Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Noch einmal in das Altersheim Lützowstrasse

Hat man erst mal eine Spur, lässt sie sich leicht verfolgen: Nachdem wir die Nr. 48 und 49 in der Lützowstraße als jüdisches Altersheim identifiziert hatten (JueLe vom 8. Mai 2022), lag es nahe zu fragen, was denn hier vorher war und was aus dem Haus geworden ist, nachdem die Einwohner vertrieben worden waren – und die noch wichtigere Frage: Was eigentlich aus den Einwohnern geworden ist. Für die erste Frage haben wir die Bauakten zu Rate gezogen, für die Fragen zweit und drei haben wir den Kontakt zum Archiv der Jüdischen Gemeinde, dem Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße gesucht.

Die Bauakten Lützowstrasse 48 und 49

Die beiden Bauakten (1) waren unspektakulär, enthielten aber ein interessantes Detail: Fotos der beiden Wohnhäuser aus dem Jahre 1930, die mehr als deutlich machen, was die Zeit (und der Besitzer) mit Wohnhäusern anstellen kann. Das Grundstück mit den (späteren) Nummern 43 bis 51 gehörte einem Rentier Schramm, der dies als Bauland hatte ausweisen lassen. Zum Zeitpunkt des Neubaus (ab 1873) gehörten beide Häuser dem Maurermeister Waldeyer, und der plante sie quasi wie „Zwillingshäuser“, identisch im Aussehen (Fassade) und Grundriss (Vorderhaus nebst Seitenflügel) (Bild 1). Maurermeister waren oft die Eigentümer während der Bauphase eines Hauses, vergleichbar den heutigen Bauunternehmern: Sie erhielten von den Banken den notwendigen Kredit und verkauften meist unmittelbar nach Fertigstellung. Nummer 49 wurde 1875 fertig und hatte in diesem Jahr bereits 7 Mieter, Nr. 48 ein Jahr später, ab 1876 hatten beide Häuser 10 bis 11 Mietparteien. Waldeyer verkaufte das Haus Nr. 49 im Jahr 1879 und Nr. 48 ein Jahr später; in der Folge hatten beide Häuser unterschiedliche und unterschiedlich viele Eigentümer.

Bild 1: Grundrisse der Zwillingshäuser Lützowstrasse 48 und 49 zu Baubeginn (Quelle: (1)).

Fünfundfünfzig Jahre nach dem Hausbau, als die Jüdische Gemeinde die Häuser 1933 erwarb, hatten die beiden nur noch wenig Gemeinsames, wie man den Fotos entnehmen kann (Bild 2). Die Jüdische Gemeinde renovierte das Haus Nr. 48 (Bild 3), und beantragte für das ebenfalls erworbene Haus Nr. 49 Umbauten (im 3. Stock, s. unten) unter anderem mit dem Hinweis, die ursprüngliche Zwillingsnatur beider Häuser wieder herzustellen. Dass dabei nicht an die erneute Ausschmückung der Fassade von Nr. 48 gedacht war, sondern an die „Entstuckung“ (so heißt das, wenn Fassadenstuck entfernt wird) auch für die Nr. 49, ergibt sich aus einem Schreiben der Jüdischen Gemeinde an die Baupolizei (Bild 4) – es sollte allerdings nicht dazu kommen (s. unten).

Bild 2: Fotos der Häuserfassaden Lützowstr.48 und 49 im Jahr 1930. Haus Nr. 48 ist „entstuckt“, das Dach ist ausgebaut, aber insgesamt in schlechtem Zustand. Haus Nr. 49, befindet sich weitgehend im Originalzustand, wenngleich ihm das Alter anzusehen ist (Quelle: (1)).
Bild 3: Die Hausnummer 48 nach der Renovierung durch die Jüdische Gemeinde 1933 (Quelle: Heinrich Stahl Collection AR 7171 im Leo-Baeck-Institute, New York mit freundlicher Genehmigung des Leo-Baeck-Instituts, New York)

Unterschätz die langweiligen Quellen nicht!

Da der Kontakt zum Leo-Baeck-Institut in New York über das Centrum Judaicum Berlin zustande kam, war die naheliegende Frage, ob denn nicht auch in deren Archiv noch Unterlagen zum Altersheim in der Lützowstraße seien, zum Beispiel über die Bewohner in den Jahren 1933 bis 1942. Die Archivarin, Frau Sabine Hank, bestätigte dies im Herbst 2022: Auf Mikrofilm lägen Unterlagen zur Einrichtung einer Telefonanlage im Altersheim sowie Versicherungsunterlagen vor (2). Das klang nun nicht gerade nach aufregender Forschung, so dass es nicht eilig schien und erst bei einem zweiten Termin im Dezember 2022 die Unterlagen gesichtet wurden. Und zunächst schien sich die Erwartung zu bestätigen: Die Einrichtung einer Telefonanlage im Jahr 1933 mit insgesamt sechs Etagen-Anschlüssen fügte den bisherigen Erkenntnissen wenig hinzu, und auch eine Glasbruch-Versicherung erbrachte nichts Neues.

Bild 4: Schreiben der Jüdischen Gemeinde an die Berliner Baupolizei vom 24. Mai 1935 den Umbau des Hauses Lützowstrasse 49 betreffend (Quelle: (1)).

Die Feuerversicherung für das Haus Nr. 49 war 1928 mit 224.400 Mark Versicherungswert geschätzt, der in der Regel den Wiederbeschaffungswert des Hausrats (ohne das Grundstück selbst, das ja bei Brand erhalten bleibt) darstellt; dieser Wert blieb gleich beim Erwerb des Hauses durch die jüdische Gemeinde. Für die Erweiterung des Altenheims nach Erwerb und Umbau des Hauses Nr. 49 im Jahr 1935 (s. oben) wurden 80.000 Mark veranschlagt, so dass am 13. März 1936 der Gesamtwert mit 263.500 Mark angegeben wurde. Dies war vermutlich dem Umstand zu verdanken, dass zu diesem Zeitpunkt nicht das ganze Haus Nr. 49 Teil des Altenheims wurde, sondern nur die obere(n) Etage(n) (s. oben). Neu, aber nicht aufregend.

Völlig unterschätzt dagegen hatten wir die Bedeutung der Haftpflichtversicherung: Die Viktoria-Versicherung wollte natürlich bereits bei Abschluss der Versicherung 1933 die Anzahl der Personen (Heimbewohner und Personal) wissen, für die Schäden über diese Versicherung gedeckt werden sollten, und sie ließ sich dies in den nachfolgenden Jahren immer wieder bestätigen oder korrigieren, so dass die Unterlagen insgesamt ein ungefähres Bild von der Belegung des Heims wiedergeben. In der nachfolgenden Zusammenstellung wird daher die Anfangsbelegung, die zunehmende „Verdichtung“ der Belegung – was nichts anderes bedeutet als die Zusammenlegung mehrerer Personen in einem Zimmer – und schließlich die Auflösung des Heimes und die Verteilung der verbliebenen Bewohner, die nicht bereits deportiert worden waren (zum Beispiel mit dem Versprechen, nach Theresienstadt verlegt zu werden in eine vermeintliche Altersresidenz (3)), auf andere Institutionen und Häuser im Viertel.

Die ursprünglich (1933) abgeschlossene Haftpflicht-Versicherung bei der Viktoria-Versicherung sah für die Lützowstraße 48/49 insgesamt 185 Heiminsassen bei 24 Personalstellen vor, die Adresse in der Police (Rankestraße 33) war jedoch der Sitz des Trägervereins „Jüdische Altersheime e.V.“, nicht das Heim selbst. Eine 1935 abgeschlossene Versicherungspolice sprach von 210 Heimbewohner bei 30 Personalstellen. Am 10. November 1940 wurde das Altersheim Lützowstraße 48/49 aufgelöst, und 100 bis 125 Bewohner (genauso ungenau steht es in den Akten) wurden in ein Altersheim nach Pankow (Berliner Straße 120/121) verlegt. 

Die übrigen Heimbewohner wurden auf folgende Adressen verteilt: In die Lützowstraße 77 kamen 22 Bewohner und 3 Angestellte; in die Lützowstraße 67 verlegt wurden 15 Bewohner und 1 Angestellte; in die Derfflingerstraße 17 kamen 14 Bewohner und 2 Angestellte; und in der Kluckstraße 27 und in der Lützowstraße 72 wurden 3 bzw. 1 „Externer“ als Untermieter untergebracht. Dies macht zusammen 55 Heimbewohner und 6 Angestellte.

