RM als Gebühr für die Versteigerung, und 203,10 RM für den Transport des Hausrats, so dass am 6. April 1943 nur 2584,20 RM an die Finanzkasse des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg überwiesen wurden. Auch das Eigentum der Familie Süßmann kam zur Versteigerung und erbrachte (netto) 387,10 RM. Als das Geld beim Finanzamt einging, war Gerda Blumenreich schon mit dem 23. Osttransport am 29. November 1942 als Nr. 1007 von 1021 anderen nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich unmittelbar nach Ankunft umgebracht worden (10) (Bild 5).

Bild 5. Gerda Blumenreich auf der Deportationsliste des 23. Osttransports (aus: 10).

Aber es gab weitere Interessenten an dem wenigen Geld: Die Hausverwaltung veranlasste unmittelbar nach Auszug von Gerda Blumenreich umfängliche Renovierungen der Wohnung, deren Gesamtrechnung sich auf 1093,46 RM belief. Diese Kosten machten sie gegenüber dem Finanzamt am 29. September 1943 geltend, und dann begann das, was man wohl eine Schacherei nennt. Das Finanzamt monierte, dass eine Gesamtrenovierung nach zwei Jahren Wohnens nicht angemessen sei, da bei Wohnungsbezug keinerlei Mängel notiert worden seien, sondern die Wohnung laut Mietvertrag renoviert übernommen worden sei. In der Vermögenserklärung hatte Arnold Blumenreich demgegenüber erhebliche Mängen in den hinteren Räumen beanstandet. Ausnahmsweise bot das Finanzamt die Übernahme von einem Drittel der Kosten an, und erhöhte schließlich auf 50%, nachdem die Hausverwaltung nachgelegt und über erhebliche Mietschäden durch ungenehmigte Untervermietung geltend gemacht hatte. Und so überwies das Finanzamt am 30. November 1944 vom Verkaufserlös des Mobiliars einen nicht unerheblichen Teil (510,76 RM) wieder zurück in den Geldkreislauf – 6 Monate vor Kriegsende. Die darüber hinaus gehenden vielfachen persönlichen wie dienstlichen Bereicherungen Einzelner wie auch unterschiedlicher Ämter und Behörden am Vermögen der Juden ist gut dokumentiert und diskutiert, z.B. bei Dinkelaker (3).

Das Wiedergutmachungsverfahren

Ein Antrag auf Wiedergutmachung (1) wurde am 19. März 1959 vom Bruder von Ilse Blumenreich geborene Mautner gestellt, Dr. Leo Viktor Mautner, der rechtzeitig vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich nach Columbien ausgewandert war – er war, als er den Antrag stellte, 85 Jahre alt und machte in seinem Antrag wegen seines hohen Alters auf eine gewissen Dringlichkeit aufmerksam. Das hinderte den Justizapparat in Deutschland jedoch nicht, zunächst die bürokratischen Mühlen mahlen zu lassen: Er musste nicht nur nachweisen, dass er der rechtmäßige Erbe seiner Schwester ist (was wegen der fehlenden Informationen über den Verbleib von Gerda schwierig war), er musste auch den Inhalt der Wohnung nachweisen, „da Hausratsgegenstände in der letzten Wohnung Berlin NW 87, Solinger Str. 6 nicht vorgefunden worden (sind)„. Er musste, als die Versteigerungsliste auftauchte, widerlegen, dass die Wohnungseinrichtung alt, defekt, zerbrochen etc. war – eine eidesstattliche Versicherung war dazu unzureichend, es musste vom Gericht ein Gutachten eingeholt werden, dass dies bestätigte und dass den wahren Wert des Mobiliars zum Zeitpunkt der Konfiszierung schätzte – es kam auf einen Wiederbeschaffungswert von 16.727 DM. Erst als das Gericht durchblicken ließ, dass es der Argumentation des Antrag folgen würde, bewegte sich das Finanzamt und bot am 13. Februar 1963 als Kompromiss die Zahlung von 10.000 DM – das RM:DM-Verhältnis lag in all diesen Verfahren bei etwa 10:1. Und erst nochmaliges Insistieren der Antragsteller und des Gerichtes führten schließlich am 1. März 1965 zum Vergleich: Zahlung von 13.364 DM – aber da war der Antragsteller bereits verstorben, und sein Sohn führte das Verfahren zu Ende. 

Literatur

1. Wiedergutmachungs-Akten (WGA) im Landesarchiv Berlin:  B Rep. 025-02 Nr. 22127/59.

2. Victoria Louise Steinwachs: Arnold Blumenreich. Ein Beitrag zur Erforschung jüdischen Kunsthandels in Berlin im Dritten Reich. Masterarbeit Kunstgeschichte, FU Berlin, ohne Jahr (2016).

3. Philipp Dinkelaker: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Metropol Verlag Berlin 2017.

4. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich Arnold, 36A (II) 3700.

5. Webseite „Zwangsräume“ des Aktien Museums: https://zwangsraeume.berlin/de

6. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania – Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Berlin, Transit Buchverlag 1986.

7. Günther Haase: Die Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring. Kunstsammlung Göring. Eine Dokumentation. Quintessenz-Verlag Berlin 2000

8. Transportliste des 68. Alterstransport Theresienstadt. Arolsen Datenbank Doc ID: 127207457: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207457

9. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich, Gerda, 26A (II) 3695

10. Transportliste des 23. Osttransport in das Konzentrationslager Auschwitz. Arolsen Datenbank Doc ID 127207555: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207555.

Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 1)

Auch für diese Geschichte gibt es eine Vorlage von Beth Griffiths (mittendran am 18.  Dezember 2022, diese Webseite vom 17. Februar 2023), und auch diese Geschichte – in zwei Teilen – erzählt zunächst die familiäre Herkunft des Arnold Blumenreich, bevor im Teil 2 sein Schicksal und das seines Versandhandels nach der Machtergreifung der Nazis thematisiert wird. Der Bezug zum Lützow-Viertel ist dabei zunächst eher zufällig, wenn die Familie Blumenreich immer wieder mal für kurze Zeit hier wohnte: in der Potsdamer Straße 66 von 1891-1893, in der Dennewitzstraße 19 in den Jahren 1903 und 1904. Erst seine Söhne Arnold, Leopold und Walter hatte ihre Wohnsitze dauerhaft im Lützow-Viertel.

Der Vater, Paul Philipp Blumenreich

Paul Philipp Perez Blumenreich war der Sohn des Optikers (Optirist, Optikus) Lesser Blumenreich in Berlin, über dessen Herkunft das Judenbürgerbuch der Stadt Berlin (1) keine Auskunft gibt: er muss also um oder nach 1848 nach Berlin gekommen sein, als Juden keinen Bürgerbrief mehr beantragen mussten – auch wenn das volle Bürgerrecht damit noch lange nicht erreicht war. Das Adressbuch von Berlin kennt Lesser Blumenreich im Jahr 1849 zum ersten Mal (Oranienburger Straße 12). Er blieb – mit Unterbrechung einzelner Jahre, in denen er umzog – bis 1876 als Optiker im Adressbuch, war aber laut einem Heiratsdokument seines Sohnes auch 1891 noch am Leben – sein Sterbedatum ist nicht bekannt. Er war verheiratet mit Doris Thiras, die 1873 verstarb, und am 17. November 1849 kam ihr (einziges?) Kind zur Welt. Und das hatte anderes im Sinn, als in die handwerklichen Fußstapfen des Vaters zu treten. 

Bekannt geworden ist Paul Blumenreich als Schriftsteller. Schreiben konnte er offenbar, für die Tagespresse für die Vossische Zeitung – nach eigenen Angaben nur kurzfristig -, für Das kleine Journal (2), für die Gartenlaube; er gab die Zeitschrift Montag heraus und führt ein Literarisches Bureau. Erstmals im Adressbuch erschien er als Redakteur Paul Blumenreich 1874 (Alte Jacobstraße 136), wenn er nicht identisch war mit dem Buchhändler und Antiquar Paul Blumenreich (Dresdnerstr. 66) in den Jahren 1872 und 1873 – das wäre bei dieser Familienherkunft ein sehr früher Beginn einer intellektuellen Karriere, vor Erreichen der Volljährigkeit mit 24 Jahren. 

Paul Philipp Perez Blumenreichs berufliches und familiäres Leben reichte für mehr als eine Person, und genau so hat er es auch organisiert: Das fängt schon damit an, daß er sich im Schriftsteller- und Theaterleben Paul Blumenreich nannte, private Urkunden und Dokumente aber meist mit PhilippBlumenreich unterschrieb. In der Geburtsurkunde seines Sohnes Walter von 1880 geriet diese Konzept offenbar kurzfristig in Unordnung, als er bei seiner Unterschrift seinen Vorname Paul durchstrich und durch Philipp ersetzte. Er heiratete 1891 unter dem Namen Philipp Blumenreich. Und als der Schriftsteller Paul Blumenreich aus den USA zurückkam (s. unten), lebte er – zumindest für kurze Zeit – unbeschadet des Haftbefehls in Berlin unter dem Namen Philipp Blumenreich in Wien. Auch seine Sterbeurkunde im Standesamtsregister weist ihn als Philipp Blumenreich aus (Bild 1).

Bild 1: Unterschriften-Korrektur (Paul gestrichen, Philipp ergänzt) auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich 1880.

Paul Blumenreich war Schriftsteller, auch wenn er 1869 als Schauspieler am Leipziger Stadttheater angefangen hatte. Er schrieb Theaterstücke am laufenden Band, die in Berlin, Wien und anderswo aufgeführt wurden, zumeist Komödien und Glossen, nicht selten in – manchmal nicht-autorisierter – Übernahme oder Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen (3). Und außerdem publizierte er unter verschiedenen Pseudonymen: Hellmuth Wilke, Jörg Ohlsen und Georg Berwick.

Blumenreich war auch Mitbegründer des 1895 im Berliner Stadtteil Charlottenburg gegründeten Theater des Westens (Bild 2)ebenso wie „Erfinder“ und Direktor des Theaters Alt-Berlin auf der Berliner Gewerbeschau von 1896, das unter dem Protektorat des Vereins für die Geschichte Berlins von 1869 stand und mit einem finanziellen Desaster endete. Details dazu waren in der Tagespresse in Berlin, Wien und anderswo Thema kontinuierlicher Diskussion, an die er sich laufend beteiligte. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Betrugs kommentierte er mit einer 68-seitigen „Festschrift“ von 1897 (4), mit umfangreichem, interessantem, wenngleich nicht in allen Fällen gesichertem Detailwissen, das in der Stadt einen Skandal auslöste. 

Bild 2: Postkarte (Ausschnitt, von 1900) des Theaters des Westens in der Kantstrasse.

Die von ihm erwartete, nicht unbedingt befürchteten Beleidigungsklagen blieben aus, der Vorwurf des Betrugs aber blieb. Im Laufe der Jahre sammelte er Gerichtsurteile: Im Oktober 1883 verlor er eine Beleidigungsklage als Chef des Kleinen Journals (60 Mark Strafe), im Januar 1884 wurde eine Klage wegen unerlaubten Nachdrucks eingestellt, im Juni 1885 war er bei einer Klage wegen falscher Anschuldigung in einem Artikel unauffindbar. Nach dem Scheitern des Theaters Alt-Berlin wurde er im Oktober 1896 steckbrieflich gesucht wegen Betruges, war für einige Zeit verschwunden, stellt sich dann, um im darauffolgenden Jahr (1897) erneut mit einem Steckbrief gesucht zu werden, da er nach dem Urteil und einer abgelehnter Revision verschwand; dazu unten mehr. 

