Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 4)

Im vierten Teil der Familiengeschichte der Blumenreichs geht es um den 1880 geborenen Walter Blumenreich, der sich ab 1919 aus uns bislang nicht bekannten Gründen Walter Blonck nannte. Es gibt nur wenige Informationen zu ihm.

Walter Blumenreich (1880-1942)

Walter Blumenreich wurde 15. Mai 1880 in Berlin geboren; sein Vorname variierte in der Schreibweise (Walter, Walther), so dass wir uns entschieden haben, ihn einheitlich Walter zu nennen, wie es in seiner Geburtsurkunde geschrieben steht. Wie seine Geschwister hatte er mehrere „Mütter“, die sich nacheinander um ihn kümmerten – genau genommen vier -, aber er scheint den steten Wechsel der Bezugspersonen (1884 Tod der leiblichen Mutter, 1886 erneute Heirat des Vaters, 1890 Scheidung, 1891 erneute Heirat, 1899 Suizid der Stiefmutter, 1902 erneute Heirat, 1906 Tod des Vaters) im Alter zwischen 4 und 26 Jahren dramatischer erlebt haben als der jüngere Leo (mittendran vom 11. August 2024) und der ältere Arnhold (mittendran vom 20. Juli 2024), wie wir sehen werden.

Auffällig ist, dass er wie seine beiden Brüder dem Vorbild des Vaters folgte und zunächst eine Ausbildung als Buchhändler machte – nur das wo und wann können wir nicht rekonstruieren, aber das ist bei den meisten Ausbildungsgängen so, es sei denn, sie finden an Universitäten statt. Wir finden Walter Blumenreich erstmals im Berliner Adressbuch im Jahr 1905: Der 25-jährige Walter Blumenreich war Geschäftsführer und Gesellschafter der „Berliner Verlag GmbH“, Lützowplatz 3; im Jahr darauf: Schöneberger Ufer 32, und von 1908 bis 1910: Verlagsbuchhandlung Walter Blumenreich, Kurfürstenstr. 3.  Von 1911 bis 1918 schließlich wohnte er in der Genthiner Str. 13, in der heute Begas-Winkel genannten Privatstraße. Die Villa K hat heute die Nr. 31K und ist die ehemalige Villa des Künstler-Ehepaars Begas-Parmentier (mittendran vom 6. April 2022). Buchhandlung und Verlag residierten in der Linkstraße 29. Dann verschwand Walter Blumenreich aus dem Adressbuch, war aber noch bis 1927 im Handelsregister als Buchhalter der Firma Brack & Keller in der Linkstraße registriert.

Der Kunstbuchverlag Carl Brack & Keller GmbH mit einem Stammkapital vom 70.000 Mark (1905 erhöht auf 90.000 Mark) war am 24. Februar 1904 von den Kaufleuten Willy Wollank und Albert Heinrich Goldschmidt übernommen und im Handelsregister eingetragen worden (HRB 2458). Nach mehreren Änderungen der Geschäftsleitung und Prokura trat am 6. Dezember 1916 der Verlagsbuchhändler Walter Blumenreich der Firma bei und wurde zum Vorstand gewählt. Im Handelsregister wurde mit Datum vom 27. August 1919 eine Änderung des Nachnamens von Blumenreich in Blonck notiert (1).

Die Namensänderung

Laut seiner Geburtsurkunde wurde ihm am 29. Juli 1919 gestattet, den Familiennamen Blonck zu führen; er war zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt. Einen Grund nennt die Urkunde nicht (Bild 1), sondern verweist auf eine Polizeiverfügung vom 15. Juli 1919 mit der Geschäftsnummer 178 B. T I 3.19. Also haben wir uns auf die Suche gemacht nach diesem Erlass in der Hoffnung, dort einen Grund für diese Namensänderung zu finden. Im Landesarchiv Berlin sind Akten zugänglich, die sich sowohl mit individuellen Fällen von Anträgen auf Namensänderungen in Berlin (2) wie auch mit den rechtlichen Voraussetzungen und Regelungen bei Namensänderungen generell befassen (3).

Bild 1. Beischrift auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich (Quelle: Ancestry).

Eine Akte, in der der individuelle Fall der Namensänderung „Blumenreich zu Blonck“ dokumentiert wurde, haben wir nicht gefunden. Aber von den vielen Akten, in denen diese Anträge zwischen 1812 und 1945 gesammelt wurden, fehlen sehr viele, nicht nur die von Walter Blumenreich – möglicherweise sind diese Akten an anderen Orten ausgewertet worden, z.B. als es nach 1933 den Nazis darum ging, Juden zu identifizieren, die sich durch Taufe und Namensänderung assimiliert und weniger angreifbar gemacht hatten.