Zusammen mit den „100 bis 125“ Bewohnern, die nach Pankow verlegt wurden, kommt man so auf etwa die Zahl von 180 Altersheim-Bewohnern. Wohin die 30 Fehlenden gekommen sind, erschließt sich aus den Unterlagen nicht, ebenso wenig, was auch den ursprünglich 30 Personalstellen geworden ist – natürlich können ältere Bewohner einfach nur gestorben sein, und es hat im Vorfeld der Deportationen viele Suizide unter den jüdischen Bewohnern Berlins gegeben, insbesondere nach dem Beginn der Deportationen 1942 (4). Nimmt man jedoch die gesamte Wohnfläche des Altersheims in der Lützowstraße 48 und 49 (s. oben), lässt sich leicht ersehen, dass selbst mit der ursprünglichen Belegung von 185 Personen eine maximal dichte Belegung erreicht ist und die Erhöhung auf 210 Personen die persönliche Wohnfläche nochmals reduziert wurde. Zum Vergleich: die 20 Mitparteien, die hier vor dem Umbau zum Altersheim wohnten, umfasste mit einiger Sicherheit nicht mehr als etwa 100 bis 120 Personen (einschließlich Kindern). Mit unserer ursprünglichen Schätzung von etwa 40 Bewohnern für Haus Nr. 48 (s. mittendran vom 8. Mai 2022) lagen wir also völlig falsch.

Es fehlen die Namen

Das eigentliche Ziel des Kontakts zum Centrum Judiacum war jedoch, etwas über die Bewohner des Altenheims in der Lützowstraße zu erfahren, aber das erwies sich als Fehleinschätzung; Belegunterlagen sind für die Altersheim der jüdischen Gemeinde nicht überliefert, und in den Adressbüchern Berlins wurden die Heiminsassen nicht persönlich gelistet. Und so bleibt die traurige Möglichkeit, Namen aus den Listen der Deportierten zu extrahieren, deren letzte Adresse mit Lützowstraße 48 oder 49 angegeben worden ist. Da, wie wir jetzt wissen, es jedoch zwischen 1940, der Auflösung des Heimes, und 1942, dem Beginn der Deportationen, viele Verlegungen gegeben hat, dürfte auch dies ein hoffnungsloses Unterfangen sein. Die wenigen Namen, denen wir bei der Recherche eher zufällig begegnet sind, sollen hier stellvertretend für die mehr als 200 Ungenannten aufgelistet werden. Dies sind die Altenpflegerin Johanna Calvary, geboren am 3.1.1896 in München, deportiert und ermordet in Minsk (5), und die Seniorin Rosa Mayer (Meyer), geboren am 25.9.1868 in Wittlich, deportiert und gestorben in Theresienstadt (6) (Bild 5). 

Bild 5: Todesanzeige der Rosa Mayer (Meyer) aus Theresienstadt (Quelle: (6)).

Was nach der Auflösung des Altersheims passierte

Auch dies ein Zufallsfund auf der Internet-Suche nach „Lützowstraße 48“: Nach dem Auszug der Altenheimbewohner zog am 15. Januar 1941 das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in die beiden Gebäude ein, die Oberbehörde der Schutzstaffel (SS), zu diesem zeitpunkt vor allem zuständig für die Personalakten einerseits, die Kontrolle der Konzentrationslager andererseits (7). Sie war damit eine der vielen NS-Institutionen, die sich im Verlauf des Krieges über das Lützow-Viertel ausbreitere, wegen der Regierungsnähe einerseits, der Bombardierungen im Regierungsviertel andererseits – aber das soll Teil einer eigenen Serie von Geschichten sein.

Literatur

1. Bauakten im Landesarchiv Berlin: B Rep. 202 Nr. 4352, 4353, 4354.

2. Akten in Centrum Judaicum Berlin: 1 A Be 2 Nr. 106 bis 108 des Gesamtarchivs.

3. Konzentrationslager Theresienstadt

4. Christian Goeschel. Selbstmord im Dritten Reich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2011.

5. Anja Reuss/Kristin Schneider (Hg.) Berlin-Minsk. Unvergessene Lebensgeschichten: Ein Gedenkbuch für die nach Minsk deportierten Berliner Jüdinnen und Juden. Metropol Verlag, Berlin 2013

6. Quelle des Totenscheins der Rosa Meyer: Datenbank der digitalisierten Dokumente des Ghettos Theresienstadt.

7. Verlegung der Dienststellen des SS-Hauptamtes 1941

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 5

Nachdem Sally Fürstenberg bei der Firma Albert Rosenhain eine Stelle als Kaufmann 1879 angetreten hatte – in einem „Galanterie-, Luxus- und Papeterie-Warengeschäft“ – und bereits 1888 vom Kaufmann Albert Rosenhain zu seinem Mitinhaber ernannt wurde, heiratete er im Jahr 1890 dessen 22-jährige einzige Tochter Rose. In diesem Teil der Geschichte verfolgen wir sein Geschäfts- und Familienleben bis zur – erzwungenen – Geschäftsauflösung durch die Nationalsozialisten.

Sally Fürstenberg, der Geschäftsmann

Auch über Sally Fürstenberg waren die Auskünfte, die der Polizeipräsident 1911 und 1914 an die zuständigen Ministerien lieferte – in Sachen Hoflieferant z.B. -, durchweg positiv. Zunächst das Geld: für das Jahr 1914 betrug sein Einkommen 350.000 und sein Vermögen 1,54 Million Mark. Ehrenamtlich war er als vereidigter Sachverständiger bei Gericht tätig (seit 1903), war Mitglied im Vorstand des Verbands der Berliner Spezialgeschäfte und Mitglied des Fachausschusses der Berliner Handelskammer. Im Juni 1914 beantragte der Verband der Spezialgeschäfte für ihn beim Polizeipräsidenten eine Auszeichnung mit einem Orden und verwiess dabei auch auf seine Wohltätigkeit gegenüber seinen Angestellten, aber aus dem Orden ist wohl nichts geworden. Der Polizeipräsident: „In der Geschäftswelt wie im bürgerlichen Leben erfreut er sich allseitiger Achtung und führt sich einwandfrei. In politischer Beziehung ist nachteiliges über ihn nicht bekannt. Im Jahr 1894 ist er wegen Gewerbevergehens zu 20 M Geldstrafe, im Unvermögensfalle 4 Tagen Haft und 1901 wegen Übertretung des § 370.4 R.St.G.B.* mit 5 M Geldstrafe im Nichtbeitreibungsfalle einen Tag Haft bestraft worden. Soldat war er nicht und besitzt auch keine Auszeichnung“ (11). 

* Reichs-Strafgesetzbuch § 370: Übertretungen – Straftaten im Amte: (1876): Absatz 4: wer unberechtigt fischt oder krebst … Da hat er sich wohl ein Sonntagsessen angeln wollen.

Im Jahr 1914 wurde Sally Fürstenberg zum stellvertretenden Handelsrichter ernannt (s. unten), die entsprechende Personalakte fand sich im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (20).

Die Familie Fürstenberg

Sally Fürstenberg und seine Frau Rosa bekamen in den Jahren 1900 bis 1908 vier Söhne: Paul Phillip Hans, geboren am 30. Juni 1900, Werner Fritz, geboren am 1. August 1904, Ulrich Rolf Ernst, geboren am 15.8 August 1906 und Hellmuth Joachim Moritz, geboren am 7. Juli 1908. Alle vier Söhne lernten den Kaufmannsberuf, verblieben in der Firma des Vaters (s. unten), und emigrierten mit ihm gemeinsam 1938 nach Holland – und von dort weiter nach Übersee vor der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten 1942. Ihnen blieb das Schicksal vieler Juden erspart, die aus Deutschland oder aus den von den Nazis besetzten Gebieten deportiert und ermordet wurden. Ihren weiteren Lebensweg werden wir in einem späteren Teil behandeln.

Auffallend und ungewöhnlich an dieser Familiengeschichte ist der Umstand, dass zwischen Hochzeit (1890) und ersten Kind (1900) zehn Jahre vergingen – Familienplanung oder Schicksal? Familienplanung – im heutigen Sinne: Verzögerung der Geburt von Nachkommen um eigene Ziele, z.B. der Frau zunächst realisieren zu können – scheidet sicher aus, Rosa hatte laut Heiratsurkunde keinen Beruf, half stattdessen in der familiären Firma; der Typus der selbstständigen Frau mit Beruf und eigenen beruflichen Ambitionen entwickelte sich erst nach dem 1. Weltkrieg. Auch war das Herausschieben einer Geburt mit Risiken verbunden, solange Geburten per se ein Risiko waren. Zwar waren die hygienischen Standards weiter entwickelt als noch 50 Jahre zuvor (Semmelweis, Pettenkofer, Koch und anderen sei Dank) und Kindersterblichkeit und Kindsbettfieber deutlich zurückgegangen, aber keineswegs verschwunden: Säuglingssterblichkeit (im ersten Lebensjahr) betrug in Deutschland 1900 noch ca. 16%, Kindersterblichkeit (in den ersten 5 Jahren) noch mehr als 30%, und Müttersterblichkeit war mit 300 toten Müttern auf 100.000 Geburten sehr hoch (heute: 7 pro 100.000 Geburten) (21). 