Philipp Blumenreich heiratete am 15. März 1873 Adele Fränkel aus Breslau (1850 – 16. Mai 1885 Berlin). Das Ehepaar hatte neun Kinder, von denen allerdings fünf noch im Kindesalter starben: Benjamin (1873-1877), Oskar (1874-1875), Arnold (1875-1943), Elsa (1877-1956), Hans (1878-1878), Walter (1880-1940), Dorothea (1881-1882), Erich (1883-1885), und Leonhard (1884-1932). Im Jahr 1877 zog die Familie nach Wien, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung war, Feuilletons schrieb, aber vor allem Theaterstücke verfasste (siehe oben). Gelegentlich wurde er hier mit einem Doktor-Titel geziert, aber das mag dem österreichischen Hang zu klangvollen Titeln geschuldet sein. Drei Jahre später zog die Familie wieder nach Berlin, und Paul Blumenreich arbeitete als Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Kleines Journal“. In den folgenden Jahren (1881 bis 1888) wechselte die Familie nahezu jährlich die Wohnadresse, bevor sie nach sieben Umzügen in acht Jahren für drei Jahre in der Potsdamer Straße 66 verblieben – vermutlich war dies der wachsenden Kinderzahl geschuldet. Ein halbes Jahr nach der Geburt des Jüngsten, Leonhard, starb Adele Blumenreich geborene Fränkel im Alter von nur 35 Jahren, vermutlich an Tuberkulose. 

Der Witwer mit vier minderjährigen Kindern (drei Söhnen und eine Tochter) im Alter von 6 Monaten, 5 Jahren, 8 Jahren und 15 Jahren heiratete ein zweites Mal am 21. November 1885: die Lehrerin Gutchen Gertrud Lewissohn (1856-1903). Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit: ein Mädchen noch am Tag der Geburt (19. Juni 1887), ein Junge (Ludwig) nach 5 Wochen (15. Juli 1888). Zum Zeitpunkt des Todes des zweiten Kindes war der Aufenthalt des Vaters nicht zu ermitteln, wie die Geburtsurkunde bezeugt. Diese Ehe wurde am 11. Oktober 1890 geschieden. Gertrud Blumenreich geborene Lewissohn starb am 20. März 1903 in der „staatlichen Irrenanstalt Dalldorf“ in Berlin – ob ihre Krankheit mit dem unglücklichen Verlauf ihrer Ehe zusammenhing oder Grund für das Scheitern der Ehe war, entzieht sich unserer Kenntnis.

Der Vater, mit immer noch vier minderjährigen Kindern zwischen 5 und 20 Jahren heiratete erneut am 30. Juni 1891: Franziska Essenther, geboren am 2. April 1845, fing in Wien mit der Schriftstellerei an, erarbeitete sich einen tadellosen Ruf als frühe und engagierte Frauenrechtlerin, und erhielt für ihre schriftstellerische Tätigkeit 1886 einen Preis. Sie muss in Wien Paul Philipp Blumenreich kennengelernt haben, ging sie doch 1888 nach Berlin und bekam noch im gleichen Jahr ein Kind, Illa, geboren am 14. August 1888, für das Blumenreich die Vaterschaft bestätigte (Bild 3). Zwei weitere Kinder (Hertha, geboren am 5. September, Julius, geboren am 21. Januar 1891) wurden in Berlin geboren, bevor sie 1891 heirateten. Zwischen 1892 und 1894 lebte die Familie wohl in Stuttgart.

Bild 3: Geburtsurkunde von 1888 der Illa/Ella, dem ersten Kind aus der dritten Ehe. Zu diesem Zeitpunkt waren Philipp Blumenreich und Franziska Essenther noch nicht verheiratet, sie trug noch den Nachnamen ihres ersten Mannes (Kapff), von dem sie wenige Monate zuvor geschieden worden war; das Kind bekam daher den Nachnamen Kapff. In der Beischrift von 1891 rechts bestätigt Philipp Blumenreich, dass er die Franziska Kapff geheiratet habe und dass das Kind seinen Namen tragen könne, er also die Vaterschaft anerkenne.

In den folgenden 5 Jahren hatte Paul Blumenreich das Theater Alt-Berlin im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung (Bild 4) zunächst aufgebaut und dann in den Konkurs geschickt, hatte deswegen die geplante Direktion des Westend-Theaters an der Kantstraße verloren und war 1897 wegen Veruntreuung und Betrug angeklagt und verurteilt worden. Er floh, nachdem die Revision verworfen worden war, im gleichen Jahr in die USA; unklar ist, ob ihn dabei einige seiner Kinder begleiteten, wie manche Zeitungen zu berichten wussten. In der US-Volkszählung vom Januar 1900 jedenfalls waren zu diesem Zeitpunkt vier Kinder bei ihm: die 23-jährige Elsa und der 16-jährige Leo aus der ersten Ehe, und Illa/Ella mit 12 Jahren und Siegfried mit 9 Jahren aus der dritten Ehe (Bild 5).

Bild 4: Liebig-Sammelkarte zur Gewerbeausstellung 1896. In verschiedenen Serien dieser Karten werden Szenen aus der Berliner Geschichte dargestellt, die im Theater Alt-Berlin auf der Ausstellung aufgeführt wurden; hier die Überbringung der Nachricht von der Besetzung Berlins durch russische Truppen 1760 an Friedrich den Großen.

Paul Blumenreich bekam eine Anstellung beim Deutschen Theater in New York, schickte Geld nach Berlin, und unbestätigten Meldungen in der Presse zufolge schickte seine Frau ihm 1899 (zwei) Kinder nach New York City, reiste aber selbst nicht aus Angst vor der Seereise; sie hatte in dieser Zeit einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Als er seine Anstellung in New York verlor, schrieb er nach Berlin, dass er Geld brauche. Sie erhöhte ihren schriftstellerischen Output und schickte Geld in die USA, als er aber schrieb, er habe „Rückenmarkschwindsucht“, war dieser Schicksalsschlag offenbar zu viel für sie: sie nahm sich im November 1899 das Leben (5). 

Bild 5: US-Census vom Januar 1900 für New York: Gelistet ist die Familie Blumenreich mit Vater und 4 Kindern.

Blumenreich kam im Juli 1900 aus den USA nach Wien, wurde als Redakteur eines illustrierten Wiener Wochenblattes angestellt, und heiratete im August 1902 in Wien ein viertes Mal: Ernestine (Erna) Gruber (1870-1941). Gemeldet war er unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich, Schriftsteller, wohnhaft Lerchenfelderstr. 44. Als er Unterlagen in Berlin beantragte, wurde die Berliner Polizei auf seinen Aufenthalt in Österreich aufmerksam. Auf Antrag wurde er von der österreichischen Polizei verhaftet und ausgeliefert. Er kam für neun Monate ins Gefängnis und im Januar 1902 wieder auf freien Fuß. Auch im Gefängnis Plötzensee schrieb er weiterhin Romane und Theaterstücke.

Aus dieser vierten Ehe stammen zwei Kinder: Hans, geboren 1902 und Rudolph, geboren 1903. Über die Witwe des Schriftstellers wissen wir wenig: Sie war bis 1910 noch in Berlin gemeldet und wohnte in der Altonaer Str. 13 im Gartenhaus. Ausweislich einer weiteren Quelle (6) ging es ihr nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht besonders gut, so dass sie einen Antrag auf Unterstützung bei der Schiller-Stiftung in Weimar stellte, die gemäß ihrer Satzung nicht nur Literaturpreise an Schriftsteller vergab, sondern auch finanzielle Unterstützung an notleidende Schriftsteller und ihre Angehörigen – ob ihr diese gewährt wurde ist bislang nicht bekannt. 1910 war sie offenbar nach Wien zurückgekehrt und lebte von 1916 bis 1941 an der gleichen Adresse (Rechte Wienzeile 117), dann verschwand sie aus dem Adressbuch. 

Das ließ Böses ahnen: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 setzte sich dort die Judenverfolgung und -vertreibung durch die Nationalsozialisten in noch brutalerer Weise fort, und es stand zu befürchten, dass Ernestine (Erna) Gruber nach Theresienstadt oder in ein anderes KZ deportiert worden war. Eine Check der Arolsen-Datenbank der Holocaust-Opfer (7) ergab keinen Hinweis darauf, und in der Zeitungsdatenbank ANNO des österreichischen Nationalarchivs fand sich schließlich eine Notiz vom 16. April 1942 im Völkischen Beobachter, der Zeitung der NSDAP, wonach sie am 6. September 1941 verstorben sei. Diese amtliche Notiz fragte nach dem Verbleib ihres Sohnes Rudolf Blumenreich, der als Erbe gesucht wurde. Beide, Hans und Rudolf waren rechtzeitig nach Amerika ausgewandert.

Paul Philipp Perez Blumenreich starb 3. Juli 1908 in Berlin – unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich. Er hinterließ seine Frau und sechs Kinder aus zwei seiner vier Ehen, von denen die vier aus der ersten Ehe versuchten, in Berlin Fuß zu fassen. Ob ihnen dies mit so einer chaotischen Kindheitsgeschichte geglückt ist, werden wir im nächsten Teil beschreiben – die Chancen dafür standen allerdings schlecht.

Literatur

1. Jacob Jacobson:  Die Judenbürger-Bücher der Stadt Berlin. Walter de Gruyter & Co. Verlag, Berlin 1962.

1. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, 6. Auflage. Reclam Verlag, Leipzig 1913, Seite 266.

2. Das kleine Journal“ – Berliner Wochenschrift für Theater, Film und Musik“ (1878 bis 1935).

4. Paul Blumenreich: Das Theater des Westens. Festschrift und Epilog. Selbstverlag (Berlin) 1896 (digital in der Zentralen Landesbibliothek, ZLB Berlin).

5. Neues Wiener Tagblatt vom 30. Oktober 1899, Seite 3. Alle biografischen Informationen, mit all ihren Tatsachen, Spekulationen und Widersprüchlichkeiten, sind den Berliner Tageszeitungen Berliner Börsenblattund Berliner Tagblatt und Handelszeitung im Deutschen Zeitschriftenarchiv und den Österreichischen, insbesondere Wiener Tageszeitungen im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO entnommen.

6. http://www.thilo-reffert.de/minima/skizzen/paul-blumenreich_biographische-miniatur

7. https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/suche-online-archiv/

Stolpersteine für die Familie Kubatzky

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,

am Montag, 24. Juni 2024 werden in den Bezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte zehn Stolpersteine für sechs Geschwister und Angehörige der Familie Kubatzky verlegt. Die Geschwister wurden in Pommern geboren, kamen aber letztlich alle nach Berlin.