Namensänderungen waren aus folgenden Gründen möglich: Wenn Namen für deutsche Zungen unaussprechlich waren, z.B. polnische und russische Namen, oder wenn sie lächerlich waren (z.B. Dummer, Fick); jüdische Namen konnten auf Antrag geändert werden. Die meisten Namensänderungen wurden aus rechtlichen Gründen (bei Adoptionen, Scheidungen etc.) bewilligt. 

Beantragten Juden die Änderung des Familiennamens, kam es offenbar des Öfteren zu uneinheitlichen Regelungen, so dass sich der Innenminister 1900 veranlasst sah, in allen diesen Fällen darauf zu bestehen, dass diesen Anträgen „nicht ohne meine vorher einzuholende Ermächtigung Folge gegeben werde“ (3). Letztendlich haben wir den Grund für Walter Blumenreichs Änderung seines Nachnamens nicht gefunden, sondern können nur vermuten, dass dies aufgrund der antisemitischen Stimmung im Deutschen Reich erfolgte, die sich seit der sogenannten „Gründerkrise“ 1873 vor allem als „akademischer Antisemitismus“ nicht nur im Deutschen Reich breit machte (4). Aber der weitere Verlauf der Lebensgeschichte von Walter Blumenreich/Blonck lässt auch die Vermutung zu, dass die Namensänderung mit psychischen Problemen zu tun hatte.

Die schwere Nervenerkrankung

Von 1919 -1922 wohnte Walter Blonck noch in der Genthiner Str. 13, ab 1923 findet er sich nicht mehr im Berliner Adressbuch unter eigener Adresse. Die entscheidenden Hinweise auf seinen Verbleib ergaben sich stattdessen aus der Handelsregister-Akte des Kunstbuchverlages Carl Brack & Keller GmbH, wo er noch bis 1927 als alleiniger Verantwortlicher geführt wurde (1). 

Die von ihm jährlich zu führende und an das Handelsregister einzureichende Liste der Gesellschafter wurde für das Jahr 1921 nicht ausgeführt, sondern mit Begleitschreiben vom 14. Februar 1922 an das Amtsgericht Berlin-Mitte zurückgesandt, wonach sich der Geschäftsführer Walter Blonck seit 5 Monaten, d.h. seit Oktober 1921 „infolge einer überaus schweren Nervenerkrankung in einem Sanatorium befindet“ und eine Wiederherstellung der Gesundheit noch nicht abzusehen sei. Eine Mahnung des Gerichtes vom April 1922 beantwortete stattdessen sein Bruder Leo Blumenreich, Geschäftspartner des Kunsthandels Paul Cassirer (s. diese Webseite vom 19. August 2024) unter Verweis auf den inzwischen 6-monatigen Aufenthalt seines Bruders im Sanatorium Waldhaus in Nikolassee. Auch für 1922 schickte Leo das Formular zurück an das Amtsgericht, und für 1923 fragte das Amtsgericht vorsorglich bei Leo Blumenreich nach dem Gesundheitszustand, der sich im Oktober 1923 noch nicht gebessert hatte. 

Bürokratische Mühlen sind nicht nur schwer in die Gänge zu setzen, und sie sind auch schwer zu stoppen, wenn sie einmal in Bewegung kommen: So kam es im März 1924 zu einer Ordnungsstrafe (20 Mark) und der Androhung weiterer Kosten, falls der Meldepflicht nicht nachgekommen werde; diesmal (Mai 1924) antwortete Bruder Arnold, da Leo Blumenreich im Monat zuvor einen schweren Autounfall überlebt hatte, infolgedessen seine Frau verstorben war. In einem Schreiben an das Amtsgericht vom 17. November 1924 schlug Arnold vor, die Firma zu liquidieren, da „leider keine Hoffnung auf Genesung vorhanden ist“. Es dauerte dann noch zwei weitere Jahre, bis die Industrie- und Handelskammer zu Berlin am 30. Oktober 1926 dem Amtsgericht mitteilte, dass die Firma Carl Brack & Keller „im Jahre 1921 [den Geschäftsbetrieb eingestellt] hat. Vermögen besitzt die Firma nicht. Wir bitten, die Löschung der Firma im Handelsregister von amtswegen herbeizuführen„. Dies erfolgte mit Datum vom 31. Januar 1927.

Zehlendorf-Nikolassee, Wittstock (Dosse), Berlin-Buch, Brandenburg (Havel)

Das Sanatorium Waldhaus, heute eine Privatklinik für internistisch-psychosomatische und psychiatrische Behandlung in Zehlendorf-Nikolassee (Potsdamer Chaussee 69), war 1903 von dem Arzt und späteren Sanitätsrat Dr. med. Emil Nawratzki (1867–1938) zusammen mit seinem Kollegen Dr. Max Arndt (1871-1956) als „Heilanstalt für Gemütskranke“ gegründet und eröffnet worden (Bild 2). Sie ist im Berliner Adressbuch von 1904 bis 1936 als „private Heilanstalt“ aufgeführt. Die Bettenzahl im Jahr 1906 betrug 136, 67 für Männer und 69 für Frauen (5). Die jüdischen Eigentümer verkauften die Klinik 1936 zwangsweise an die Innere Mission der Evangelischen Landeskirche Berlin, vertreten durch Pastor Dr. Theodor Wenzel, die dort eine evangelische Kur- und Pflegeanstalt für Nervenkranke auf gemeinnütziger Grundlage einrichtete; im 2. Weltkrieg wurde die Klinik Lazarett.