Um zu prüfen, ob im Zeitraum von 1890 bis 1900 nicht vielleicht doch ein weiteres Kind geboren worden war, das nicht lange überlebt hatte, wurden die Namenslisten des zuständigen Standesamtes in Berlin (Standesamt I/II) durchforstet – ohne Ergebnis. Bleibt noch die Möglichkeit, dass es zu einem spontanen, frühen Abbruch einer Schwangerschaft gekommen sein könnte, der nicht als Tot- oder Fehlgeburt gemeldet werden musste, oder dass eine andere, medizinisch oder sonst wie begründete Zeugungsunfähigkeit bei Mann und/oder Frau vorgelegen haben mag – das wäre dann Schicksal und würde sich einer historischen Analyse weitgehend entziehen.

Der Umzug an den Lützowplatz 1905

In den ersten 15 Jahren nach der Ehe wohnte Sally Fürstenberg noch in der Friedrichstadt, in der Nähe seiner Firma Albert Rosenhain an der Leipziger Straße 72: Zunächst (ab 1891) in der Wallstraße 60, und ab 1896 in der Jerusalemstra0e 11-12; im Jahr 1905 zog die Familie an den Lützowplatz 5 (heute Nr. 9).

Es würde den Rahmen dieser Geschichte sprengen, hier die Auswertung der 7 Bände der Bauakte des Gebäudes Lützowplatz 5 vorzunehmen (22). Eine kurze Version soll hier nur die Rahmendaten berichten: Das Haus war ursprünglich 1873 als freistehendes zweigeschossiges Wohnhaus für die Geschwister Carl Ferdinand und Hermann August Zimmermann und ihre Familien geplant worden (Bild 23), die ein Grundstück von „angeblich 201 QR“ (QR= Quadratruten, ca. 2800 qm) im Jahr 1871 von den Spekulanten Collins & Lau (s. mittendran vom 19.5.2021) gekauft hatten und bis dahin am Tempelhofer Ufer 34 wohnten. 

Bild 23: Situationsplan des Wohnhauses am Lützowplatz 5 (links) sowie Fassade des Wohnhauses 1873 (oben) und 1891 (unten). Quelle: (22).

Die Bauerlaubnis erfolgte am 31. Mai 1873, ein Jahr später wurde der Anschluss der Sickergrube zwischen Wohnhaus und Stall an die öffentliche Kanalisation angeschlossen (Bild 24). Ein Umbau im Jahre 1891 erhöhte das Haus um ein weiteres Stockwerk (Bild 23) und ein Quergebäude anstelle des früheren Stallgebäudes, so dass die Besitzerin, die Witwe Gina Zimmermann, das Haus teilweise vermieten konnte. 1898 wurde das Quergebäude umgebaut und erweitert. Als die Familie Fürstenberg 1905 das Haus erwarb, waren von der Gesamtfläche von 1423qm ca. 634 qm bebaut, so dass – nach einer Erweiterung des Quergebäudes um ca. 80qm im Jahre 1928 – die Familie (Sally, Rosa und 4 Kinder, und zumindest 1924 seine Mutter) auf der sogenannten „Beletage“ (Hochparterre) mit insgesamt mehr als 700 qm komfortable lebte (Bild 25) und die beiden darüber liegenden Etagen vermietete – die Mietpreise bewegten sich zu dieser Zeit im Bereich von 5700 Mark/Jahr für das ganze Haus (1888), wie wir aus einer anderen Akte (23) wissen. Ihre Mieter waren zumeist Professoren und Bankiers, dazu war dies eine viel zu begehrte Lage und der Preis verhältnismäßig hoch, gemessen an den durchschnittlichen Jahreseinkommen.

Bild 24: Grundstücksplan mit Senkgrube und Anschluß an die Kanalisation 1874. Quelle: (22).
Bild 25: Grundriss der Wohnung im Hochparterre, die die Familie Fürstenberg ab 1905 bewohnte. Die farbig markierten Teile sind die Erweiterungen im Jahr 1891, so dass die Gesamt-Wohnfläche 634qm betrug. Quelle: Bauakte (22).

Firmengründung 1924

Zwar hatte sich Albert Rosenhain bereits 1901 aus der Leitung der Firma Albert Rosenhain zurückgezogen und die Geschäftsführung den Gebrüdern Sally und Gustav Fürstenberg überlassen, aber er war mit Sicherheit noch stiller Teilhaber. Als er am 20. August 1916 im Alter von 79 Jahre verstarb, wohnten er und seine Frau Line (Samueline) in Berlin in der Königin-Augusta-Straße 24, auf der anderen Seite des Landwehrkanals. Line Rosenhain geborene Löwenthal starb am 24. Juli 1924 in Alter von 80 Jahre alt und wohnte zu diesem Zeitpunkt am Lützowplatz 5, auch wenn auf ihrer Sterbeurkunde die Adresse Königin-Augusta-Straße 24 angegeben war. Und Rosa Fürstenberg geborenere Rosenhain, Ehefrau des Sally Fürstenberg starb am 8. September 1925, ihr Tod wurde durch ihren Sohn Paul Fürstenberg angezeigt (Bild 26).

Bild 26: Sterbeurkunde der Rosa Fürstenberg geborene Rosenhain vom 8. September 1925.
Der Tod wird vom Sohn Paul Fürstenberg angezeigt.

Spätestens nach dem Tod des Firmengründers war offenbar eine Neugründung der Firma Albert Rosenhain notwendig, wie eine Akte aus dem Handelsregister B des Amtsgerichts Charlottenburg belegt: Am 13. März 1922 hatten Sally und Gustav einen neuen Gesellschaftervertrag vorgelegt, in dem die bislang offene Handelsgesellschaft in eine G.m.b.H. umgewandelt wurde. „Gegenstand des Unternehmens ist der Vertrieb von Leder-, Luxus- und Galanteriewaren, insbesondere der Fortbetrieb des zu Berlin unter der Firma Albert Rosenhain bestehenden Handelsunternehmens, zu dem Grundstücke nicht gehören“ (11). Das Stammkapital von 5 Mio. Mark wird in 500 Anteilen von je 10.000 Mark im Verhältnis von 3:2 unter den beiden Eignern (Sally, Gustav) aufgeteilt. Die Geschäftsführung übernehmen die beiden Gesellschafter, die dafür jeweils ein Jahresgehalt von 200.000 Mark erhalten, die Ehefrauen der beiden werden zu stellvertretenden Geschäftsführerinnen. 

Nach dem frühen Tod seines Bruders und Kompagnons Gustav am 8. April 1931 im Alter von 61 Jahren trat seine Witwe Sophia geb. Birnholz als stellvertretende Geschäftsführerin zurück, blieb aber Gesellschafterin, und Sallys ältester Sohn Paul trat als Geschäftsführer ein. Im Jahr 1933 wurden auch die anderen Söhne Gesellschafter: Das nach Hyperinflation des Jahres 1923 und der Währungsreform 1924 registrierte Stammkapital von 1.25 Mio. Reichsmark (RM) verteilte sich im Verhältnis von 4:2:1:1:1:1 auf Sophia, Sally, und die Söhne Paul, Fritz, Ulrich bzw. Hellmut; die waren jetzt 23, 19, 17 und 15 Jahre alt. Paul bekommt eine Generalvollmacht, seinen Vater in allen Angelegenheiten allein vertreten zu dürfen. Diese Vollmacht wird bereits in Amsterdam im deutschen Generalkonsulat angefertigt – die Familie war 1933 ausgereist. Zwei Jahre später, mit Datum vom 27.September 1935, teilen die beiden Geschäftsführer (Sally, Paul Fürstenberg) dem Amtsgericht Berlin (Handelsregister) mit, dass aufgrund notarieller Verhandlungen vom 16.September 1935 die Gesellschaft aufgelöst ist und sie beide zu Liquidatoren bestellt worden sind. Der Liquidationsprozess dauert allerdings noch bis 1943 und wird erst am 29. Juli 1943 von der Berliner Revisions-Aktiengesellschaft bestätigt, die „die Bücher und Schriften … aufbewahrt“ – davon wird noch zu reden sein (s. unten, Firmenauflösung).

Handelsrichter Fürstenberg

Bereits vor seiner Ernennung und Vereidigung als Handelsrichter im Jahr 1914 war Sally Fürstenberg vereidigter Sachverständiger für Leder-, Luxus- und Galanteriewaren bei den Berliner Gerichten (laut Adressbuch seit 1903), war seit 10 Jahren Kaufmannsgerichts-Beisitzer und II. Vorsitzender des ständigen Ausschusses für den Kleinhandel der Handelskammer zu Berlin. Mit Datum 1. Juli 1914 wurde er für 3 Jahre zum stellvertretenden Handelsrichter am Landgericht II ernannt; diese Bestallung wurde 1918, 1920, 1923, 1926 und 1929 erneuert. 1931 wird er zudem als Sachverständiger für das Kammergericht und die Landgerichte I, II und III bestätigt. Im Jahr 1932 wird die Ernennung zum Handelsrichter nicht erneuert, aber unter ausdrücklichem Verweis darauf, dass dies „lediglich deshalb nicht erfolgt, weil mit Rücksicht auf die Abnahme der Handelssachen eine Verminderung der Zahl der Handelsrichter vorgenommen werden musste“ (20).