Wir gedenken mit der Verlegung von Stolpersteinen der Geschwister
Wanda Kubatzky (verheiratete Dumke), überlebte den Holocaust in Deutschland (Mischehe)
Anna Kubatzky (verheiratete Budzislawski), nach Auschwitz deportiert und ermordet
Max Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
Hermann Julius Kubatzky (Flucht mit Familie nach Palästina)
Hedwig Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
Johana Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet

In Tiergarten Süd werden Stolpersteine für folgende Personen verlegt:

Um 14 Uhr  werden in der Lützowstraße 87 drei Steine
für Hermann Julius Kubatzky, Rosa Kubatzky, geb. Arndt und deren Sohn Herbert Kubatzky
verlegt. Die Flucht nach Palästina in den 30er Jahren rettete ihnen das Leben. Sie haben den Holocaust überlebt.

Zu Hermann, Julius Kubatzky ist Folgendes bekannt:
Er wurde am 12. Dezember 1878 in Ratzebuhr, dem ehemaligen Deutsch Krone, geboren. Seine letzte bekannte Meldeadresse in Deutschland ist: Berlin, Lützowstrasse 87. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn ist er am 17. Dezember 1937 nach Haifa / Israel ausgewandert. Eventuell war er noch in den USA bevor er spätestens 1957 wieder nach Deutschland kam (seine Frau verstarb 1944). Letzte bekannte Adresse ist die Iranische Strasse 6 in Berlin (Jüdisches Altersheim).
Hermann Julius Kubatzky war 2x verheiratet: mit Rosa Arndt (geboren 1872 gestorben 1944) und davor mit Elly Rosenthal.

Um 15 Uhr werden in der Pohlstraße 64 zwei Steine
für Hedwig Kubatzky und ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt.

Hedwig Kubatzky wurde am 27. November 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Johana Kubatzky lebte 1939 noch in Pommern. Sie wurde am 15. August 1942 vom Sammellager in der Berliner Gipsstraße nach Riga deportiert und dort ermordet.

Über Hedwig Kubatzky ist das Folgende bekannt:
Geboren wurde sie am 13. Januar 1875 in Zippnow, dem ehemaligen Deutsch Krone.
Sie arbeitete als Schneiderin / Modistin. Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse: bis 1940 wohnte sie in der Ludendorffstrasse 64 (heute Pohlstrasse). Sie musste ihre Wohnung aufgeben und ihre letzte bekannte Adresse in Berlin befindet sich in einem sogenannten „Judenhaus“ in der Turmstrasse 9.
Deportation am 27. November 1941 nach Riga, wo sie am 30. November 1941 ankam. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, wurden im Wald von Rumbula erschossen.

Über Johana Hanna (Hannchen) Kubatzky wissen wir Folgendes:
Geboren wurde sie am 16. August 1873 in Zippnow, im ehemaligen Deutsch Krone.

Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse findet sich im Mai 1939 (Deutsche Minderheiten-Volkszählung) in Ratzebuhr, im ehemaligen Deutsch Krone. Sie muss zwischen 1939 und 1942 zu ihrer Schwester nach Berlin gezogen sein.

Die letzte bekannte Adresse in Berlin ist Gipsstrasse 12 a (Sammellager).

Am 15. August 1942 wurde sie mit dem 18. Osttransport nach Riga deportiert – Ankunft am 18. August in Riga. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, aber als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden, wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Wald von Bikernieki getrieben und dort erschossen. Johana wurde auf der Liste als nicht arbeitsfähig vermerkt.

Vergessene Orte; Blumeshof

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,
viele von Ihnen werden Prof. Dr. Paul Enck schon kennen.
Er beschäftigt sich mit der Geschichte unseres Kiezes und gibt sein Wissen in Vorträgen weiter.

Am Mittwoch, 24.1.2024 wird Paul Enck über eine heute vergessene Straße erzählen. Die Straße „Blumeshof“ verband die Lützowstraße mit dem Schöneberger Ufer und war eine Parallelstraße zur Kluckstraße. Dort, wo heute die Stadtteilbibliothek, der Nachbarschaftstreff, das Kiezzentrum Villa Lützow, die Jugendherberge, das Gebäude des Familienministeriums stehen, wurde vor 100 Jahren großbürgerlich gewohnt.

Das Gebäude Blumeshof Nr. 15 wurde von den Nationalsozialisten zu einem „Judenhaus“ erklärt, in dem jüdische Nachbarn zwangsweise zusammengepfercht wurden.
Die Straße wurde im 2. Weltkrieg zerstört und auf Beschluss des Senates zurück gebaut.
Paul Enck präsentiert anhand alter Fotos und Pläne Wissenswertes zur Geschichte der Straße und seinen BewohnerInnen.

Mi 24.1.2024, um 19 Uhr
im Projektraum des Nachbarschaftstreffs Lützowstr. 27,
„Vergessene Orte: Blumeshof“

Gedenktafel für Erich Reiss

Am 2. November kamen rund 30 Menschen in die Wichmannstr. 9 in Tiergarten, dem früheren Wohnort des jüdischen Verlegers Erich Reiss. Nach der Begrüßung durch Nora Hogrefe, Aktives Museum, sprach Sarah Wedl-Wilson, Staatssekretärin für Kultur, in Vertretung des Kultursenators ein Grußwort. Sie betonte die Bedeutung des verlegerischen Wirkens von Erich Reiss, der am 1. Februar 1887 in Berlin geboren wurde. Erich Reiss verlegte Autoren wie Egon Erwin Kisch, Gottfried Benn und viele andere. Nach kurzer Haft im KZ Sachsenhausen konnte er durch Engagement der schwedischen Autorin Selma Lagerlöf und anderer 1939 in die USA emigrieren, wo Erich Reiss 1951 starb.

Sarah Wedl-Wilson, Staatssekretärin für Kultur, beim Grußwort

Anschließend sprach Georg Friedrichs, Vorstandsvorsitzender der Gasag AG. Friedrichs bekannte sich zum Engagement des Gasversorgers gegen Antisemitismus. Die Gasag ist ein wichtiger Förderer der Berliner Gedenktafeln.

Georg Friedrichs, Vorstandsvorsitzender der Gasag AG

Die Laudatio hielt der Berliner Verleger Dieter Beuermann mit sehr viel Wissen über die Persönlichkeit von Erich Reiss, der seinem Freund Gottfried Benn sogar dessen antisemitische Ausfälle nachsah. Erich Reiss sei ein mutiger Verleger gewesen, der sein Vermögen dafür einsetzte, Autoren und Bücher zu verlegen, die ihm am Herzen lagen. Dieter Beuermann geriet ins Schwärmen über kunstvoll illustrierte Bücher, die heute begehrte Raritäten seien. Erich Reiss habe Weltliteratur verlegt.

Der Verleger Dieter Beuermann hielt die Laudatio auf Erich Reiss

Gäste der Gedenktafel-Enthüllung in der Wichmannstraße

Die Gedenktafel für Erich Reiss

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 7

Bereits vor dem Tode von Sally Fürstenberg im Juni 1942, spätestens aber nach seinem Tod zogen seine vier Söhne in alle Welt und brachten sich vor den Nazis in Sicherheit. Während und am Ende des Krieges waren sie mit ihren Familien in Ägypten, England, Rhodesien, der Schweiz und den USA, und sie stellten bereits 1948 gemeinsam und konzentriert Anträge auf Restitution ihrer Vermögenswerte, deren Darstellung hier die Familiengeschichte der Familie Fürstenberg beschließen soll. Zuvor jedoch wollen wir ihre jeweils persönlichen Geschichten nacherzählen, soweit wir sie rekonstruieren konnten. Wesentliche Grundlage dafür war ein Bericht, den Paul Fürstenberg dem Leo-Baeck-Institut zur Verfügung stellte (28). Die genealogischen Angaben sind – wie meist – durch Michael Schemann komplettiert worden.

Die Söhne des Egon Fürstenberg

Der Erstgeborene, Paul Philip Hans Fürstenberg, geboren am 30. Juli 1900, heiratete am 26. März 1929 in Berlin Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, geboren am 10. Januar 1905 in Berlin. Sie war von 1923 bis 1929 verheiratet gewesen mit Joseph Birnholz, und Sophie Birnholz, die Ehefrau von Gustav Fürstenberg (siehe Teil 3), war dessen Schwester. Er (Paul) verbrachte die Kriegszeit in England und führte dort die englische Niederlassung der Firma Reveillon gemeinsam mit seinem Bruder Ulrich. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und wanderte wie Ulrich nach Rhodesien aus, vermutlich, um der Internierung in England während des Krieges zu entgehen (Bild 35). In Rhodesien heiratete er am 25. September 1950 Edith Ida Baer, die am 10. Februar 1915 in Worms geboren worden war; seine erste Frau heiratete in England erneut im November 1943 einen bekannten Cricketspieler. Paul und Edith Fürstenberg wanderte in den 50er Jahren in die USA aus, wo sie am 22. November 1966 naturalisiert wurden und sich dann Forbes nannten. Paul Forbes starb am 8. November 1979 in Oakland (Kalifornien), seine Frau verstarb dort am 23. Dezember 2005. In seiner Vermögenserklärung von 1938 (siehe Teil 6) hatte Paul Fürstenberg darauf hingewiesen, dass er zwei minderjährige Kinder habe, Helga Pauline Birnholz (aus der ersten Ehe seiner Frau), geboren am 6. September 1924, und Stephan Egon Albert Fürstenberg, geboren am 18. Mai 1930 aus der Ehe mit Maria Birnholz. Mit seiner zweiten Frau hatte er ein weiteres Kind, dessen Identität bislang geschützt ist.

Bild 35: Biografische Daten der Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, insbesondere zu ihrem Internierungsaufenthalt auf der Isle of Men 1940-1941. Sie war zu diesem Zeitpunkt geschieden und heiratete 1943 erneut (Quelle: https://www.imuseum.im/search/collections/people/mnh-agent-99845.html)

Der zweitälteste Sohn, Werner Fritz Fürstenberg, geboren am 1. August 1903 in Berlin, zog 1933 nach Holland und heiratete dort am 29. Mai 1936 Käthe Ruth Smoszewski, geboren am 22. Mai 1913 in Posen (Bild 36). Werner leitet das Geschäft in Amsterdam, bis dieses – nach dem Einmarsch der deutschen Armee in den Niederlanden – konfisziert und von der Firma Reiwinkel übernommen wurde, die auch das Geschäft der Firma Rosenhain in Berlin übernommen hatte. Werner und Käthe Fürstenberg hatten zwei Kinder; ihre Tochter Madeline Rose wurde am 2. Oktober 1937 in Amsterdam geborenen, für ein weiteres Kind sind die Geburtsdaten nicht freigegeben. Die Eltern flohen 1942 in letzter Minute vor der Deportation aus Holland in die Schweiz und ließen ihre Tochter bei Freunden in Holland zurück. Sie wurden nach dem Krieg repatriiert und lebten in Amstel, wo Werner Fürstenberg am 15. Februar 1971 verstarb und seine Frau am 20. November 2003 in Amstelveen. Ihre Tochter Madeline war bereits am 3. März 1972 im Alter von nur 34 Jahre verstorben.

Bild 36: Werner Fritz Fürsternberg und seine Käthe Ruth, geborene Smoszewski (Quelle: Ancestry, Fotograph unbekannt um 1935).