Bild 2: Foto des Sanatorium Waldhaus in Steglitz-Nikolassee (Postkarte um 1910, gemeinfrei).

Es ist anzunehmen, dass auch die jüdischen Patient*innen in der Klinik nach der Machtergreifung der Nazis 1933 nicht unbehelligt blieben, aber spätestens mit Kriegsbeginn wurde Walter Blonck vermutlich in das Pflegeheim nach Wittstock (Dosse) verlegt, einer der Provinzialanstalten für Irre und Geisteskranke aus Berlin (Bild 3) (6). Wie man der Tabelle entnehmen kann, waren im Jahr 1925 etwa 5000 Pfleglinge, Alte und Kranke (Sieche) in Anstalten in Berlin untergebracht, und etwa die gleiche Anzahl in Anstalten außerhalb Berlins, davon etwa 300 in Wittstock. Hier verliert sich wieder die Spur von Walter Blonck, Krankenakten werden regelhaft nur 30 Jahre aufbewahrt.

Bild 3: Tabelle der pflegerischen, psychiatrischen und geriatrischen Patient*innen in den verschiedenen Pflegeanstalten Berlins und Brandenburgs (Quelle: (6)).

Es fand sich dann doch noch ein weiterer Hinweis auf seinen Verbleib im Gedenkbuch des Bundesarchivs zu den Opfern des Nationalsozialismus (7). Danach wurde der Patient „Walter Blonk“ im Rahmen der sogenannten T4-Sonderaktion von Wittstock nach Berlin-Buch in die dortigen Heilanstalten verlegt. In Buch wurden die psychiatrischen Patienten aus den umliegenden Anstalten gesammelt und dann nach Brandenburg (Havel) deportiert, wo sie direkt nach Ankunft ermordet (vergast) wurden; für Walter Blonck ist der 17. Juli 1940 als Tag der Deportation und Ermordung festgestellt (Bild 4). 

Bild 4: Walter Blonk in der Datenbank des Gedenkbuchs des Bundesarchivs (aus: (7)).

T4 steht für die Adresse Tiergartenstraße 4 (siehe mittendran am 3. Februar 2023), die Villa, in der leitende NSDAP-Mitglieder und eine Reihe Mediziner ab 1939 die Ermordung (euphemistisch „Euthanasie“ = „schöner Tod“ genannt) aller psychisch und körperlich behinderten Patienten in Deutschland beschlossen hatten. Die T4-Sonderaktion im Jahr 1940 führte alle jüdischen Patienten in Deutschland in einige wenige Institutionen zusammen – für Berlin und Brandenburg in Berlin-Buch – von wo aus die Deportationen erfolgten. In der „Landespflegeanstalt Brandenburg a. d. Havel“, einem umgebauten Zuchthaus, wurde ausprobiert, was in der Folge in vielen psychiatrischen Kliniken im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten exekutiert wurde: in Brandenburg wurden 9.000 Patienten, insgesamt wurden mehr als 70.000 kranke Menschen ermordet (8).

Literatur

1. Akte Brack & Keller im Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 342-02 Nr. 126.

2. Akte Namensänderungen speziell im LAB: A Pr. Br. Rep. 30, Nr. 20585 ff.

3. Akte Namensänderungen allgemein im LAB: A Pr. Br. Rep. 30 Tit. 203 Nr. 20720.

4. Wikipedia-Artikel zum Antisemitismus, speziell der Abschnitt zum Antisemitismus im Kontext der Reichsgründung 1871.

5. Hans Laehr, Hrg. Die Anstalten für Psychisch-Kranke: In Deutschland, Deutsch-Österreich, der Schweiz und den Baltischen Ländern. 6. Auflage, Georg Reimer Verlag, Berlin 1907.

6. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 1927 (Jahrgänge 1876 bis 1934 in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin: https://digital.zlb.de/viewer/metadata/16308258/)

7. Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933-1945 (https://bundesarchiv.de/gedenkbuch/#list).

8. Henry Friedlander. Jüdische Anstaltspatienten im NS-Deutschland. In: Götz Aly, Hrg. AKTION T4 1939-1945.  Die „Euthanasie“-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Edition Hentrich, Berlin 1989, Seite 34-44.

Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 3)

Im nächsten Teil der Geschichte des Versandhandels Arnold Blumenreich gehen wir dem Schicksal der Geschwister von Arnold nach, die – wie er – aus der ersten Ehe seines Vaters Paul Philipp Blumenreich (JUELE vom 20. Juni 2024) mit Adele Fraenkel aus Breslau stammten: Arnold war der Älteste (JUELE vom 17. Juli 2024), geboren 1875 in Berlin, gefolgt von Elsa, die 1877 in Wien zur Welt kam. Walther wurde 1880 geboren und Leonhard kam 1884 in Berlin zur Welt. Fangen wir mit dem Jüngsten, mit Leo, an.

Leo Blumenreich (1884-1932)

Leo wurde am 18. September 1884 geboren. Seine leibliche Mutter war ein halbes Jahr nach seiner Geburt an Tuberkulose verstorben; die zweite Ehefrau seines Vaters, die Lehrerin Gertrud Lewissohn (1856-1903), wird ab November 1886 die Rolle seiner Mutter übernommen haben. Diese Ehe stand aber unter keinem guten Stern: Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit (1887, 1888), und nach nur vier Jahre wurde die Ehe im Oktober 1890 geschieden: Leo war jetzt sieben Jahre alt. 

Leo lernte vermutlich schon vor der Scheidung seiner Eltern seine dritte „Mutter“ kennen, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899). Sie heiratete seinen Vater im Jahr 1891, kam aber bereits 1888 nach Berlin, und noch im gleichen Jahr sowie 1889 und 1891 wuchs die Familie um drei weitere Kinder; jetzt waren es sieben kleine Kinder, die mit den Eltern von 1892 bis 1894 nach Stuttgart zogen – Leo war 10 Jahre alt, als sie 1894 wieder nach Berlin kamen.

In der folgenden Zeit jonglierte und strauchelte sein Vater mit den von ihm initiierten Theaterprojekten, dem Theater Alt-Berlin auf der Gewerbeausstellung 1896 und dem Westend-Theater an der Kantstraße, auch und vor allem finanziell. Als sein Vater wegen Betrugs verurteilt wurde und sich der Gefängnisstrafe durch Flucht in die USA entzog (1897), hatte Leo vermutlich noch nicht seine Schulausbildung beendet und eine Buchhändlerlehre begonnen. Wikipedia (1) behauptet, dass er am 18. März 1898 am Königlichen Luisengymnasium in Moabit das Abitur gemacht habe, aber die Jahresberichte des Gymnasiums (2) listen ihn nicht, weder in diesem Jahr noch in den Jahren zuvor – und im Jahr 1899 war er zum Prüfungstermin zu Ostern gar nicht mehr im Lande (s. unten). Es ist ferner unklar, ob er vor 1899 bereits eine Buchhändlerlehre begonnen hatte und wenn doch, ob dies bereits bei Paul Cassirer war, in dessen Buch- und Kunstverlag er später Teilhaber werden sollte. Ausweislich einiger Zeitungsberichte hatte er Kontakt zu seiner Stiefmutter in Berlin, aber sicherlich nicht unmittelbar vor ihrem Suizid, wie behauptet. Denn Leo Blumenreich reiste am 5. Februar 1899 allein mit dem Schiff Patria von Hamburg nach New York (Bild 1) und war dort, als sich seine Stiefmutter am 28. Oktober 1899 in Berlin aus einem Hotelfenster stürzte und starb – Leo war jetzt 15 Jahre alt, auf der Passagierliste war er als Schüler notiert. In den Volkszählungsunterlagen von New York 1900 sind Paul Blumenreich und vier seiner Kinder gelistet, darunter Leo. 

Bild 1: Schiffspassage des Schülers Leo Blumenreich auf dem Schiff Patria der Hamburg-Amerika-Linie auf dem Wege von Hamburg nach New York, ausgelaufen am 5. Februar 1899 (Quelle: Ancestry).

Ob Leo mit seinem Vater 1901 von New York nach Wien zurückgekommen ist, ist unklar, aber wahrscheinlich; in diesem Fall hätte er 1901 in Wien seine vierte „Mutter“ kennengelernt, er war jetzt 17 Jahre alt. Laut Wikipedia hat er in Wien eine vierjährige Ausbildung zum Antiquariatsbuchhändler gemacht (1), aber auch hier fehlt der Beleg: Im Adressbuch von Wien in den Jahren bis 1907 gibt es Leo Blumenreich nicht – er war jetzt 20 Jahre alt. Die nächsten gesicherten Informationen über ihn finden wir an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo Leo vom SS 1908 bis einschließlich SS 1909 als Kunststudent eingeschrieben war. Grundlage dafür war eine Regelung im Hochschulrecht (§ 3 des Gesetzes vom 1. Oktober 1879), die es Staatsbürgern ohne Abitur erlaubte, bis zu vier Semester zu studieren, ohne jedoch einen Abschluss erlangen zu können (Bild 2). Den Nachweis „einer für die Anhörung von Universitäts-Vorlesungen genügender Bildung“ hatte er offenbar „auf dem hiesigen Luisen-Gymnasium“ erbracht (3). Auch ein universitäres Abschlussexamen ist nicht nachgewiesen in der Unterlagen des Universitätsarchivs (4). Stattdessen findet sich ein Brief in der Akte, dass er „aufgrund eines eiligen Umzugs nach England“ im Oktober 1909 sein Testat-Buch verloren habe und um ein Duplikat bitte – er hatte drei Semester Philosophie studiert.