Personalakten enthalten keine gerichtlichen oder juristischen Vorgänge, an denen der Handelsrichter Fürstenberg beteiligt war, sondern vor allem Urlaubsgesuche, Krankschreibungen und beamtenrechtliche Vorgänge. Gelegentlich weist dies auf berufliche bedingte Reisen z.B. zur Leipziger Messe hin, manchmal enthalten Urlaubsgesuche Hinweise auf familiäre Gründe: so z.B. bei einem Urlaubsgesuch vom 12. Januar 1924 unter Hinweis auf eine schwere Erkrankung seiner Frau Rosa – „im Dez. 23 und Anfang Januar 24 wegen plötzlich einsetzender Erblindung eines Auges (infolge schwerer Erkrankung ihres Gefäßsystems)“ – die daran im Sommer des Jahres verstarb (s. oben, Bild 26). Oder eine eigene Erkrankung (ein stark juckendes Hautleiden, behandelnder Arzt Prof. Chajes) im Juli 1925, die nach einer Stress-bedingten psychosomatischen Reaktion klingt (wenn dem Autor diese „Ferndiagnose“ gestattet ist).

Und dann findet sich doch noch ein dienstlicher Vorgang: In einem Zeitungsartikel vom 8. September 1925 (20) wurde dem Handelsrichter Fürstenberg und einem weiteren Kollegen vorgeworfen, ihre Positionen im Aufsichtsrat einer Firma dazu benutzt zu haben, einen noch nicht vom Aufsichtsrat genehmigten Bilanzbericht einer Konkurrenzfirma zur Einsicht gegeben zu haben. Die Sache wurde als erledigt betrachtet, als klar war, dass der Konkurrent der Firma früher angehörte hatte, die Daten aus anderen Quellen kannte, und die beiden Aufsichtsräte sich redlich und erfolgreich bemüht hatten, die allseits bekannten Streitigkeiten in der Firma vorgerichtlich zu klären.

Wohin mit dem vielen Geld: Immobilienkauf und Pferderennsport

Zählten die Fürstenbergs bereits nach der Jahrhundertwende zu den reichsten Menschen in Berlin (13), so hat sich diese privilegierte Situation in den Jahren bis zur Auflösung der Firma und Emigration – natürlich – nicht verschlechtert. Deutlich wird dies weniger an der Wohnsituation als vielmehr an den Investitionen, die Sally tätigte. Wir hatten aber schon gesehen, dass sein jüngerer Bruder Gustav 1930 in das Villenviertel Dahlem zog und dort eine Immobilie erwarb und bewohnte.

Zum einen waren dies Immobilien in den besten Lagen der Stadt, wie man den Adressbüchern Berlins entnehmen kann: Das erste Grundstück war in der Leipzigerstraße 73/74, erworben 1906, sowie das rückwärtig dazu gelegene Grundstück Niederwallstrasse 13/14, erworben 1908; hier waren die Geschäftsräume (s. Bild 21). In der Lietzenburgerstraße 13 besaß die Familie seit 1908 ein Grundstück, auf dem ein Wohnhaus stand. 1919 erwarb Sally Fürstenberg auch noch das Grundstück Lützowstraße 60 in unmittelbar Nachbarschaft zum Wohnsitz Lützowplatz 5 – die beiden Gartengrundstücke waren hinter den Häuserreihen miteinander verbunden (Bild 27). Die Familie erwarb 1932 die Grundstücke Kurfürstendamm 230 und 232; Eigentümer war hier die „Kurfürstendamm Wohnstätten AG“ mit Sitz in der Leipzigerstrasse 72,74 (Firma Rosenhain). Weitere Erwerbungen waren 1933 ein Wohnhaus in der Augsburgerstrasse 34 (1934 war der Eigentümer die Firma Rosenhain, Kurfürstendamm 228, danach die o.g. Wohnstätten AG) und 1934 ein Wohnhaus in der Wassertorstrasse 3 (Kreuzberg). All diese Immobilien mussten aufgrund der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938 veräußert werden und wurden – weit unter Wert – für die Bezahlung der Reichsfluchtsteuer genutzt – dazu ein andermal mehr.

Bild 27: Die Grundstücke Lützowplatz 5 und Lützowstrasse 60 des Sally Fürstenberg. Die Gartenanteile stoßen oben rechtwinklig zueinander. Die farbig markierten Bauteile sind Erweiterungen bzw. Abbruch im Jahr 1928. Quelle: Bauakte (22).

Und dann waren da noch die Rennpferde, wie wir aus einer Sammlung von Presseartikeln zu Sally Fürstenbergs 70. Geburtstag im Jahr 1930 erfahren haben – gefunden im Jüdischen Museum von Berlin (JBM), dem JBM von Nachkommen der Familie Fürstenberg in den USA zur Verfügung gestellt (24). Textlich waren die meisten der 33 Artikel nicht unabhängig voneinander (auch Journalisten schreiben voneinander ab), das Foto des Jubilars war in den meisten Fällen das gleiche, und bezüglich der Lebensdaten und Fakten enthielten Sie nicht viel Neues über das hinaus, was wir inzwischen in Archiven gefunden hatten, aber definitiv neu war die Sache mit den Rennpferden. Wenn man sie dann weiß, sind weitere Informationen leicht zu finden in der Tagespresse, insbesondere in den Meldungen zum Pferderennsport.

Zwischen 1922 und 1929 konnte wir acht Rennpferde identifizieren, als deren alleiniger Besitzer Sally Fürstenberg genannt wurde. Dies waren von 1922 bis 1925 der Hengst Contrahent, 1923 und 1924 die Pferde Palette sowie Blücher, 1925 Toga, 1925 bis 1927 Mainberg, 1926 bis 1929 Tullus Hostilius und Freier Wille, und schließlich 1925 bis 1928 Pilatus, das ihm anfänglich zur Hälfte gehörte, zuletzt aber unter E.S.Fürstenberg lief. Mit Mainberg hatte er 1927 seine größten Gewinner: „Herr E.S.Fürstenberg ist der Besitzer des Siegers im großen Preis von Karlshorst, Mainberg, der die Gesamtgewinnsumme, die 37 570 Mark ausmacht, bis auf einen geringen Bruchteil, allein zusammentrug“ (25). Der Hengst mit dem Namen Tullus Hostilius (Bild 28), benannt nach dem sagenumwobenen dritten römischen König (710 – 640 v.Chr.), konnte auf eine stattliche Herkunft zurückblickend, die bei Rennpferden (wie beim Adel) auf das Sorgfältigste dokumentiert wurden und werden; er war vermutlich das teuerste Engagement von Sally Fürstenberg. Er galt in der Saison 1927 als Favorit für das Deutsche Derby, patzte aber aufgrund der Wetterbedingungen. Bei einem Rennen in Berlin-Hoppegarten am 26. Juli des gleichen Jahres verletzte er sich schwer (Bruch der linken Fußwurzel) und schied für weitere Monate aus dem Rennbetrieb aus. Als er im Oktober als wiederhergestellt galt, wurde vermeldet, dass er nicht mehr zum Rennbetrieb tauge, sondern zu Zuchtzwecken eingesetzt werden sollte; 1931 wurde er verpachtet – für Sally Fürstenberg sicherlich ein ganz erheblicher finanzieller Verlust. 

Bild 28: Der irische Schimmel Tullus Hostilius des Sally Fürstenberg. Das Pferd verletzte sich bei einem Rennen 1927 und fand danach zu Zuchtzwecken Verwendung. Quelle: (25).

Die Auflösung der Firma Rosenhain

Die erzwungene Geschäftsauflösung der Firma Rosenhain, der Zwangsverkauf aller ihrer Immobilien und die Zahlung einer horrenden Reichsfluchtsteuer als Voraussetzung für die Emigration der Familie Fürstenberg aus Deutschland sind Thema eines weiteren Teils dieser Geschichte. Deren Grundlage waren eine Vielzahl von antijüdischen Gesetzen, die die Nationalsozialisten in den Jahren nach der Machtergreifung 1933 erlassen hatten (26). Viele der dabei erzwungenen „Verträge“ der Familie Fürstenberg mit dem deutschen Reich wurden erst in den Restitutionsverfahren der Familie nach dem Krieg öffentlich bekannt und werden hier erstmals ausgewertet. Eine Darstellung dieser sinnentstellend „Wiedergutmachungsverfahren“ genannten Prozesse ab 1950 wird diese Familiengeschichte abschließen.