Ulrich Ernst Rolf Fürstenberg, geboren am 15. August 1906 in Berlin, übernahm 1936 die Leitung einer Firma Rivoli in London, die 1941 durch deutsche V2-Bomben zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Aufgrund seiner Auswanderung wurde er seiner deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt. Er heiratete Hilde Eloise Klembt, geboren am 29. Juli 1915 in Bremen. Im Mai 1947 wanderte die Familie nach Rhodesien aus und nahm den Namen Ralph Ernest Forbes an. Ulrich und Hilde Forbes hatten einen Sohn, Roy Ralph Forbes, geboren am 17. Dezember 1947, der 1998 in Leeds, England verstarb. Irgendwann zwischen 1949 und 1988 wanderte die Familie nach Oregon, USA aus, wo Ulrich als Farmer tituliert wird. Ulrich Forbes starb in Turner, OR am 6. Juni 1988, seine Frau verstarb am 31. Oktober 2004 ebenfalls dort.

Der jüngste Sohn der Fürstenbergs, Hellmuth Joachim Moritz, geboren am 7. Juli 1908, wanderte 1937 nach Ägypten aus und leitete dort die Geschäfte der Firma Reveillon bis nach dem Krieg. Er heiratete Sylvia Low, geboren am 20. März 1904 in Vancouver, British Columbia, Kanada, die am 14. Dezember 1966 in Los Angeles, USA starb. Das Ehepaar hatte zwei Töchter: Rosanne J. Fürstenberg, geboren am 25. März 1929 in New York, die am 9. Juni 2008 dort verstarb, und Catherine, geboren 1930 in New York und im gleichen Jahr dort verstorben (?). Nach dem Tod seiner Frau 1966 zog Hellmuth Fürstenberg zurück nach Deutschland; er verstarb am 3. November 1971 in Frankfurt/Main.

Die rechtlichen und finanziellen Regelungen zur Wiedergutmachung 

Als die Fürstenberg-Söhne 1948 den Antrag auf Wiedergutmachung des durch die Nationalsozialisten erlittenen Unrechts stellten, war die rechtliche Regelung dafür noch keineswegs abgeschlossen. Erst am 16. August 1949 wurde das Gesetz Nr. 951 „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz)“ vom amtierenden Länderrat (den Bundestag gab es noch nicht) auf der Basis von zwei Proklamationen der Militärregierung von 1945 beschlossen. Danach hat „ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz …, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945) wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.

Das Gesetz hat in der Folge eine Reihe von Ergänzungen erfahren und wurde 1955 durch den Bundestag neu gefasst. Bis dahin waren insgesamt 418 Millionen DM ausgezahlt worden. Der finanzieller Gesamtaufwand für die Durchführung des Gesetzes in der neuen Fassung wurde auf 6,5 bis 7 Milliarden DM geschätzt, wovon bei Inkrafttreten der Novelle (1. April 1956) rund 1 Milliarde DM gezahlt sein sollten (35). Bis 2022 betrugen die Gesamtleistungen etwa 48 Milliarden Euro (als ca. 94 Milliarden DM), wovon (gerundet) 7 Milliarden auf Kapitalentschädigungen und 41 Milliarden auf Renten entfielen; 40 Milliarden Euro an Zahlungen gingen ins Ausland. Nahezu eine Milliarde DM wurde im Rahmen von Globalabkommen mit den europäischen Nachbarstaaten gezahlt. Insgesamt wurden von 1953 bis 1987 mehr als 4 Millionen Anträge auf Wiedergutmachung gestellt, von denen etwa die Hälfte positiv entschieden wurde und die übrigen je zur Hälfte abgelehnt oder zurückgenommen oder anderswie erledigt wurden (Daten aus (36)). Diese Zahl entspricht jedoch nicht der Anzahl der Antragsteller, die niedriger ist: Wie wir sehen werden, haben die vier Fürstenberg-Söhne insgesamt mehr als 30 gleichlautende Anträge in verschiedenen Wiedergutmachungsverfahren gestellt: gegen den deutschen Staat als Rechtsnachfolger des NS-Regimes, gegen die Firma Reiwinkel bzw. gegen Walter Koch, der die Firma Rosenhain übernommen hatten, und gegen den Verein Berliner Künstler, das das Haus am Lützowplatz erworben hatte; diese Anträge wurden in zwei Verfahren zusammengefasst (siehe unten).

Es versteht sich von selbst, dass bei der Vielzahl solcher Verfahren Irrtümer und Fehlentscheidungen nicht ausgeschlossen werden konnten, ebenso wie es versuchten und erfolgreichen Betrug von Antragstellern gegeben hat. Darüber hinaus ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass der „ideelle Wert“ eines erlittenen Verlustes mit der monetären Berechnung einer Sache (eines Hauses, eines Schmuckstückes etc.) nicht abgeglichen werden kann und immer zu Lasten des subjektiven Wertes gehen muss, da sich Emotionen nicht messen lassen. Die Wiedergutmachungsverfahren der Gebrüder Fürstenberg wurden daher, wie viele andere solcher Verfahren, vielfach mit erstaunlicher Härte auf Seiten der Beklagten geführt, mit Unterstellungen und Vorwürfen, die heute oft erschreckend wirken; davon weiter unten mehr.

Die beiden Wiedergutmachungsverfahren

Die Wiedergutmachungsakten (WGA) im Landesarchiv Berlin lassen sich grob in zwei Komplexe unterteilen:  1. Antrag auf Wiedergutmachung (Restitution) des Verlustes des elterlichen Hauses am Lützowplatz 9 (WGA-1), und 2. Antrag auf Restitution des Verlustes der Firma Rosenhain GmbH und der mit ihren verbundenen Immobilien (WGA-2). Auffallend ist dabei, dass eine Immobilie, Lützowstraße 60, in keinem der beiden Verfahren eine Rolle spielte, auch wenn die Familie dieses Grundstück bereits 1919 erworben hatte und darauf ein eindruckvolles Wohnhaus stand (Bild 37). 

Bild 37: Das Wohnhaus Lützowstraße 60 (rechts) sowie 61, 1938 kurz nach dem Umbau für die Herresplankammer. Das Wohnhaus 60 gehörte zur Hälfte der Familie Fürstenberg (s. unten, Bild 38) (Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte zur Heeresplankammer, digitalisiert: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/39ded8c4-abd5-4560-9b00-4ad0348fa79a/)

Bei Durchsicht der WGA-1-Akten fiel auf, dass ein Situationsplan der beiden Grundstücke Lützowstr. 60 und Lützowplatz 9 (Bild 38) darauf hinwies, dass es zum Grundstück an der Lützowstraße einen separaten Vertrag vom 28. Februar 1938 mit dem „Reichsfiskus (Heer) = Wehrkreiskommando III“ gegeben hatte, der zur „Auflassung“ und damit zum Verkauf des Geländes und Gebäudes am 29. Juni 1938 führte. Hier zog nach Umbau noch am 1. Oktober 1938 die Heeresplankammer ein. Zu diesem Vorgang gibt es keine Unterlagen, auch die Bauakte fehlt, aber das Fehlen eines Wiedergutmachungsantrags lässt darauf schließen, dass die Fürstenbergs diesen Vertrag noch ohne „Schaden“ abgewickelt haben und den Verkaufspreis, anders also als die beiden „Verkäufe“ zu WGA-1 und WGA-2, ohne Einschränkungen erhalten haben – er hat es ihnen möglicherweise die Flucht erst ermöglicht. Interessanterweise war das Gartengelände hinter diesem Haus Lützowstraße 60 wiederum Teil des Kaufvertrags mit dem Verein Berliner Künstler (VbK) vom 7. Dezember 1938 war. Nach Auffassung der Familie Fürstenberg war einzig ein 510qm großes Grundstück zwischen den beiden Grundstücken aus jeglicher Vereinbarung herausgefallen und wurde in WGA-1-Verfahren geltend gemacht.

Bild 38: Grundstückplan der Häuser Lützowstrasse 60 und 60a. Das Grundstück 60a (rot) war im Februar 1938 an das Deutsche Reich verkauft worden, das dazugehörige Gartenstück (blau) zusammen mit den Haus Lützowplatz 9 (blau, straffiert) im Dezember des gleichen Jahres
an den Verein Berliner Künstler (Quelle: Wiedergutmachungsakte im Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-05 Nr. 204/49, Blatt 80).

Der Verein Berliner Künstler (VbK)

Elf Jahre nach dem Krieg und 18 Jahre nach dem Erwerb des Hauses Lützowplatz 9 (früher: 5), 1956, legte der Verein in einem Bericht (in 7 Teilen) an seine Mitglieder (37) Rechenschaft ab über die Geschichte des Vereins, insbesondere in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Der 1841 gegründete Verein residierte von 1898 bis 1928 in der Bellevuestraße 3, war aber „aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten“ gezwungen, dieses Haus zu verkaufen. In einem Bieterstreit zwischen Wertheim, Eigentümer des Kaufhauses im Leipziger Platz nebenan, und der französischen Kaufhauskette Lafayette, die in Berlin Fuß fassen wollte, wurde dem Verein von Wertheim 3,1 Millionen Reichsmark für das Haus geboten (davon 1 Million als Hypothek auf das Grundstück) und der Kauf besiegelt. Von diesem Geld erwarb der VbK die Villa des Barons Erich von Goldschmidt-Rothschild in der Tiergartenstraße 2a (Bild 39), die umgebaut und für die Zwecke des Vereins eingerichtet (Gesamtkosten: etwa 700.000 RM) und 1931 eingeweiht wurde. Das verbleibende Vermögen, immerhin noch 1,5 Millionen RM, erlaubte dem Verein üppige Ausstellungstätigkeit in den nächsten Jahren, bis nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 sich alles änderte: NSDAP-Mitglieder übernahmen den Vorstand (1935), jüdische Vereinsmitglieder mussten den Verein verlassen, und der Plan für die Nord-Süd-Achse der neuen Hauptstadt Germania des Albert Speer (38) machte allen klar, dass auch das Haus Tiergartenstraße 2 nicht mehr lange bleiben konnte. In dieser Situation, so der Bericht, „wendet sich die jüdische Familie Fürstenberg (Egon Sally Fürstenberg) an den Verein und bietet dem Verein ihr Haus Lützowplatz 9 an. … Der Verein … geht auf das Anerbieten ein …und erwirbt nach einer vierteljährlichen Verhandlung das angebotene Haus …“ für 370.000 RM am 10 Dezember 1938 – Ende des 6. Teils des Berichtes. 

Bild 39: Das Künstlerhaus in der Bellevuestraße 3 (links) (Foto von 1900, Fotograf unbekannt) und das Vereinshaus ab 1928 in der Tiergartenstraße 2A (Foto von 1935, Fotograf: Walter Köster, Landesarchiv Berlin Nr. F 290 (08) Nr. 0152454 mit freundlicher Genehmigung).