Bild 2: Auf vier Semester beschränkte Zulassung zum Studien der Philosophie (Kunstgeschichte) ohne Abitur durch das Rektorat (aus: 4).

In London hatte er offenbar gemeinsam mit einem Schweizer, Martin Hofer (1889–?) von 1911 bis 1914 ein Antiquariat auf der Duke’s Street 47, St. James’s, das sich auf niederländische und italienische Primitive, sowie Zeichnungen und Kunsthandwerk spezialisierte (1). Er heiratete im Oktober 1913 in Willesden (Middlesex, England) Emmy Berman geborene Simon (1871-1923), deren Mann kurz zuvor (1912) verstorben war. Diese Ehe war 1905 geschlossen worden und ihr entstammten zwei Söhne, Hans und Sigfried, die noch minderjährig waren. 

Im Jahr 1915 kommentiert er in einen Artikel in der Berliner Tageszeitung und Handelsblatt über „Erlebnisse eines Kunsthändlers in London … von einem soeben aus England heimgekehrten deutschen Kunstverleger“ (5) über die während des Krieges (Erster Weltkrieg 1914-1918) vorhandenen Ressentiments und Anfeindungen, die Deutsche in England erfuhren: Aus seiner – sicherlich privilegierten – Sicht waren sie weitaus geringer als man in der deutschen und englischen Öffentlichkeit glaubte: „Mir und meinen Angehörigen sowie auch meinen vielen deutschen Freunden und Bekannten ist …nur freundlichste und weit über bloße Höflichkeit hinausgehende Anteilnahme entgegengebracht worden„. Diese optimistische Einschätzung mag sich nach dem Beginn der Zeppelin-Angriff auf England im Frühjahr 1915, insbeondere nach den Bombenabwürfen über London seit Mai d.j. wohl geändert haben.

Rechtzeitig kam Leo Blumenreich mit Frau und Kindern im Frühjahr 1915 nach Berlin, wo er zum 1. Januar 1917 als persönlich haftender Teilhaber bei Paul Cassirer (1871-1926) eintrat, der seine Kunstsalon und -verlag seit 1898 in der Victoriastraße 35 im Tiergarten-Viertel hatte. 1911 eröffnete Paul Cassirer zusätzlich einen Kunstbuchverlag, der auch die Kunstzeitschrift Pan ab 1911 neu herausgab. Der Buchverlag war ab 1917 in der Potsdamer Straße 113, in dem vom Architekten Ernst Klingenberg (1830-1918) um 1871 gebauten Villenareal (wie auch der sog. Begas-Winkel an der Genthiner Straße), das heute Mercatorhof heißt. Cassirer residierte in der Villa 8 und war damit Nachbar von Anton von Werner (1843-1915) in der Villa 6. Sein Cousin Bruno Cassirer (1872-1941), bis 1901 noch Mitinhaber von Paul Cassirers Kunsthandel, hatte seit 1902 einen eigenen Kunstverlag in der Derfflinger Str. 16.

Bereits im Jahr 1917 eröffnete Leo Blumenreich auch seine Kunsthandlung am Schöneberger Ufer 37. Etliche seiner Kunstaktivitäten (Kauf, Verkauf, Vermittlung, Schenkung) sind in einschlägigen Archiven und Museen gut dokumentiert (6) (Bild 3). Seine beiden Stiefsöhne wurden ebenfalls Kunsthändler: Dr. Siegfried Bermann heiratete 1921 in Berlin eine Serena Heissig aus Wien, die katholisch war, sein Bruder Hans Bermann heiratete 1922 ebenfalls in Berlin eine Amalia Susanna Berman aus Belgien – ihre Schicksale haben wir nicht weiterverfolgt.

Bild 3: Foto von Leo Blumenreich, aufgenommen 1926 (Fotografin: Lilly Baruch, Quelle: (1)).

Was wie eine friedliche, nach all den Entbehrungen der Kindheit geglückte Zeit des beruflichen und familiären Erfolges aussah, endete abrupt: Emmy Berman-Blumenreich starb einige Tage nach einem schweren Autounfall im April 1923 in der Nähe von Hoppegarten, eine der Schwiegertöchter war im Auto und wurde ebenfalls schwer verletzt (Bild 4) (7). Der Chauffeur war einem über die Straße laufenden Mädchen ausgewichen – beide kamen ums Leben. Leo, der wie die anderen aus dem Auto geschleuderte wurde, wurde nur leicht verletzt.