Literatur (für Nummern unter 20 siehe die Teile 1 bis 4)

20. Landgericht II Berlin, Personalakten betreffend den stellvertretenden Handelsrichter Egon Sally Fürstenberg. Signatur 4A KG Pers 10837 im Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam. 

21. Säuglings-, Kinder- und Müttersterblichkeit. Siehe die entsprechenden Artikel in Wikipedia mit diesen und weiteren Quellen, z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Säuglingssterblichkeit.

22. Bauakten des Wohnhauses Lützowplatz 5 (heute: 9) im Bauakten-Archiv des Bezirksamtes Berlin-Mitte; auf Anfrage waren es sieben Akten, die nur durch den Eigentümer einsehbar sind. Die Einsichtnahme erfolgte durch Herrn Dr. Wellmann vom HaL, der die Scans zur Verfügung stellte.

23. Akten der Stadtverordneten-Versammlung zu Berlin, betreffend den Lützowplatz. Im Landesarchiv Berlin, Signataur A Rep. 000-02-01 Nr. 734 – darin sind für die einzelnen Häuser am Lützowplatz die Mieten im Jahr 1888 aufgelistet.

24. Archiv des Jüdischen Museums Berlin (JMB), Akte Nr. L-2005/30/5, ein in Leder gebundenen Buch mit Zeitungsausschnitten von 1930 anlässlich des 70. Geburtstages von Sally Fürstenberg. Das Foto des Pferdes Tullus Hostilius war in der B.Z. am Mittag Nr. 35 vom 5. Februar 1930 auf der Titelseite abgebildet.

25. Deutsche Allgemeine Zeitung, Mittagsausgabe vom 23.November 1927, Seite 3.

26. Die Liste der antijüdische Gesetze finden sich bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_antijüdischer_Rechtsvorschriften_im_Deutschen_Reich_1933–1945

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Die Synagoge Lützowstr. 16

Wenn die Synagoge an der Potsdamer Brücke der „Tempel der Millionäre“ genannt wurde, war dann die nur 20 Jahre später gebaute Synagoge an der Lützowstraße 16 der „Tempel der kleinen Leute“? Weit gefehlt: Sie war größer, besser ausgestattet, eindrucksvoller, und dazu architektonisch sehr viel traditioneller gebaut als die orthodoxe Privatsynagoge, wie ein soeben erschienenes Buch über drei Berliner Gemeindesynagogen (Lützowstraße, Lindenstraße, Rykestraße) belegt (1). Und reiche Gemeindemitglieder hatte sie auch, wie wir sehen werden.

Aufgrund der Fülle des Materials sollen im Folgenden nur einige Aspekte der Baugeschichte beleuchtet werden, für Details und vielfältiges Bildmaterial verweisen wir auf das Buch (1) sowie auf bereits früher publizierte Quellen (2-4) zu den Berliner Synagogen.

Was sind Reformsynagogen?

Als Reformsynagogen werden Gemeindesynagogen bezeichnet, die nicht am strengen, traditionellen jüdischen Ritus ausgerichtet sind. Als liberaler Zweig des Judentums zeichnet sie sich durch eine weniger ausgeprägte Betonung von Ritualen und der persönlichen Einhaltung der religiösen Ge- und Verbote des jüdischen Gesetzes aus als es bei konservativeren jüdischen Strömungen der Fall ist, denn jeder einzelne Jude gilt im liberalen Judentum als autonom. Es bestand und besteht eine große Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen und fortschrittlichen Werten. Ein bedeutender Vertreter in Deutschland war Leo Baeck (1873–1956), die unumstrittene Führungsfigur und Repräsentant der deutschen Judenheit (5).

Die Architekten der Synagoge, die in und für Berlin bedeutende Firma Cremer & Wolffenstein, beantragten am 19. Juni 1896 den Neubau einer Synagoge auf dem Grundstück Lützowstraße 16 und Potsdamerstraße 118 – im Antrag steht fälschlicherweise die Hausnummer 112, aber alle anderen Unterlagen benennen immer die korrekte Nummer 118. Sie führen weiter aus „Da das Allerhöchste nach Osten belegend ein muss …“ (6).

Hier stutzt und staunt der naive Leser: Offenbar galten auch für Reformsynagogen strenge religiöse Bauvorschriften: Allerheiligstes nach Osten, separate Alltags- und Festtags-Beträume, getrennte Eingänge/Höfe für Männer und Frauen, separates Trau-Zimmer, Frauenplätze auf der Empore, etc. Aus diesem Grunde war, so die Informationen aus der Baugeschichte (1), ein vorheriger Plan für eine neue Synagoge am Schöneberger Ufer gescheitert. Und der naive Leser fragt sich weiter: War denn dies alles gegeben bei der kleinen, traditionellen Synagoge an der Potsdamer Brücke, die in einem bereits vorhandenen Gebäude, einem ehemaligen Landwirtschaftsmuseum eingerichtet worden war (s. mittendran vom 20.8.2022)? Jedenfalls bauten die beiden Architekten ihre erste Synagoge in dem Stile, in dem sie zuvor vor allem christlichen Kirchen gebaut hatten: als „dreischiffiger Bau mit zwei kurzen, aber breiten Querhausarmen näherte sich der Grundriss der Form eines lateinischen Kreuzes an und war somit deutlich am christlichen Kirchenbau orientiert“ (1), auch in der äußeren Gestaltung („Backsteingotik“); dies war durchaus im Sinne der Reformgemeinden, die um Gleichstellung mit den christlichen Kirchen bemüht waren, aber innerhalb der Gemeinde nicht unumstritten.

Bild 1 : Grundstück der Synagoge (Schule, unten, an der Lützowstraße 16, und Synagogengebäude im Hof) gemäß Bauakte (6).

Die Synagoge selbst wurde nach jüdischen Vorschriften auf einem von den Kaufleuten Oppenheim (s. unten) bereitgestellten Grundstück (Bild 1). Ähnlich den etwa zur gleichen Zeit entstandenen anderen Gemeindesynagoge in der Lindenstraße und der Sykestraße lag sie als „Hofsynagoge“ nicht unmittelbar an der Straße, sondern war über das Grundstück Lützowstraße 16 zugänglich, in dem eine jüdische Religionsschule, die Wohnung des Portiers, Verwaltungsräume sowie die Wohnung des Kastellans (Kantors) untergebracht war. Ein 5,3m breiter Torbogen durch das Schulgebäude erlaubte den Zugang (Bild 2) zu dem hinter der Häuserreihe gelegenen Synagoge (Bild 3); die Eigentümer der Nachbargrundstücke hatten dieser architektonischen Lösung zugestimmt. Diese Lage und Nähe speziell des Schulgebäudes zu den Wohnhäusern in der Nachbarschaft hat in der Reichspogromnacht (9. November 1939) vielleicht verhindert, dass die Synagoge – wie viele andere – ein Opfer der Flammen wurde.

Bild 2: Zeichnung des Schulgebäudes (rechts, aus Bauakte (6)) und Foto des Torgitters zum Hof (links, aus: Berliner Architekturwelt, 21. Jahrgang 1919, S. 104, Abb. 149, gemeinfrei)
Bild 3: Haupteingang der Synagoge (Zeichnung, links, aus Bauakte (6)) und Foto (rechts, aus: Berliner Architekturwelt, 21. Jahrgang 1919, S. 105, Abb. 150, gemeinfrei) – man beachte die zwischen Bauplanung und Ausführung sichtbaren Modifikationen, z.B. des Giebels.

Die Synagoge bot Platz für fast 2000 Besucher (840 im Erdgeschoß, 945 auf der ersten Empore, 82 auf der zweiten (Frauen-)Empore, dazu 60 Plätze auf der Sängerempore) und war damit eine der größere der Synagogen in Berlin (Bild 4). Sie wurde am 11. September 1898 feierlich eröffnet (7).

Bild 4: Grundriss (links, aus Bauakte (6)) und Foto des innenraumes (aus: Berliner Architekturwelt, 21. Jahrgang 1919, S. 106, Abb. 151, gemeinfrei).

Die Bauzeit war mit knapp 1,5 Jahren (April 1897 bis September 1998) sehr kurz. Die gesamten Baukosten (ohne die Grundstückskosten) beliefen sich auf 515.000 Mark, nach Kaufkraft von heute also etwa das 7-fache in Euro, mithin günstig; die Innenausstattung der Synagoge kostete nochmals etwa 80.000 Mark, die des Vorderhauses etwa 100.000 Mark. Die am Bau und an der Ausstattung beteiligten regionalen und überregionalen Firmen sagen uns heute nicht viel, aber der Lieferant der Orgel verdient Erwähnung: E.F.Walcker u. Co., Ludwigsburg, eine seit dem 18. Jahrhundert im Orgelbau bekannte Firma, die Orgeln in aller Welt gebaut und installiert hat und immer noch baut (8).