Was hier aussieht wie ein freundliches Entgegenkommen auf das Angebot der Fürstenbergs ist in Wahrheit ein Ausnutzen der Notlage der Familie – die vierteljährliche Verhandlung wird also eher dem Zwecke gedient haben, den Preis zu drücken, wussten doch alle Beteiligten (insbesondere der aus Parteimitgliedern bestehende Vorstand) im Frühjahr 1938 um die systematische Arisierung jüdischer Geschäfte und Immobilien. Dass die Familie Fürstenberg sich aktiv an der Suche nach einem Käufer beteiligt hat, ist dagegen sehr wahrscheinlich, das hat sie auch im Zuge der „Entjudung“ der Firma Rosenhain gemacht (s. oben, Teil 6). Später (33) wird aus dem freundlichen „Anerbieten“ sogar noch die historisch falsche Behauptung, dieses Angebot sei vom zum VbK gehörenden ausserordentlichen Vereinsmitglied Egon Sally Fürstenberg gekommen (s. oben, Teil 6), schamloser geht es kaum. An anderem Ort und nach dem Krieg wird dieses „Angebot“ sehr wohl in Anführungszeichen gesetzt (39).

Im 7. Teil des VbK-Berichtes geht es dann um das Restitutionsverfahren selbst, das 1949 begann – der „große Umbruch des Reiches“ und der „furchtbare Krieg“ dazwischen kommen sehr kurz weg, die 100-Jahr-Feier seiner Existenz 1941 unter dem Hakenkreuz überhaupt nicht – sie finden sich in anderen Dokumenten ihrer Zeit (40). Dieser 7. Teil fasst die Auseinandersetzungen zwischen dem VbK und den Fürstenberg-Söhnen bis 1956 zusammen und endet 1956; der VbK wird noch weitere drei Jahre warten müssen, bis ein Urteil des Landgerichts Berlin am 6. November 1959 den Streit beendet – und er wird dabei die meisten seiner initial erhobenen Ansprüche und Forderungen verlieren. Einen finalen Teil des Berichtes gibt es nicht, zumindest nicht im Archiv der Akademie der Künste (38).

Literatur

35. https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesentschädigungsgesetz

36. Bundesministerium der Finanzen: Wiedergutmachung – Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. Im Internet: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2018-03-05-entschaedigung-ns-unrecht.pdf

37. Archiv der Akademie der Künste (AdK): Archivalien-Nr. VereinBK Nr. 27 (Manuskript der Chronik von Arthur Hoffmann von 1956), und Nr. 713 (Schreiben des Rechtanwaltes Graul vom Dezember 1952).

38. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Transit Buch-Verlag 1984.

39. Martin-M. Langner: Der Verein Berliner Künstler zwischen 1930 und 1945. In: Verein Berliner Künstler: Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Berlin, Nikolaische Verlagsbuchhandlung 1991 (hier: Seite 110).

40. Die Kunst im Deutschen Reich, 5. Jahrgang, Folge 8/9 (August/September) 1941 (Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. München), S. 182-187.

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 6

Das Ende des Hauses Fürstenberg wurde eingeleitet durch eine Vielzahl antijüdischer Gesetze und Verordnungen, die die Nationalsozialisten unmittelbar nach der Machtergreifung 1933 erließen (26). Kaum vorstellbar ist, dass dies die Familie Fürstenberg überrascht hat, möglich ist aber, dass die Fürstenbergs ihre Ausreise aus Deutschland erst nach dem Wahlsieg der Nationalsozialisten ins Auge gefasst hatten. Zu diesen Plänen mag auch die Reise nach Amerika passen, die Sally Fürstenberg im Jahr 1935 gemeinsam mit seinem Sohn Fritz unternahm (Bild 29). Immerhin hatte die Familie Verwandte in den Vereinigten Staaten, Nachkommen von Julius Fürstenberg, dem älteren Bruder von Sally, (siehe Teil 3). 

Bild 29: Schiffspassage von Egon Sally Fürstenberg und seinem Sohn Fritz mit der „Bremen“ von Bremen nach New York am 3. Mai 1935 (Quelle: Ancestry).

Spätestens aber das „Gesetz über die Anmeldung des Vermögens der Juden“ vom 26. April 1938 und die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 muss ihnen deutlich gemacht haben, dass eine Emigration notwendig war. Details des in diesem Zusammenhang erzwungenen „Vertrags“ der Familie Fürstenberg mit dem deutschen Reich wurden erst in den Restitutionsverfahren der Familie nach dem Krieg bekannt und werden hier erstmals ausgewertet (27). Eine Darstellung dieser sinnentstellend „Wiedergutmachungsverfahren“ genannten Prozesse ab 1950 wird diese Familiengeschichte in einem weiteren Teil abschließen.

Die Vermögenserklärungen

Am 30. Juni 1938 erklärte Sally Fürstenberg sein Vermögen, insgesamt wird es beziffert auf 4.7048.472 Millionen Reichsmark (RM), dem Schulden in Höhe von 585.836 RM gegenüberstanden (Bild 30). Die sechs Pferde und ein Fohlen, die er zu diesem Zeitpunkt besaß, sind mit keinem Wert beziffert, die fünf Grundstücke sind in dieser Auflistung mit 1.370.000 RM enthalten.

Bild 30: Vermögenserklärung (Formularkopf) von Sally Fürstenberg, Paul Fürstenberg und Sophie Fürstenberg (aus: 27).

Sein Sohn Paul, zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt und verheiratet, bezifferte am 28. Juni 1938 sein Vermögen auf 709.205 RM. Paul Fürstenberg gab an, 80.293 RM Schulden bei Hellmut Fürstenberg (Giza bei Kairo) zu haben sowie treuhänderisch das Vermögen von Helga Birnholz und Stefan Fürstenberg zu verwalten, die beide noch minderjährig waren. 

Sophie Fürstenberg, geborene Birnholz, Witwe von Gustav Fürstenberg, gab ein Vermögen von 1.662.093 RM an. 

Weitere Vermögenserklärungen sind in den Wiedergutmachungsakten (WGA) nicht enthalten. Womit sich die Frage stellt, ob die inzwischen volljährigen Söhne Fritz, Rolf und Hellmuth entsprechende Erklärungen abgegeben haben, oder ob sie ihre liquiden Anteile an der Firma (die sich in gleichem Umfang wie die von Paul Fürstenberg bewegt haben dürften) vor dem genannten Datum ins Ausland verlagert haben. Dafür spricht nicht nur die Reise von Fritz Fürstenberg (gemeinsam mit seinem Vater) in die USA im Jahr 1935, sondern auch der Umstand, dass Hellmuth Fürstenberg 1938 seinen Hausstand in Ägypten hat. Und in dem Vertrag der Familie Fürstenberg mit dem Deutschen Reich (s. unten) wird die Familie ausdrücklich als bestehend aus Sally Fürstenberg, seinem Sohn Paul nebst Ehefrau und Kinder, und der Witwe von Gustav Fürstenberg, Sophie Fürstenberg geborene Birnbaum bezeichnet.

Letzte Klarheit verschaffte ein Bericht von Paul Fürstenberg (der sich seit seiner Einbürgerung in Amerika Paul Forbes nannte) aus dem Jahr 1968, der sich im Leo-Baeck-Institut in New York in der Albert Rosenhain Collection (28) fand (Bild 31): 

Fritz Fürstenberg wanderte am 1. April 1933, drei Monate nach der Machtergreifung durch die Nazis, nach Holland aus und gründete in Amsterdam die Firma N.V.Reveillon, die bis zum Besetzung Holland durch die deutsche Wehrmacht 1942 fortbestand, aber dann in die Hände der Firma Reiwinkel überging, die das Berliner Stammhaus Rosenhain übernommen hatten (s. unten). Der drohenden Deportation entgingen Fritz und seine Frau durch Flucht in die Schweiz; sie wurden 1945 repatriiert.

Ein jüdischer Verkäufer der Firma Rosenhain in Berlin, Hellmut Wittenberg, wanderte 1933 nach Palästina aus und gründete in Tel Aviv die Firma Rivoli, die 1940 Bankrott anmeldete. Da ihr Hauptgläubiger die Firma Rosenhain, Berlin war, übernahm diese die Geschäfte und führt sie bis in die Nachkriegszeit.

Im April 1936 eröffnete Fritz Fürstenberg gemeinsam mit einem weiteren Verkäufer aus Berlin, Ernst Hünerberg, die Firma Rivoli in Alexandria, Ägypten, ebenfalls mit Krediten der Firma Rosenhain, Berlin. Eine weitere Filiale entstand kurze Zeit später in Kairo. 

Hellmut Fürstenberg wanderte 1937 aus Deutschland aus und übernahm die Leitung der Geschäfte in Kairo bis nach dem Krieg.

Ulrich Fürstenberg übernahm 1936 in London die Leitung einer Rivoli-Filiale, gemeinsam mit einem weiteren früheren Verkäufer der Firma Rosenhain, Bruno Schleyer, und zeitweilig auch Paul Rosenhain. Dieses Geschäft wurde 1941 durch deutsche Bombenabwürfe über London vernichtet worden und wurde nicht wieder aufgebaut.

Bild 31 Bericht von Paul Fürstenberg über die Auslandsgründungen der Firma Rosenhain nach 1933 (aus: Leo-Baeck-Institut New York, (28)).

Wir können also festhalten, dass die Fürstenberg-Familie unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten begonnen hat, der drohenden Enteignung und Bedrohung von Leib und Leben entgegenzuwirken, und sowohl die Auswanderung als auch die Verlagerung der Geschäfte ins Ausland betrieb. Gleichzeitig wurden offenbar verdiente Angestellte, die aus den gleichen Gründen um ihr Leben fürchten mussten, ebenfalls zur Auswanderung verholfen.

Die Arisierung („Entjudung“) der Firma Rosenhain

Neben den bereits genannten Dokumenten im Rahmen der Restitutionsverfahren nach dem Krieg liegt für den Prozess der „Arisierung“ eine Akte der diesen Prozess leitenden Reichs-Kredit-Gesellschaft (RKG), die Konzernbank der reichseigenen Industrieunternehmungen, vor. Diese Akte, die im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde archiviert ist (29). Wenn aus dieser Akte die Notars- und Anwaltsrechnungen herausgenommen werden, die fast 1/3 der Dokumente betreffen, lässt sich der Gesamtprozess recht gut rekonstruieren. Der dabei entstehende Eindruck, dass der Arisierungsprozess weniger der ideologischen „Entjudung“ der Firma Rosenhain galt als vielmehr der Beschaffung von Geldwerten, insbesondere von ausländischen Geldern (Devisen) für eine marode deutsche Volkswirtschaft, die einen Weltkrieg plante, wird in einem späten Dokument bestätigt. Am 15. August 1941 vermerkt Herr Muss von der RKG in einer Notiz zu einem Telefonat mit Geheimrat Zetsche von Reichswirtschaftsministerium, dass „die Entjudung der Firma Fürstenberg eigentlich nicht im Vordergrund gestanden hätte, sondern vielmehr Ausgangspunkt und ausschlaggebend die Frage war, welcher Gegenwert Herr Koch für die hereingebrachten Devisen marktmässig zugebilligt werden kann“ (Blatt 22) – immerhin hatte Koch dem Deutschen Reich ein Devisenpaket von 57.000 Britischen Pfund gebracht, das Pfund zu 42 RM, entsprechend also fast 2,5 Millionen RM. 

Walter Koch war Auslandsdeutscher, Arier im Sinne des Gesetzes, wie an anderer Stelle festgestellt wurde (Blatt 106), der nach Auskunft der „German Chamber of Commerce“ (Blatt 234) in London zusammen mit seinem Bruder Anteile an einer englischen Firma „Everready“ hatte, die verkauft wurde und die beiden Deutschen zurückließ „zu einer Zeit …in der die [deutsch-englischen] politischen Verhältnisse sehr zugespitzt waren„. Die auf diese Weise freiwerdenden Gelder wollten die Gebrüder Koch offenbar in Arisierungsprojekte in der Heimat stecken, und das Reich war daran brennend interessiert.