Bild 4: Meldung zum Autounfall vom 1. April 1923 (Ostersonntag) (Quelle: (7)).

Er heiratete im folgenden Jahr, am 22. April 1924, Johanna Cassirer geborene Sotschek (1887-1974); „Hannah“ Cassirer war zuvor mit dem Industriellen Alfred Cassirer (1875-1932) verheiratet gewesen und war geschieden worden. Im Jahr 1927 bezog die Familie ein Haus in Dahlem (Wildpfad 17E) (Bild 5). Das Kind aus der ersten Ehe von Hannah, Eva Cassirer, die 1920 geboren wurde und 2009 in Mallorca verstarb, hatte stets eine hohe Meinung von ihrem Stiefvater Leo Blumenreich. Auch wenn es ihm offenbar nicht vergönnt war, eigene Kinder zu haben, hat seine eigene, sehr schwierige Kindheit ihn offenbar veranlasst, anderen vaterlosen Kindern ein gutes Zuhause zu geben. Leo Blumenreich starb am 12. Mai 1932 im Martin-Luther-Krankenhaus Berlin, er wurden nur 

Bild 5: Die Blumenreich-Villa in Berlin-Dahlem, Wildpfad 17E (Quelle: Standbild aus eine YouTube-Video über Eva Cassirer: https://www.youtube.com/watch?v=09u94eguJf0

Literatur

1. https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Blumenreich.

2. Abiturienten am Luisengymnnasium Ostern 1898: https://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ulbdsp/periodical/pageview/4023684.

3. R. Schiffmann (Hrsg). Deutsche Schulgesetze. L. Oehmigkes Verlag, Berlin 1886, Seite 212.

4. Akte im Archiv der Humboldt-Universität: Abgangszeugnisse vom 23ten Oktober 1909 bis 28ten Oktober 1909. Universitäts-Registratur Littr. A No. 6 Vol. 1720.

5. Berliner Tagblatt und Handelszeitung, Abendausgabe, Freitag, den 16. April 1915, Seite 4.

6. z.B. im Zentralinstitut für Kunstgeschichte: https://boehler.zikg.eu/.

7. Berliner Tagblatt und Handelszeitung, Abendausgabe vom 3. April 1923, Seite 4.

Jüdische Gewerbebetriebe (2) Versandhaus A. Blumenreich (Teil 2)

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Herkunft Arnold Blumenreichs – und seiner Geschwister – vorgestellt, insbesondere den berühmt-berüchtigten Vater Paul Philipp Perez Blumenreich und seine vier Ehen mit insgesamt 14 Kindern (JUELE vom 22. Juni 2024). Wir haben uns gefragt, was bei so einer chaotischen Kindheit aus den vier Kindern der ersten Ehe geworden sein mag. Hier und heute also die Geschichte des ältesten Sohnes und seiner Familie, nachdem zwei Geschwisterkinder, die vor ihm geboren worden waren, noch im Kleinkindalter verstarben.
Laut Geburtsurkunde hieß er Arnold, aber er schrieb sich später im Leben gelegentlich, wenngleich nicht immer Arnhold (Bild 1) – wir werden ihn einheitlich Arnold nennen.

Bild 1: Aus der Bücherei des Arnhold Blumenreich (aus: Sammlung Ex Libris, Datenbank der Sammlungen des Museums für Angewandte Kunst, Budapest, Ungarn. Künstler: Felix Willmann, Berlin)

Von Wien nach Berlin

Arnold Blumenreich, geboren am 6. November 1875 in Berlin, heiratete am 3. Dezember 1905 in Wien Ilse Mautner, Tochter des Hauptschullehrers Julius Jakob Mautner, geboren am 23. August 1877. Im diesem Jahr 1877 waren die Eltern von Arnold, der Schriftsteller Paul Blumenreich und seine (erste) Frau Adele, geborene Fränkel, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war, mit Arnold nach Wien umgezogen, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung wurde und vor allem Theaterstücke verfasste; drei Jahre später (Arnold war 5 Jahre alt) zog die Familie wieder zurück nach Berlin. Als er neun Jahre alt war (1885), starb seine Mutter an Tuberkulose. Ein Jahr später (1886) heiratete sein Vater erneut. Diese Ehe hatte nur vier Jahre Bestand, sie wurden 1890 geschieden, Arnold war jetzt 15 Jahre alt. Zuvor bereits hatte sein Vater, vermutlich in Wien, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899) kennengelernt, sie wurde 1891 seine dritte Frau.