Der Orgelstreit

Die Archivarin den Centrum Judaicum, Sabine Hank, erzählte bei einem Besuch folgende Geschichte: als sie einer Nachfahrin eines ehemaligen Berliner Rabbiners erzählte, dass sie in der früheren Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin arbeite, hätte diese entgegnet „Ach, die Orgelsynagoge, in die sind wir nie gegangen“. Was hat sie damit gemeint?

In einer traditionellen Synagoge gab es keine Musik, einzig der Kantor intonierte die vorgeschriebenen religiösen Gesänge. Als einige reformierte Gemeinden zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu übergingen, Orgeln zu installieren und Kirchenmusik einzuführen, kam es zum „Orgelstreit“: „Keine andere synagogale Reform hat so erbitternden Widerstand gefunden wie diese; sie wurden in vielen deutschen Gemeinden der Anlaß zur Bildung von `gesetzestreuen` Gemeinden. Orgelsynagoge erhielt geradezu die Bedeutung von Reformsynagoge“ (9). 

Es wurden von beiden Seiten Gutachten eingeholt zur drei Fragen: 1. Ist Instrumentalbegleitung beim Gottesdienst überhaupt statthaft? 2. Ist sie an Sabbat und Festtagen statthaft? 3. Ist speziell Orgelspiel in Synagogen gestattet? Und wie immer in solchen Fällen gab es positive wie negative Antworten auf diese Fragen, z.B. dass das talmudsche Verbot von Musik sich auf Gelage, aber nicht auf Kirchenmusik beziehe; dass Musik keine Arbeit sei, sondern Kunst, daher zulässig am Sabbat; dass es nur Juden, aber nicht Nicht-Juden verboten sei, an Festtagen zu musizieren; dass die Orgel gar keine christliche Erfindung sei, sondern aus dem Tempel in Jerusalem stamme; dass bei einer jüdischen Hochzeit Musik erlaubt sei, daher erst recht bei der religiösen Feier einer ganzen Gemeinde, usw. usw. (9).

Ab Mitte des 19.Jahrhunderts wurden nach und nach Orgeln in jüdischen Gemeinden in Europa (Österreich 1857) und Amerika (Charleston 1841) installiert. Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin erhielt 1862 eine Orgel, aber auch hier gab es Befürworter und Gegner. Eine Synode erklärte schließlich die Einführung der Orgel für empfehlenswert, „… es steht ihrem Spiel am Sabbat und an den Festtagen kein religiöses Bedenken entgegen“ (1869) und „es ist dem Israeliten gestattet, am Sabbat die Orgel im Gotteshaus zu spielen“ (1871). Und so erhielt auch die Synagoge in der Lützowstraße eine Orgel, noch dazu eine der Firma Walcker, Ludwigsburg.

Wie kam die Gemeinde zum Grundstück und zum Bau?

Das im Bauantrag (s. Bild 1) genannte Grundstück Potsdamer Straße 118 wird uns an anderer Stelle noch mal begegnen: hier wohnte von 1837 bis 1856 der Besitzer der Druckerei Haenel, Eduard Hänel (1804-1856), der seine Villa 1840 vom Baumeister des Bürgertums, Eduard Knoblauch (1801-1865) hatte bauen lassen. Nach seinem Ableben (1856) war die alleinstehende Villa 1861 noch für einige Jahre in andere Hände übergegangen (Hertel bzw. Hertel´sche Erben), aber 1883 wurde das Grundstück von den Gebrüder Julius und Louis Oppenheim erworben, das Grundstück wurde geviertelt (118, 118a bis c), die Villa abgerissen und zunächst durch drei mehrstöckige Wohnhäuser entlang der Straßenfront ersetzt, von denen zwei je einem der beiden Brüder gehörte und die zum Teil Mietwohnungen waren; das dritte Haus (118) gehörte dem Rentier Neißer, das vierte Grundstück (118c) blieb bis 1895 unbebaut.

Da das Hänel´sche Grundstück weit in das Hinterland bis zur Druckerei reichte, trennten sich die Brüder Oppenheim 1896 von einem Teil dieses Grundstücks und vermachten es der jüdischen Gemeinde (Bild 1): Die Grundfläche im Hinterland Potsdamer Straße 118b, die damit für den Synagogenbau zur Verfügung stand, betrug 3121 qm zuzüglich 301 qm für das Grundstück Lützowstraße 16, das Julius Oppenheim 1883 ebenfalls erworben hatte, insgesamt also 3422qm, wie Cremer & Wolffenstein im Bauantrag ausführen (6) (Bild 5).

Bild 5: Situationsplan der Lage der Synagoge, projiziert auf einen Straßen- und Gebäudeplan von 1889. Die gelb markierte Fläche ist die für den Synagogenbau zur Verfügung gestellte Fläche von 3422 qm, die die Gebrüder Louis und Julius Oppermann von ihren Grundstücken (Potsdamer Straße 118a, blau; 118b, grün) abgezweigt und der jüdischen Gemeinde geschenkt hatten, einschließlich des Grundstücks Lützowstrasse 16.

Die Kaufleute Oppenheim

Bei der Suche nach der Herkunft der Gebrüder Oppenheim verirrt man sich leicht in dem Umstand, dass es zur gleichen Zeit eine große jüdische Familie Oppenheim in Berlin gab, die im Bankgeschäft tätig waren – die Brüder Louis und Julius Oppenheim gehörten nicht zu ihnen, sie waren Kaufleute, deren Familie aus Pommern stammte, die erst sehr viel später zu Bankiers wurden (s. unten). Aber es gab auch viele Kaufleute mit diesem Namen (und gleichen oder ähnlichen Vornamen, die im Adressbuch meist abgekürzt wurden). Diesen Fehler machen nicht nur Kiezforscher wie wir, sondern auch das Adressbuch Berlins hat angelegentlich die Familien verwechselt. 

Der zielführende Weg war hier der folgende: Die Sterbeurkunden der Brüder Louis und Julius Oppenheim gaben den richtigen Namen des Vaters preis (Neumann Oppenheim), darüber konnten wir dann im Judenbürgerbuch Berlins (10) seine Herkunft und in den Adressbüchern den Weg des Geschäftes verfolgen und ab Jahr der Volljährigkeit der Söhne (1867 bzw. 1869) auch deren Wohnsitze bis zum Umzug in die Potsdamer Straße.

Der Vater von beiden war also Neumann Nachmann Oppenheim, geboren am 2. Juni 1808 in Schwerin an der Warthe (heute: Skwierzyna, Polen), ein Kaufmann. Er hatte am 25. November 1830 das Bürgerrecht bekommen und handelte mit Samt- und Seidenwaren (10). Dessen Vater wiederum war ein Jacob Levin Oppenheim, geboren am 24. September 1777 in Schwerin a.d.W., Kaufmann zu Pyritz in Pommern. Neumann Nachmann Oppenheim heiratete mit 23 Jahren am 11. Dezember 1831 die Lene (Helene) Lindenau, Tochter des Jacob Herz Lindenau, Commissionair, aus der Lindenstraße 15, 28 Jahre alt (10). Neumann und Helene Oppenheim hatten 3 Kinder: Anna Oppenheim (1832-1898), Julius Oppenheim (1833-1909) und Louis Oppenheim (1835-1909).

Vom Kaufmann zum Bankier

Neumann Nachmann Oppenheim erhielt laut Judenbürgerbuch (10) im November 1830 das Bürgerrecht. Im Adressbuch ist er erstmals 1831 verzeichnet: „N.Oppenheim, Modewaaren-Handel, Brüderstraße 18“. Im Jahr 1871 heißt die Firma dann „N.Oppenheim Söhne“ (Damen und Mäntel-Fabrikant, Bazar zur Flora, Jerusalemstr. 20, Eigentümer sind J. und L. Oppenheim). 1879 wird die Firma N.Oppenheim Söhne liquidiert, ein Jahr später ist am gleichen Ort das Bankhaus „N.Oppenheim Söhne“, und die beiden nunmehr als Banquiers bezeichneten Geschäftsleute wohnen in der Eichhornstr. 8 (Louis) und am Halleschen Ufer 28 (Julius) bis zu ihrem Umzug in die Potsdamer Str. 118a bzw. 118b im Jahr 1885. Das Bankhaus existiert noch bis 1891, danach sind die Brüder Rentiers in ihren Häusern; beide starben im Jahr 1909.