Da Koch kein Kaufmann war, stand für die RKG von vornherein fest, dass dies nur möglich sei, wenn bei der Übernahme der Firma Rosenhain Fachleute beteiligt sind: Dies waren die Kaufleute Ludwig Reisse, 34 Jahre, Exportleiter und Einkäufer einer Exportfirma in Berlin (Hohenzollerndamm 180) und Dr. Fritz Grawinkel (Kurfürstenstraße 105 bzw. Prager Straße 24), der einer Gesellschaft namens „Lega“ vorstand, die alle Arisierungsverfahren im Lederwaren-Handel koordinieren wollte (Blatt 534); beide waren bereits früh (vor Kochs erster Erwähnung in den Akten der RKG, Blatt 499) bei der RKG vorstellig geworden – so wie viele andere Kaufleute und Interessenten, die zwischen 100.000 und 1.000.000 RM zu investieren bereit und in der Lage waren, darunter auch der Koffer-Hersteller Mädler aus Leipzig. Aber unter all diesen Interessenten waren kaum einer in der Lage, die geforderten 2 bis 3 Millionen aufzubringen, die nach dem Rosenhain-Budget von 1937 die Firma einschließlich ihrer Grundstücke wert war. Nach den vorliegenden Unterlagen hatte sich Paul Fürstenberg als Alleinvertreter der Firma Rosenhain aktiv an diesem Suchprozess beteiligt und letztendlich auch die Verbindung der RKG mit Koch hergestellt (Blatt 499: Schreiben von Fürstenberg and die RKG vom 10. August 1938). Am 5. Oktober 1938 gründete Walter Koch, gemeinsam mit Ludwig Reisse und Dr. Fritz Grawinkel die Firma „Reiwinkel – Das Haus für Geschenke“ (Bild 32), die noch am gleichen Tag die Firma Rosenhain übernahm. Die neue Firma Reiwinkel hatte demgemäß drei Anteilseigner: Koch mit einem Anteil von 1,36 Millionen RM, Reisse mit 100.000 RM und Grawinkel mit 40.000 RM (Blatt 452), aber nur Koch trat als Käufer auf. 

Bild 32: Briefkopf der Firma „Reiwinkel – Haus der Geschenke“ (aus: (29)).

Der Verkauf der Firma Rosenhain an Walter Koch

Am 19. August 1938 schrieb die Familie Fürstenberg gemeinsam mit ihren Anwälten einen Brief an „Herrn Walter Koch, Fulmer/England, z.Zt. in Berlin“ (30) mit Vorschlägen zur Übernahme der Firma Albert Rosenhain GmbH und leitete damit die Übernahme der Firma ein. In diesem Schreiben 1938 schlug die Familie Fürstenberg einen Kaufvertrag der Rosenhain GmbH mit allen Aktiva und Passiva im Gesamtwert von 1.500.000 RM durch Koch oder eine von ihm beauftragte Gesellschaft vor, und erklärte sich bereit, Bargeld zuzuschießen, sollte eine offizielle Wertermittlung zu einem niedrigen Gesamtwert kommen. Der Verkauf des Geschäftes sollte die fünf Grundstücke einschließen. Dafür sollten die Fürstenbergs 150.000 RM erhalten, ein Zehntel des Wertes, der auf ein zu errichtendes Sonderkonto bei der Reichs-Kredit-Gesellschaft AG zugunsten von Paul Fürstenberg oder der Firma Reveillon Amsterdam eingezahlt werden soll. Voraussetzung für diesen Kaufvertrag sollte ferner sein, dass damit alle Steuerverbindlichkeiten der Familie Fürstenberg gegenüber dem Deutschen Reich erledigt sind, dass die gegenüber ausländischen Firmen (die Firmen Rivoli in Alexandrien, London, Jerusalem, Tel Aviv und Kairo) bestehende Ansprüche und Forderungen auf Paul Fürstenberg übertragen und genehmigt werden, sowie dass der Familie die Pässe ausgehändigt werden und gestattet wird, auszureisen mitsamt ihrem persönlichen Hab und Gut im Werte von 65.000 RM.

Auf dieser Basis der Vorschläge der Fürstenbergs kam es am 5. Oktober 1938 zu einem notariellen Kaufvertrag durch den Notar Dr. Erwin Graf in den Geschäftsräumen der RKG, bei dem neben der Familie Fürstenberg (Paul und Sophie Fürstenberg) deren Rechtsanwälte und der besagte Walter Graf anwesend waren. Im einem Rahmenvertrag wurde geregelt, dass die Gesamtwerte der Firma Rosenhain (Firma plus Grundstücke) in der Größenordnung von 4.363.033 RM gegen Zahlung von 2000 britische Pfund (etwa 80.000 RM) an Paul Fürstenberg, 1000 RM als „Reserve“ auf ein Treuhandkonto bei der RKG (s. oben) und 150.000 RM auf das besagte Sonderkonto in das Eigentum des Walter Koch übergehen. Sophie Fürstenberg behielt überdies die Verfügung über 9.000 Schweizer Franken auf einem Konto in Luzern – auf das die Nationalsozialisten keinen Zugriff bekommen hätten, ohne Frau Fürstenberg in die Schweiz reisen zu lassen. Diese und weitere Bedingungen mussten allerdings noch durch den Oberfinanzpräsidenten Berlin nach Maßgabe gesetzlicher Vorgaben des Reichswirtschaftsministeriums genehmigt werden.

Der Vertrag der Familie Fürstenberg mit dem Deutschen Reich

Auf der Basis der Vermögenserklärungen vom Juni 1938 und des Kaufvertrags zwischen der Familie Fürstenberg und Walter Koch vom 5. Oktober 1938 schloss das Deutsche Reich, vertreten durch den Oberfinanzpräsidenten Casdorf, mit der gesamten Familie Fürstenberg am 19. November 1938 eine Vereinbarung, in der geregelt wurde, dass die bei Auswanderung der Familie zu zahlende Reichsfluchtsteuer sowie sämtliche übrigen Steuerschulden „einschließlich der Juden-Kontribution“ aus einer bei der Reichsbank zu deponierenden Summe von 2 Mio. Goldmark der Familie die Emigration erlauben und alle schwebenden Rechtsmittel gegen die Familie beenden sollte (31). Mit „Juden-Kontribution“ war die von der Judenschaft Berlins zu zahlende „Sühneleistung“ (Vermögensabgabe) für die „feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ (32) von einer Milliarde Reichsmark – erlassen nach den antisemitischen Ausschreitungen der Nazis in der Programnacht vom 9. auf den 10. November 1938.

Die Übertragung des Gesamtvermögens der Familie auf die Berliner Revisions-Aktiengesellschaft bestätigt diese mit Schreiben vom 9. Dezember 1938 – und dennoch verweigert das Reich den Fürstenbergs die Ausreise, wie Paul Fürstenberg in einem Schreiben vom 24. Dezember 1938 an die RKG beklagte (Blatt 260). Offenbar hatte aber das Polizeipräsidium nach dieser Regelung keine Bedenken mehr, die Reisepässe auszustellen (Blatt 210), und am 19. Januar 1939 vermerkte die RKG, dass die Fürstenbergs ausgereist waren (Blatt 236).

Verkauf des Hauses Fürstenberg am Lützowplatz

Aus der Verhandlungs- und Kaufmasse der Firma Rosenhain and Koch/Reiwinkel herausgenommen war von Anbeginn an das Haus am Lützowplatz 5 (heute: 9), das Sally Fürstenberg in seiner Vermögenserklärung vom Juni 1938 mit einem Wert von 240.000 RM taxiert hatte (27). Dazu gehörte ursprünglich auch das Grundstück Lützowstrasse 60, das im Gartenteil mit dem Grundstück Lützowplatz 5 verbunden war. Es wurde am 10. Dezember 1938 an den Verein Berliner Künstler (VBK) für einen Preis von 370.000 RM verkauft, jedoch wurde der Kaufbetrag in einen von der Berliner Revisions-AG, einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungs-Gesellschaft, verwalteten Topf bezahlt, aus dem die Fürstenbergs ausweislich der Akten des Restitutionsverfahrens keine Auszahlungen erhielten. So schnell, im Vergleich zur Arisierung der Rosenhain GmbH, dieser Kaufprozess vonstatten ging, im Restitutionsverfahren nach dem Krieg erwies sich der VBK nicht nur als ein wesentlich hartnäckigerer Gegner jeglicher Wiedergutmachung, sondern es wurde auch mit viel härteren Bandagen gekämpft, bis hin zur Verleumdung der Fürstenbergs als Lügner. Der Streit wurde erst beigelegt, als der VBK seinen Anwalt wechselte und es am 6. November 1959 zu einem Gerichtsentscheid kam, in dem der VBK zur Herausgabe des Grundstücks Lützowplatz 9 und zur Zahlung von 77.770 DM nebst 4% Zinsen seit dem 1. Oktober 1959 an die Familie Fürstenberg verurteilt wurde.

In diesen Zusammenhang gehört auch, dass in einer Jubiläumsschrift 1991 zum 150-jährigen Bestehen des VBK die Behauptung aufgestellt wird, Sally Fürstenberg habe das Haus dem Verein quasi zum Kauf angetragen, da er „dem VBK als außerordentliches Mitglied angehörte“ (33). Dies ist nicht mehr nur peinlich, sondern Geschichtsfälschung: Immerhin haben die Listen der ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder des Vereins für die Jahre 1920, 1925, 1931 und 1933 den Krieg überstanden und sind heute im Archiv der Akademie der Künste (34) einsehbar, und in keinem fand sich ein Mitglied der Familie Fürstenberg; und nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wurden Juden schleunigst aus dem VBK ausgeschlossen. Das hätte der VBK korrigieren können und müssen, auch wenn der Autor der Musikkritiker Hellmut Kotschenreuther (1928-1998) war. Offenbar sitzt der Stachel noch tiefer als gedacht, der des schlechten Gewissens ebenso wie der der gekränkten Eitelkeit und der Wut über den verlorenen Restitutionsprozess, dass er auch 1991 noch stechen kann.

Bild 33: Visitenkarte (aus: (29) und Foto (Egon Fürstenberg, Amsterdam 11.1941, Fotografie; Jüdisches Museum Berlin, Inv. Nr. 2017/148/1, Schenkung von Tom Fürstenberg).

Tod in Holland

Sally Fürstenberg, der sich Egon S. Fürstenberg nannte (Bild 33), starb am 7. Juni 1942 in Amsterdam im Alter von 82 Jahren (Bild 34), wenige Tage nach dem Überfall Hollands durch die deutsche Armee. 

Bild 34: Sterbeurkunde des Sally Fürstenberg vom 7. Juni 1942 (Quelle: Ancestry).

Literatur

27. Es gibt im Landesarchiv Berlin (LAB) einunddreißig Einzelakten im Restitutionsverfahren, weil die vier Söhne getrennt voneinander Verfahren gegen verschiedene Parteien (Deutsches Reich, Reiwinkel, Koch, VbK) in mehreren Angelegenheiten (Immobilien, Rosenhain, persönlichen Verluste) angestrengt hatten. Die für unsere Auswertung wichtigste Akte hat die Inventar-Nummer B Rep 025-05 Nr. 204/49.