Es ist völlig unklar, wo Arnold seine Schulzeit verbracht hat (vermutlich größtenteils in Berlin), wo er seine Buchhändler-Lehre gemacht hat, und wann und wo er die Ilse Mautner kennengelernt hat, wahrscheinlich in Wien. Jedenfalls haben sie dort 1905 in der jüdischen Gemeinde geheiratet. Im Jahr 1906 kam ein Sohn, Victor, zur Welt, und im Jahr 1911 eine Tochter, Gerda. 1919 zogen Victor und Gerda mit den Eltern nach Berlin. Victor Tod wurde im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens 1960 dokumentiert : er starb Neufchatel (Schweiz) „gegen Ende des 1. Weltkriegs … sein Tod wird mit dem Zeitpunkt 31. Dezember 1923 festgestellt“ (1).

Im Jahr 1908 eröffnete Arnold Blumenreich in Wien, in der Webgasse 12, das Wiener Kunsthaus Ges.m.b.H., das bis 1923 in Wien nachweisbar ist, jedoch mit Unterbrechungen. Darüber hinaus war Arnold Blumenreich Gesellschafter eines Kunst- und Musikalienhandels in Wien, und meldete 1916 in Wien „Blumenreich´s Versandhaus Ges.m.b.H.“ an; eine gleichnamige Fima eröffnete er in Budapest. Dieser Teil seiner Biografie ist in der exzellenten Master-Arbeit von Victoria Louise Steinwachs (2) gut recherchiert und dokumentiert. Auch die vielfältigen Aktivitäten des Versandhauses (Kauf, Verkauf, Vermittlung von Kunst etc.) sind bei Steinwachs gut dokumentiert und werden hier nicht behandelt (Bild 2).

Bild 2: Visitenkarte des Arnold Blumenreich (aus: Der Querschnitt, Sommerheft (Heft 2) 1922).

Den Beitrag von Bethan Griffiths „Jüdische Gewerbebetriebe rund um die Potsdamer Straße: Versandhandel Arnhold Blumenreich“ über den Aufstieg und die anschließende Auflösung des Geschäftes nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wollen wir hier nicht wiederholen, sondern verweisen auf die Veröffentlichung hier vom 17. Februar 2023. Diese Geschichte endet mit dem folgenden Absatz: 

Für das Ehepaar wurde es in Berlin immer bedrohlicher. Im Mai 1939 wurde Arnhold aus unbekannten Gründen verhaftet und im Polizeigefängnis Mitte inhaftiert. Er und Ilse wurden schließlich am 28.10.1942 aus ihrer Wohnung in der Solinger Str. 6 nach Theresienstadt deportiert. Die furchtbaren Bedingungen des Konzentrationslagers überlebte Ilse nur ein halbes Jahr. Arnhold starb ein Jahr nach seiner Deportation. 

Die weitere Geschichte wirft einige Fragen auf, denen wir nachgegangen sind: Warum und wie wohnte die Familie in der Solinger Straße 6? Was geschah mit den Kunstgegenständen? Was wurde aus Gerda Blumenreich, der Tochter? Gab es nach dem Krieg ein Wiedergutmachungsverfahren, und wie ging es aus?

Judenhäuser in der Solinger Straße

In der Levetzowstraße 7/8 in Berlin-Moabit befand sich seit 1914 eine der größten Synagogen Berlins. Die Nationalsozialisten richteten dort 1941 ein Sammellager für Juden ein, die sie anschließend in den Osten deportierten (3) – und drumherum gab es eine Vielzahl von sogenannten „Judenhäusern“, in denen die von außerhalb Berlins oder aus anderen Stadtteilen zusammengezogenen Juden bis zur – geplanten – Deportation ab dem Jahr 1939 einquartiert wurden. Die Solinger Straße 6 war so ein Judenhaus in der Nähe der Synagoge, neben einigen anderen in der gleichen und den umliegenden Straßen (Bild 3). Natürlich wohnten besonders viele Juden in der Umgebung der Synagoge, und viele dieser Häuser hatten ursprünglich jüdische Besitzer – sie standen nach der Machtergreifung des Nazis unter Zwangsverwaltung, auch das Haus Solingerstraße 6. Es gehörte einem J. Kaufmann aus Riga und wurde ab 1939 von einer Charlotte Meurer im Auftrag der Treuhandstelle Ost verwaltet. Arnold Blumenreich arbeitete zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Buch- und Kunsthändler, sondern als „Wohnungsberater“ der Jüdischen Krankenversicherung (JKV) für 190 Reichsmark (RM) monatlich. Die Miete für die 4-Zimmer-Wohnung war 130,30 RM im Monat. In der gleichen Wohnung war weiterhin eine jüdische Familie (Ernst und Elfriede Süßmann und ihre Tochter Franziska) untergebracht (4). Der Vormieter der Wohnung, Heymann Grossmann, war im Oktober „ausgewandert“.

Bild 3: Sogenannte „Judenhäuser“ in der Umgebung der Synagoge in der Levetzowstraße, insbesondere in der Solinger Straße. Screen-Kopie der Webseite „Zwangsräume“ (5).