Nach dem Tod von Louis und Julius

Von 1909 bis 1920 gehörten die Häuser 118a und 118b den Oppenheimer´schen Erben. Im Haus 119b wohnte 1905 noch die Witwe und Rentiere Anna Oppenheim, die Schwester von Louis und Julius. Ab 1907 ist der einzige Mieter der Deutsche Lyceum-Klub, ein Frauenklub der oberen Zehntausend von Berlin, gegründet von Marie von Bunsen (1860-1941) – auch die ist uns schon begegnet (s. mittendran vom 8. Juni 2021). Im Jahr 1910 zieht die Firma Keller und Reimer, ein Kunstsalon, der bislang an der Potsdamer Straße 122 residierte (s. mittendran vom 28. März 2021) als Mieter ein. Eigentümer ist zuletzt Prof. Leo Paul Oppenheim (1863-1934) aus Berlin Lichterfelde, ein Sohn von Julius und bekannter Geologe und Paläontologe. Im Haus Nr. 118a wohnte bis 1913 die Witwe und Rentiere Lene Oppenheim, die Mutter von Louis und Julius, und bis 1916 die Rentiere Jenny Oppenheim, die Witwe von Louis Oppenheim. Im Haus Nr. 118b residierte nach 1933 das Rassenpolitische Amt der NSDAP, das Rudolf Hess unterstellt war, und das sogleich Beschwerde einlegte gegen die Synagoge (1), aber das gehört in eine andere Geschichte.

Wie wurde die Eröffnung der Synagoge von der Presse aufgenommen?

Zur Einweihung am 11. September 1898 war viel lokale politische Prominenz anwesend, wie die Berliner (Vossische Zeitung vom 12. September 1898) und die jüdische Presse (Jg. 29, 1898, Nr. 39, vom 14. September 1898) zu berichten wussten, in weiten Teilen offenbar auf einem gemeinsamen Text beruhend, der in seinen technischen Teilen (Architektur, Baugeschichte) viele Übereinstimmungen aufweist mit dem im Oktober des gleichen Jahres veröffentlichten Bericht im Centralblatt (7), vermutlich, weil die Architekten die entsprechende Informationen vorab geliefert hatten, die dann auch im Centralblatt veröffentlicht wurden.

Unterschiede zwischen den beiden Berichten konnten wir nur hinsichtlich des letzten Satzes des Artikels in der Jüdischen Presse finden, in dem es heißt, daß ein Chorgesang die Feier beendete, „bei welcher nicht einziges hebräisches Gebet gesprochen wurde, wohl aber Männer und Frauen neben einander saßen“ – dieser Halbsatz fehlt im Artikel der Vossischen Zeitung (Bild 6), ist aber sicher als Referenz an die konservativen Leser der Jüdischen Presse zu verstehen und nachvollziehbar. Auch der Satz „Die staatlichen Behörden waren, wie die antisemitschen Blätter mit Genugtuung hervorheben, nicht vertreten“ fehlt in der Vossischen Zeitung, aber es bleibt offen, welche Zeitungen damit gemeint waren.

Bild 6. Artikel in der Voss´sche Zeitung vom 12. September 1898.

Nicht abgebrannt, aber brutal entweiht

Zwar hatte die Synagoge die Pogromnacht 9. auf 10. November 1939 äußerlich nahezu unbeschädigt überstanden, wohl aber im Innern verwüstet („Altar und Altargegenstände … abgebrochen“). Ob die jüdischen Heiligtümer, z.B. die Tora-Rolle, ebenfalls vernichtet worden sind, ist nicht bekannt, aber es fand vom 22. bis 24. April 1940 noch ein Pessach-Fest statt (3). Im weiteren Verlauf wurde sie dann auf brutale Weise „säkularisiert“ (entweiht, profaniert): 1941 befand sich im Innenraum der Synagoge das Lager einer Möbelfirma, und mit Schreiben vom 13. Oktober 1942 genehmigte der Stadtpräsident von Berlin den „Umbau der Synagoge, sowie eines behelfsmäßigen Lageschuppens und eines vierräumigen Kraftwagenunterstellraumes auf dem Grundstück Lützowstrasse 16„. Die endgültige Zerstörung des Synagogengebäudes erfolgte dann durch die Bombenangriffe, vermutlich am 30. Januar 1944.

Literatur

1. Konstantin Wächter: Die Berliner Gemeindesynagogen im Deutschen Kaiserreich. Integration und Selbstbehauptung. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2022.

2. Synagogen in Berlin, Zur Geschichte einer zerstörten Architektur, Teile 1 und 2. Verlag Wilhelm Arenhövel, Berlin 1983.

3. Nicola Galliner, Hrsg. Wegweiser durch das jüdische Berlin. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 1987.

4. Max Sinasohn: Die Berliner Privatsynagogen und ihre Rabbiner, 1671-1971. Zur Erinnerung an das 300jährige Bestehen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Jerusalem 1971.

5. https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Baeck

6. Akte im Landesarchiv Berlin (B Rep. 202 Nr. 2284): „betreffend Grundstück des Eigenthümers: Oppenheim, Jüdische Gemeinde, Lützow.Str. 16, Band 2 (1896)“

7. Centralblatt der Bauverwaltung, 8. Jahrgang Nr. 41 vom 8. Oktober 1898, S. 491-4.

8. https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Friedrich_Walcker

9. Max Joseph, Cäsar Seligman: Orgelstreit. In: Jüdisches Lexikon, Band 4.1, Jüdischer Verlag, Berlin 1930 Spalte 601-4.

10. Jacob Jacobson: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809-1851. Verlag Walter de Gruyter & Co., Berlin 1962.

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 3

Im zweiten Teil haben wir die Generation der Eltern kennengelernt, heute sind Sally Fürstenberg und seine Geschwister das Thema unserer Geschichte. Sally Fürstenberg war das älteste der vier Kinder von Emma und Philipp Fürstenberg; er wurde am 5. Februar 1860 geboren, zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie in der Turmstraße 45 in Moabit.

Sally Fürstenbergs drei Geschwister

Martha Fürstenberg, geboren 8. Januar 1862. Sie heiratete am 1. April 1886 den Handlungs-Commis (Handlungsdiener) Emil Brock, geboren am 25. November 1858 aus Zellin, Kreis Königsberg, Neumark, Sohn des dort verstorbenen Kaufmanns Levin Judas Brock und dessen Ehefrau Laura, geborene Franck. Sie hatten zwei Kinder, Edith, geboren 1886 und Alice Margarete, geboren 1897. Die erste heiratete einen Horwitz, die zweite einen Dreifuss. Die Familie Brock, auch die beiden Töchter, wandern 1939 über Argentinien nach Uruguay aus (Bild 10). Dort starb Martha am 17. Mai 1946, nachdem 10 Monate zuvor ihr Mann verstorben war (Bild 11).

Bild 10: Passagierliste des Schiffs „Oceania“ nach Montevideo über Buenos Aires am 16. Oktober 1939 mit dem 81-jährigen Emil Brock und seine 77-jährige Frau Martha, geborene Fürstenberg sowie der jüngeren Tochter Alice Dreifuss geborene Brock mit drei Kindern (die letzten sechs Zeilen). In allen Pässen waren schon die jüdischen Zwangsnamen Israel bzw. Sara eingetragen. Sie kamen zu diesem Zeitpunkt aus Genf und hatte in Triest eingeschifft.
Bild 11: Todesanzeige für Martha Brock geborenen Fürstenberg und Emil Brock im Jahr 1946 in einer deutschsprachigen Zeitung in Uruguay (Quelle: unbekannt)

Julius Fürstenberg, geboren in Berlin am 18. Dezember 1865, wanderte bereits mit 18 Jahren in die USA aus. Einer eidesstattlichen Erklärung zur Erlangung eines Passes im Jahr 1907 können wir eine Reihe von Daten entnehmen: Erstmalige Einreise – per Dampfer von Bremen – am 23. Juli 1883, zwischen 1890 und 1907 dauerhaft in den USA, zum Zeitpunkt der Antragstellung in Houston, Texas wohnhaft; er wurde amerikanischer Staatsbürger im September 1906, sein Beruf: Stewart. 

Julius heiratete zweimal, in beiden Fällen eine Christin – was offenbar in den USA keine Rolle spielte, aber zu der in Teil 1 geschilderten genealogischen Verwirrung Jahre später führte. Die 1. Ehe war mit einer Katharine Riess (oder Reiss) am 20. Oktober 1891 in Galveston, Texas, USA; sie war 1871 in Deutschland geboren worden und starb am 30. August 1900 in Harris, Texas. Ihr Sohn Fritz Julius Carl wurde am 6. März 1899 in Potsdam geboren und am 14. Oktober 1900 in Harris County getauft. Die 2. Ehe wurde am 16. November 1905 in der Trinitiy Lutheranean Church, Harris County Texas geschlossen, seine Frau war Elise Loeser, geboren 1858 in Chemnitz, sie war mit ihren Eltern 1888 in die USA eingereist. Sie brachte einen Sohn (Willi Loeser, 1882-1942) mit in die Ehe. Julius starb am 17. Juni 1911 im Alter von nur 45 Jahren in Houston an einem Lungenkarzinom (Bild 12), der Sohn Fritz aus erster Ehe starb 1966 ebenfalls an einem Lungenkarzinom.