28. Albert Rosenhain Collection im Leo-Baeck-Institut New York, Archiv Nr.  AR 3272: Paul Forbes, Entstehung der ausländischen Niederlassungen der Firma Albert Rosenhain ab 1933 (sechs Seiten plus Fotos) ohne Datum.

29. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL): R 8136/2807. Die Akte der Reichs-Kredit-Gesellschaft enthält 583 Blätter und umfasst den Zeitraum vom 15. März 1938 bis zum 3. Oktober 1944. Verweise auf einzelne Aktenstücke erfolgen unter Angabe des Blattes, z.B. Blatt 499.

30. LAB: B Rep 025-05 Nr. 204/49 mit Brief an Koch vom 19.8.1938 (Blatt 171 ff).

31. LAB: B Rep 025-05 Nr. 204/49 Vereinbarung Fürstenberg/Koch vom 5. Oktober 1938 (Blatt 195 ff).

32. https://de.wikipedia.org/wiki/Judenvermögensabgabe

33. Hellmuth Kotschenreuther. Neubeginn unter sehr erschwerten Bedingungen. In: Verein Berliner Künstler: Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Berlin, Nikolaische Verlagsbuchhandlung 1991, S. 119-137 (hier: Seite 123).

34. Archiv der Akademie der Künste, Berlin: Inventar-Nummern VereinBK 1055 (1920), 1056 (1925), 1057 (1931-1933),

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Die sephardische Synagoge

Es gibt zu dieser jüdischen Gemeinde, die eine eigene Synagoge hatte, nur sehr wenige gesicherte Informationen, und weil das so ist, haben alle mehr oder weniger voneinander abgeschrieben; und dem entsprechend tauchen immer wieder die gleichen wenigen Details auf, selbst wenn sie falsch oder ungenau sind. 

Die sicherlich umfangreichste Quelle zur Geschichte der sephardischen Juden ist ein Buch von Guttstadt (1) von 2008, von dem es auch Kurzfassungen über die sephardischen Juden in Berlin gibt (2, 3), aber auch Guttstadt beruft sich bezüglich der Berliner sephardischen Gemeinde auf Sinasohn 1971 (4), Galliner 1987 (5) und Groh 2001 (6). Dabei berichtet Sinasohn in nur 9 Zeilen sehr wenige Informationen und nennt keine einzige Quelle, und Galliner verweist auf das Jüdische Jahrbuch für Groß-Berlin von 1926 bzw. 1928 (7). Die gleichen Angaben wie in den Jahrbüchern finden sich auch in den beiden Jüdischen Adressbüchern von Berlin (8). Eine gelegentlich zitierte Quelle von 1935 ist ein Artikel von Hillel (9) im Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde, allerdings ohne Details und ohne Quellenangabe; gleichzeitig ist im Israelitischen Familienblatt 1935 (10) ebenfalls ein Artikel über die kleine sephardische Gemeinde in Berlin erschienen, so dass Guttmann (3) wohl zu Recht vermutet, dass selbst den meisten jüdischen Gemeindemitgliedern diese Geschichte neu gewesen sein könnte. 

Was sind sephardische Juden?

Sephard ist der hebräische Name für Spanien, so wie Aschkenas der Name für Deutschland war; Sephardim waren daher Juden aus Spanien und Portugal, wie Aschkenasim die Juden aus Nord-, Mittel- und Osteuropa waren. Die Aschkenasim sprachen ein dem Deutschen verwandtes „Jiddisch“, während die Sephardim ein dem Spanischen verwandtes „Ladino“ sprachen. Auf der von 714 bis 1492 zum Osmanische Reich gehörenden iberischen Halbinsel hatten die Sephardim zumeist hohe und angesehene Stellungen und waren im Mittelalter besser integriert als die Aschkenasim in Mitteleuropa. Als die Rückeroberung (reconquista) Spaniens durch christliche Herrscher mit der Belagerung und Besetzung Granadas 1492 ein Ende fand, wurden die verbleibenden Juden per Gesetz gezwungen, zum Christentum zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Die daraufhin einsetzen Migration der Sepharden (Sepharad I) ging zunächst in das Königreich Portugal, aber es als dort 1796 ebenfalls zu einem Verbot des jüdischen Glaubens kam, zogen viele Juden entweder nach Norden (Niederlande, Skandinavien, Hamburg) oder nach Osten (in die Balkanstaaten, nach Nordafrika, Griechenland und die Türkei) und ließen sich im Osmanischen Reich nieder, während den verbliebenen, konvertierten Sephardim in Spanien und Portugal oftmals die Folter (Inquisition) drohte, wenn der Verdacht aufkam, dass der jüdische Glaube und die jüdische Lebensweise heimlich weitergeführt wurden. Die ins Osmanische Reich ausgewanderten Juden behielten ihre Sprache (Ladino) und ihre traditionelle Lebensweise bei, viele von ihnen lebten in Konstantinopel (Istanbul) und wurden auch hier geschätzt. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches und der Entstehung des türkischen Staates emigrierte die Sephardim in mehreren Emigrationswellen, die Groh (6) Sephard II nennt, nach Wien und weiter nach Preußen (Berlin), das zu diesem Zeitpunkt (um 1900) starke diplomatische Beziehungen zur Türkei hatte. Hauptgeschäftszweige waren der Teppichhandel und die Tabakindustrie (Bild 1). Etwa die Hälfte der in Berlin lebenden Türken hatte jüdische Wurzeln und türkische Pässe – sie fühlten sich bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunächst noch sicher, aber als die Türkei begann, ihre Pässe für ungültig zu erklären, wurden sie erneut vertrieben oder wie ihre aschkenasischen Glaubensgenossen deportiert und umgebracht.

Bild 1: Oben eine Anzeige der Firma D.L.Haim, Potsdamer Str. 129-130 (Scan aus (2)), darunter ein Ausschnitt aus dem Berliner Adressbuch von 1915..

Was ist über die sephardische Gemeinde in Berlin bekannt?

Worin alle übereinstimmen: dass der Israelitisch-Sephardische Verein (ISV) 1905 gegründet worden sei. Als Beleg gilt ein Brief aus diesem Jahr von Fina Haim, eine der vier Töchter des Berliner Teppichhändlers Haim (Bild 2), an den spanischen Arzt Dr. Angel Pulido sowie Informationen aus einem Fragebogen, den Pulido an sephardischen Gemeinden weltweit verschickt hatte. Darin werden 25 Mitglieder der Berliner Gemeinde namentlich genannt: „Isidoro Covo und L. Haim, Kaufleute für orientalische Wandteppiche in großen Mengen; Victor Albahary, Zionist; Elías Benyaisch, Mosco Calmi, Ernest N. Covo und L. Haim, Kaufleute für orientalische Wandteppiche in großen Mengen; Victor Albahary, Zionist; Elías Benyaisch, Mosco Calmi, Ernest N. Covo und N. Romano, Kaufleute; Licco Covo, Bension Benvenisto, A. Rosano, Nissim Cohen, Eskenazy und Heinrich Levy, E. Y. Uziel und Is. Kamermam, Kommissionäre; Navon, Student der Germanistik und Lehrer für Spanisch; Dr. Samuel, Lehrer für Französisch; Dr. Benaroyo, Arzt; Dario Errera, Maschinenbauingenieur; Cappon, Angestellter, usw., und drei oder vier andere“ (11).

Bild 2: Die vier Töchter des D.L.Haim: Fina (oben links), Clara (oben rechts), Maria (unten links) und Rosa (unten rechts), Scan aus (11).

Im Berliner Adresskalender taucht der Verein aber erstmals 18 Jahre später auf, 1923 mit der Adresse Lützowstrasse 111, vorher ist er nicht gelistet, auch nicht unter anderer Adresse. In den Jahren von 1921 bis 1924 war der 1. Vorsitzende des Vereins, J. D. Hassan, der in der Jägerstraße 25 wohnte; dort war er geführt als Importeur echter orientalischer und persischer Teppiche (siehe Bild 1), den man im Berliner Adressbuch ab 1896 nachweisen kann. Er fehlte jedoch in den oben gelisteten historischen Berichten völlig, stattdessen benennt Sinasohn (4) den Teppichgroßhändler Chasan als Gründungsvater, den wiederum das Adressbuch nicht kennt, und alle anderen auf Sinasohn verweisen, statt das Adressbuch zu konsultieren. Oder weil die von Guttstadt berichtete Quelle ein Transkription-Variante (Chasan = Hassan) enthält: „Ein Problem für sich ist die Schreibung von Personennamen. Durch das Nebeneinander des hebräischen, lateinischen, und – bis zur Einführung der Lateinschrift in der Türkei 1928 – osmanischen Alphabetes in der Türkei existierten dort für die Namen der meisten Juden mindestens drei verschiedene Schreibweisen … entstanden oft zahlreiche Lateinschriftversionen für ein und denselben Namen, häufig sogar für die gleiche Person“ (1).

Ab 1925 war die Adresse des „Generaldirektors“ des Vereins, Ely J. Uziel, die Martin Luther-Strasse 58. Uziel ist seit 1899 im Berliner Adressbuch nachweisbar. Er und die anderen Vorstandsmitglieder finden sich danach auch in den beiden Jahrbüchern und den beiden jüdischen Adressbüchern – so weit, so gut.

Die Zahl der Vereinsmitglieder wird mit 150 Mitte der 20er Jahre (12) und mit 500 Anfang der 30er Jahre angegeben, aber es wird an keiner Stelle gesagt, ob es sich dabei um die Zahl der sephardischen Familien handelt oder um Individuen – die Zahl 500 hat bislang überhaupt keinen Beleg. Das klingt darüber hinaus nach viel, hatte doch der Tiergarten-Synagogen-Verein an der Potsdamer Straße 26 zur gleichen Zeit nur etwa 110 Mitglieder (s. mittendran vom 3. September 2022), und der Synagogenverein Lützowstraße 16, dessen Synagoge 2000 Gläubige fassen konnte (mittendran vom 30.Juli 2023), auch nur 500 Mitglieder, gemäß dem Jüdischen Jahrbuch von 1926 (8). Vermutlich waren die 150 Mitglieder ihre Kopfzahl, nicht die Anzahl der Familien. Nimmt man nämlich die o.g. Liste als Liste der Mitglieder (25-29 Familien) und rechnet pro Familie 4-5 Personen, kommt man an die Zahl von 150 Sephardim heran.

Genau diese Frage wurde dem Düsseldorfer Rechtsanwalt Siegfried Lublinski zum Verhängnis, als er im Auftrag der Jüdischen Gemeinde 1962 herausfinden sollte, wo die sephardische Synagoge war, in welchem Umfang sie zerstört worden und was dabei an Wertgegenständen verloren gegangen war. Da ein inzwischen ein weeitgehend geräumtes Trümmerfeld (Bild 3) keinen Augenschein mehr zuließ, suchte er in den Bauakten des Grundstücks Lützowstrasse 111/112 (13) nach Hinweisen, wo 500 Köpfe hätten beten können. Dabei identifizierte er auf der Basis der Grundrisse des Geländes zwischen Lützowstrasse und (heutiger) Pohlstraße den großen Festsaal (ab 1881 Konzertsaal, ab 1920 Kinosaal) der Viktoria-Brauerei als mögliche Synagoge mit Platz für bis zu 750 Gläubige (Bild 4). Die Brauerei hatte das Grundstück 1918 an die Wertheim Grundstücks Verwaltungsgesellschaft m.b.H., eine Tochtergesellschaft der Wertheim Kaufhaus-Kette, verkauft. Der Suchvorgang ist in einer Akte des Centrum Judaicum Berlin (CJB) dokumentiert (14), auch seine spätere Einsicht, dass die doppelte Nutzung als Kino und als Synagoge kaum zu realisieren war, es sei denn als gelegentlicher Betsaal an den hohen jüdischen Feiertagen (s. mittendran vom 22. Juli 2023). Den Wertverlust nur der Einrichtung bezifferte ein Gutachter im Wiedergutmachungsverfahren mit knapp 300.000 DM.

Bild 3: Trümmerfeld der Häuser Lützowstr. 111 und 112 unmittelbar nach dem Krieg (aus (13)).
Bild 4: Grundriss des Kinosaals, früherer Festsaal bzw. Theatersaal der Viktoria-Brauerei (aus: 14), des von Rechtsanwalt Lublinski zunächst vermuteten Synagogensaales.

Wo war der Verein in den Jahren 1905 bis 1923?

Bleibt also die Frage, wo genau der Israelitisch-Sephardische Verein zwischen von 1905 bis 1923 residierte. Wie Rechtsanwalt Lublinski haben wir uns zunächst die Bauakte vorgenommen, allerdings alle 10 Bände in chronologischer Ordnung, und die Baugeschichte rekonstruiert. Das Gelände war 1853 erstmals bebaut worden und gehörte seit 1878 der Viktoria-Brauerei-Aktiengesellschaft bzw. der Engelhardt-Brauerei; es wurde 1918 für 1,825 Million Mark an die Wertheim Grundstücks-Gesellschaft verkauft. Die Viktoria-Brauerei hatte im Jahr 1889 das Vorderhaus Ecke Lützowstraße und Flottwellstraße neu geplant. Das dabei entstandene Wohnhaus hatte die Hausnummern 111 und 112 mit 3 Etagen mit einer Anzahl von Wohnungen. Dabei entstand im ersten Stock oberhalb des Foyers des Saales (Flottwellstraße 8) ein zweiter, kleiner Festsaal nebst einem Vorraum, der etwa 350 Personen fassen konnte – auch der konnte nicht die spätere Synagoge sein, da er als „Schwechtensaal“ in den Jahren um 1925 für Kammermusik-Aufführungen und für Tonaufnahmen (Schallplatten) der Firma Organon diente. Aber das Jüdische Jahrbuch 1926 hatte eindeutig gesagt, dass die Synagoge im ersten Stock lag.

Band 7 der Bauakten endlich ergab einen Fund: Im Jahr 1913 beantragte die Viktoria-Brauerei-AG einen Umbau im 1. Stockwerk des Wohnhaus Lützowstraße 111, bei dem mehrere Zwischenwände aus verputztem Draht (Rabitz-Wand) oder Stahlbändern (Prüss-Wand) entfernt wurden, um größere Räume zu schaffen (Bild 5) – hier wird der als Synagoge genutzte Raum sein, der auch dem optischen Bild der Synagoge entsprach: ein etwa 5 x 10 = 50qm großes Zimmer, das Platz für etwa 150 Personen bot: 6 Stuhlreihen a 5 Stühle plus 4 Stuhlreihen a 5 Stühle plus 60 oder mehr Stühle entlang der Wände; das zumindest entsprach der Größe der sephardischen Vereins um 1925 (Bild 6). 

Bild 5: Situationsplan (links) und Grundriss des Wohnhauses Lützowstrasse 111, 1. Etage, der von uns angenommenen Lage der sephardischen Synagoge im Wohnhaus (aus: 13, Band 7).
Bild 6: Zwei Fotos aus der Synagoge; oben: Blick von der Mitte des Raumes nach Norden; unten: Blick von der Mitte des Raumes nach Süden. Der Sonnenlicht-Einfall auf dem unteren Bild macht deutlich, dass es nicht der Raum zur Lützowstrasse hin gewesen sein kann, da dessen Fenster nach Norden gehen. Quellen: Bild oben aus dem akg-images Bildarchiv Nr. 400090, Fotograf: Abraham Pisarek 1930 mit freundlicher Genehmigung von akg-images; Bild unten: Fotograf unbekannt, Scan vom Titelbild (3).

Dieser Umbau macht aber nur dann Sinn, wenn bereits mit dem Umbau 1913 die Unterbringung der sephardischen Synagoge beabsichtig war – oder eine andere, z.B. kommerzielle Nutzung großer Räume vorgesehen war. Vor dem Umbau (1910) wurde die erste Etage offenbar weitgehend vom Schiedsgericht der Arbeiterversicherung genutzt), und es gab nur zwei weitere Mieter, einer davon war der Wirt R.Saeger des Restaurants der Brauerei. In den ersten Jahren nach der Baufertigstellung hatte die Brauerei hier ihre Verwaltungsräume. Bereits vor dem Umbau 1913 nimmt die Anzahl der Mieter zu, 1912 waren es acht, 1913 und 1914 elf und 1915 zwölf Mieter, darunter Gewerbebetriebe (Bechem & Post GmbH, Silonit-Baugesellschaft mbH), Handwerker, und Selbständige sowie einige Kaufleute (Bild 7).

Bild 7: Auszug aus den Adressbüchern Berlin für die Lützowstrasse 111 der Jahre 1918 bis 1923. Der Sephardische Verein wird erstmals 1923 genannt.

Dass laut Guttstadt (1-3) und anderen bereits 1915 in den Räumen des Vereins in der Lützowstrasse 111 eine Schule eingerichtet wurde, spräche ebenfalls für den früheren Bezug der Räumlichkeiten, allerdings findet sich diese Schule nicht in der Liste aller jüdischen Schulen Berlins zwischen 1915 und 1930. In diesem Fall müsste aber ein privater Mieter der Räumlichkeiten im Adressbuch verzeichnet sein, weil der ISV ja erst 1923 als Mieter im Adressbuch erscheint. Alternativ wäre noch möglich, dass die Wertheim Grundstücks-Gesellschaft die vorhandenen Räumlichkeiten ohne förmlichen Mietvertrag zur Verfügung stellte, weil z.B. der Kaufhausbesitzer Wertheim ein religiöser Jude war – schwer vorstellbar bei einer Aufsicht durch die Baupolizei, immerhin musste die Entfernung der Zwischenwände bezüglich Statik neu berechnet und von der Behörde genehmigt werden. 

Und dennoch muss es so gewesen sein: Ein Brief des ISV an den Rabbiner David Simonsen in Kopenhagen vom 13. Dezember 1918, aufgespürt in der Dänischen Königlichen Bibliothek (Bild 8), zeigt im Briefkopf die Adresse des Vereins: „Lützowstrasse 111 I.Stock rechts„, so dass die zeitliche Lücke kleiner wird und es wahrscheinlicher wird, dass die Synagoge gleich nach dem Umbau 1913 dort eingerichtet wurde. Warum der ISV nicht im Adressbuch aufgelistet ist, ist also dem Umstand zu verdanken, dass die Synagoge in einer Privatwohnung untergekommen war und dass einer der Mieter ab 1913 (oder ab 1918) der sephardischen Gemeinde eine Heimat gegeben hatte, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Angehöriger der Sephardim – die Frage ist nur: wer? Von den 11 Mietparteien 1918, die zum Teil schon vor 1918 und auch noch 1923 im Hause waren, kommen acht in Frage, sowie ein Mieter, der von 1919 bis 1923 hier registriert war. Diese Suche wird also noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Bild 8: Briefkopf des Israelitisch-Sephardischen Vereins zu Berlin mit Datum vom 13.12.1918.

Persönliche Erinnerungen eines sephardischen Jungen, der die Shoah überlebte

Isaak Behar, der 1923 in Berlin geborene Sohn eines noch in Konstantinopel aufgewachsenen sephardischen Ehepaares, das 1916 nach Berlin auswanderte, überlebte die Shoah im Untergrund durch viele Verstecke in den Jahren 1939 bis 1945, während seine Eltern und Schwestern nach Riga deportiert und dort umgebracht wurden. Seine wenigen Erinnerungen an die sephardische Synagoge in der Lützowstraße 111 (er nennt die Hausnummer 110) in die Zeit vor dem Krieg decken sich mit den hier gemachten Angaben, fügen ihnen aber auch keine weiteren Details hinzu. Sie geben stattdessen einen eindrucksvollen Einblick in das das Familienleben der Behars und in die Nöte, die jüdische Familien mit der Machtübernahme der Nazis 1933 ausgesetzt waren (12).

Literatur

1. Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Association A, Berlin 2008.

2. Corinna Guttstadt. Sepharden an der Spree. Türkische Juden im Berlin der 20er- und 30er- Jahre und ihr Schicksal während der Schoah. In: Uwe Schaper, Hrg. Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2008. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2008, S. 215-233.

3. Corry Guttstadt: Sepharden auf Wanderschaft. Vom Bosporus an die Spree, Elbe und Isar. PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für jüdische Studien e.V. 2013, Heft 19, Seite 89-112.

4. M.M.Sinasohn: Die Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner 1671-1971. (Eigendruck) Jerusalem 1971 (Seite 87), (https://vdoc.pub/documents/die-berliner-privatsynagogen-und-ihre-rabbiner-1671-1971-1b6tshurmde0).

5. Nicola Galliner, Hrsg. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1987.

6. Arnold Groh: Searching for Sephardic History in Berlin. In: M.Mitchell Serels (Ed.) Semana Sepharad: The lectures. Studies on Sephardic History. New York 2001, Seite 32-56. (https://s-a-c-s.net/wp-content/uploads/2012/03/SephBerl.pdf).

7. Jüdische Jahrbücher für Gross-Berlin. Jahrgänge 1 bis 8, 1926 bis 1933, Scherbel Verlag, Berlin. (https://archive.org/details/JdischesJahrbuchGrossBerlin/Jg.%201%20%281926%29/

8. Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin, Jahrgänge 1929/1930 und 1931/1932, Goedega Verlag, Berlin (https://digital.zlb.de/viewer/metadata/34039536/0/).

9. Bath Hillel: Sephardim in Berlin. Gemeindeblatt der Jüdischen Gemeinde zu Berlin vom 7.Juli 1935.

10. Israelitisches Familienblatt, Beilage Aus alter und neuer Welt, 14. November 1935.

11. Angel Pulido Fernandez: Espanoles sin patria y la raza sefardi (1904, Neuauflage) 1993 Granada, Universidad de Granada (Seite 294-297).

12. Isaak Behar: Versprich mir, dass du am Leben bleibst. Ein jüdisches Schicksal. Ullstein Verlag, Berlin 2002.

13. Bauakten Lützowstrasse 111 im Landesarchiv Berlin: B Rep. 202 Nr. 4394 bis 4402.

14. Akte im Centrum Judaicum Berlin: CJA 5A1 1249.