Bild 12: Sterbeurkunde für Julius Fürstenberg vom 17. Juni 1911

Gustav Fürstenberg, der 6 Jahre jüngere Bruder von Sally, wurde am 17.Juni 1868 geboren – er starb am 8. April 1931 in Berlin in der Charité. Kaufmann wie sein Bruder, wurde er 1901 zu dessen Partner und Teilhaber an der Firma Albert Rosenhain und wurde innerhalb kürzester Zeit zu einem sehr reichen Mann. Als die Firma 1911 um Verleihung des Titels „Großherzoglich Sächsischer Hoflieferant“ beim Sächsischen Hofmarschallamt in Weimar nachsuchte, bat das Amt den Polizeipräsidenten von Berlin um Auskunft „über das Geschäft, den Ruf und die Vermögensverhältnisse der Gesuchsteller„, ebenso beim Antrag zur Führung des Titels Hoflieferant des Königs von Rumänien 1913 (Bild 13). Aus dieser Akte (11) erfahren wir einiges aus der Geschichte der Firma, aber auch Gustavs Vermögensverhältnisse: „Sein Ruf und seine Führung sind einwandfrei. Für das laufende Jahr ist er mit einem Einkommen von 90 000 bis 92 000 und einem Vermögen von 260 000 bis 280 000 M zur Steuer veranlagt“ – und das macht nach einer Umrechnungstabelle der Bundesbank (12) etwa das 5,6-fache in Euro heute, also knapp eine halbe Million Jahreseinkommen und 1.5 Millionen auf der Bank. Im Jahr 1914 wurde Gustav, wie zuvor sein Bruder Sally, vereidigter Sachverständiger bei den Berliner Gerichten.

Bild 13: Genehmigung des Polizeipräsidenten vom 30. Juni 1913 für Gustav Fürstenberg, Hoflieferant des rumänischen Königshauses zu werden (aus: Akte im Landesarchiv Berlin (11)).

Auch wenn er nicht ganz so viel verdiente wie sein älterer Bruder, bei dem laut „Millionäre in Preußen“ (13) ein Einkommen von 170.000 und ein Vermögen von 2,8 Millionen für das Jahr 1911 zu Buche schlugen, reichte dies aus, einen Hausstand zu gründen: Gustav heiratete am 6. Januar 1914 die Sophia Birnholz, geboren am 21. Oktober 1887 zu Berlin, Tochter des Rentiers Elias Eduard Birnholz und dessen Ehefrau Pauline, geborene Lichtenstein, wohnhaft Wilmersdorf (Schayerstraße 1). Gustav und Sophia hatten zwei Töchter, Leonie und Vera. In seinem Testament von 1930 (14) setzte er seine Frau als Alleinerbin ein, verfügt aber, dass die Töchter Nacherben zu gleichen Teilen sein sollten.

Zum Zeitpunkt seines Todes wohnte die Familie in Berlin-Grunewald, Siemensstraße 19-21, aber Gustav wohnte noch bis 1904 in der Josephstraße 5 in Kreuzberg. Dann zog er näher an das Zentrum und zu seinem Arbeitsplatz und wohnte für zwei Jahre (1905, 1906) in der Jerusalemstraße 11-12, nachdem Sally dort ausgezogen und an den Lützowplatz gezogen war. 1907 ging es weiter westlich nach Charlottenburg (Kantstraße 3,4), dann Rankestraße 8 (1910-1914) und dann für viele Jahre (bis 1929) in die Lietzenburgerstr. 51. Und schließlich 1930, ein Jahr vor seinem Tod, zog die Familie in den Grunewald (Siemensstr. 19-21), wo sie ein bereits vorhandenes Haus gekauft hatten: die wechselnden Adressen spiegeln eindrucksvoll den ökonomischen Aufstieg der Familie.

Egon Sally Fürstenberg

Egon Sally Fürstenberg nannte sich erst ab 1901 so, in den Jahren zuvor war sein Name in den Adressbüchern mit Sally oder (abgekürzt) mit S. Fürstenberg angegeben. Dazu weiß der Polizeipräsident einige Jahre später: „Nach den Registern heisst er mit Vornamen nur Sally und unterzeichnet sich auch vor Gericht so. Den Vornamen Egon hat er sich augenscheinlich willkürlich zugelegt …“ (11). Vermutlich war der Name Sally, auch wenn er modern klang, angelehnt an Salomon, und dies wiederum war Sally zu jüdisch, so dass er sich einen weiteren Vornamen gab.

Als Sally Fürstenberg geboren wurde (5. Februar 1860), wohnte die Familie noch in der Turmstraße in Alt-Moabit, aber schon im nächsten Jahr zieht sie ins sogenannte Scheunenviertel, dem traditionell jüdisch bewohnten Bezirk im Nordosten der Stadt (siehe Bild 7 in Teil 2) – dort bleiben sie für die nächsten 20 Jahre hängen mit den für Berlin typischen häufigen Wechseln der Mietwohnung, weil Nachwuchs kommt einerseits, weil die Mieten steigen andererseits. Solange Kinder kein Gymnasium besuchen, lassen sich genealogische Spuren in dieser Zeit kaum eruieren: Schulzeiten sind archivarisch normalerweise nicht dokumentiert (mit Ausnahme des Abiturs, das in den obligaten Jahresberichten der Gymnasien an die Kultusadministration dokumentiert ist, oder wenn schulinterne Zeugnis- und Versetzungsberichte in ein Archiv eingestellt wurden), Lehrzeiten noch weniger, und auch Arbeitsverhältnisse kaum, wenn sie nicht im öffentlichen Dienst waren.

Die Schule wurde in der Regel ab dem 6. Lebensjahr für 8 Jahre besucht, eine Kaufmannsausbildung dauerte mindestens 5 Jahre, also dürfte Sally mit etwa 14 oder 15 in eine Kaufmannslehre bei einer Firma eingetreten sein und mit 19 oder 20 dort seine Lehre angeschlossen haben – das wäre dann für ihn 1879 oder 1880. Nach Beendigung der Lehre trat er 1879 nachweislich bei der Firma Albert Rosenhain in Berlin eine Stelle an und wurde bereits nach wenigen Jahren (1888) vom Kaufmann Albert Rosenhain zu seinem Mitinhaber ernannt; außerdem gab der ihm die einzige Tochter Rose, geboren am 30. Januar 1868 in Berlin, zur Frau (1890) (Bild 14).

Bild 14: Heiratsurkunde des Sally Fürstenberg und der Rose Rosenhain vom 19. Juni 1890.

Im nächsten Teil werden wir die Geschichte der Familie Rosenhain rekonstruieren, hat doch der Name der Firma Albert Rosenhain für weitere 50 Jahre bestanden, auch als er längst in die Hände der Familie Fürstenberg übergegangen war.

Literatur:

11. Akte im Landesarchiv Berlin (A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 12764) „betreffend die Firma Albert Rosenhain. Inhaber: Kaufmann Sally Egon Fürstenberg, Gustav Fürstenberg“, darin Blatt 7ff.

12. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

13. Rudolf Martin. Nachtrag zu den 12 Provinzbänden des Jahrbuchs der Millionäre im Königreich Preußen. Verlag Rudolf Martin, Berlin 1913.

14. Akte im Landesarchiv Berlin (A Rep. 342-02 Nr. 60363): Amtsgericht Charlottenburg, Handelsregister B „betreffend Albert Rosenhain GmbH“, darin Blatt 103-104.

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 2

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Großeltern des Egon Sally Fürstenberg kennengelernt, Joseph David (Fürstenberg), der Handelsmann aus Lindow und seine Frau Fanni, geborene Levin/Michel. Sie hatten zwei Söhne, David Fürstenberg, geboren 1820 in Lindow, und Philipp Fürstenberg, geboren 1824, ebenfalls in Lindow, der Vater des Egon Sally.

MAHNMAL FÜR ZEUGEN JEHOVAS IM TIERGARTEN

Die Zeugen Jehovas sind eine religiöse Gruppe, die während der NS-Zeit verfolgt und ermordet wurde. Sie lehnten den Hitlergruß, den Wehrdienst und die Mitgliedschaft in der NSDAP ab. Dafür wurden sie diskriminiert, entrechtet, inhaftiert und ermordet.

Das Buch Esther – Präzedenzfall für die deutsche Geschichte

Das jüdische Purimfest wird in diesem Jahr am 25. und 26. Februar gefeiert.  Aus der Thorarolle wird dazu in der Synagoge stets die Buchrolle „Esther“ mit seinen 10 Kapiteln rezitiert. In dieser äußerst dramatischen Schilderung eines knapp verhinderten Genozids vor unserer Zeitrechnung erscheint zum ersten Mal das Wort „Yehudi“ (Jude). Gott kommt nicht vor. Es ist der Zufall, der im Buch Esther das Schlimmste verhindert.