Die Webseite „Zwangsräume“, die Judenhäuser in Berlin dokumentiert (5), nennt wenigstens 16 Umzüge an diese Adresse nach 1939. Eine dieser Umzüge war der der Familie Arnold Blumenreich, die nach 1939 nicht mehr unter ihrer alten Adresse (1938: Schöneberger Ufer/Großadmiral von Koester-Ufer 55; 1939: Kluckstraße 13) im Berliner Adressbuch gelistet war. Sie zog zum 28. November 1940 in die Solinger Straße 6, 2. Stock, nachdem sie zuvor offenbar kurzzeitig schon in der Solinger Straße 3 gewohnt hatte, ein weiteres Judenhaus mit mindestens 13 Einzügen seit 1939. Durch diese Zwangsumzüge war, wie die Nazi-Presse lauthals verkünden konnte, das Tiergartenviertel „judenfrei“ und bereit zum großen Umbau für „Germania“, den Monster-Stadtplan von Albert Speer (6).

Wir erfahren all dies aus den Akten, die das Finanzministerium angelegt hatte (4), um Eigentum und Vermögen der Juden zu erfassen und zu konfiszieren. Auf der Grundlage eines entsprechenden anti-jüdischen Gesetzes musste alle Juden in Deutschland eine gesonderte Vermögenserklärung gegenüber dem Finanzamt abgeben – die Erklärung der Familie Blumenreich (Arnold, Ilse und Gerda) listet alle Einrichtungsgegenstände der Wohnung auf, die sie in der Solinger Straße bewohnten (s. unten) – Kunstgegenstände waren nicht darunter. 

Da jüdische Galeristen bereits vor 1939 ihre Geschäfte aufgeben mussten, aus den Kunst- und Kunsthändler-Verbänden ausgeschlossen wurden und die von ihnen gehandelte Kunst oftmals als „entartet“ gebrandmarkt worden war, wurde die Kunst versteigert; die „entartete“ ging ins Ausland, um Devisen einzufahren für den geplanten Krieg, und wenn sie dem nationalsozialistischen „Zeitgeist“ entsprach, an einheimische Sammler. Wenn sich nicht zuvor Göring oder Hitler die Werke selbst unter den Nagel rissen für ihre Privatsammlungen (7).

Arnold und Ilse hatten einen Ehevertrag zur Gütertrennung vom 24. März 1906, also noch in Wien vereinbart und im Notariatsregister Breslau am 12. August 1911 hinterlegt. Die Vermögenserklärungen von Arnold und Ilse Blumenreich (vom 16. Oktober 1942) sind darüber hinaus deswegen spärlich, weil sie den gesamten Hausrat 1939 ihrer Tochter Gerda als Aussteuer übertragen hatten und bis auf weniges Persönliches, vor allem Kleider, nichts mehr besaßen. Sollten sie noch Geld gehabt haben, so haben sie dies sicherlich für die Reise und Unterbringung in Theresienstadt ausgeben müssen – die Nazis ließen sich auch dies von den Deportierten bezahlen, da ihnen ja ein „Altersruhesitz“ versprochen wurde – welch ein Zynismus. Als Gerda ihre Vermögenserklärung abgab (am 24. November 1942), waren ihre Eltern bereits „abgereist“: Sie wurden mit dem 68. Alterstransport am 28. Oktober 1842 nach Theresienstadt deportiert (8) – ob sie danach noch mal Kontakt mit ihnen hatte, ist zweifelhaft, beide starben innerhalb eines Jahres. Aber die geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte dem Oberfinanzpräsidenten die erfolgreiche Beschlagnahmung des Vermögens weiterer 100 Juden nebst deren Abschiebung nach Theresienstadt in einem geschäftsmässigen Schreiben melden (Bild 4).

Bild 4: Schreiben der Gestapo vom 30. Oktober 1942 an den Oberfinanzpräsidenten zum Vollzug des 68. Alterstransportes (aus (8)).

Gerda Blumenreich

Gerda Blumenreich, am 16. März 1911 in Wien geboren, war 22 Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Sie war unverheiratet, hat noch bei ihren Eltern gewohnt, und war laut Informationen aus den Akten des BLHA (9), von Beruf Fürsorgerin und ständige Helferin in der Synagoge in der Levetzowstraße. In ihrer Vermögenserklärung gibt sie weitere Informationen: Sie arbeitete zuletzt bei der Jüdischen Kulturvereinigung zu Berlin e.V. für 200 RM netto im Monat, bewohnte die 4-Zimmer-Wohnung nach der „Abwanderung“ ihrer Eltern nach Theresienstadt allein, zahlte dafür 135 RM Miete, hatte aber einen weiteren Untermieter aufgenommen – möglicherweise war die Familie Süßmann ebenfalls bereits deportiert worden.

Das Wohnungsinventar wurde Finanzamt auf eine Gesamtwert von 1239 RM geschätzt, wobei bei vielen Positionen vermerkt wurde: defekt, alt, beschädigt, zerbrochen etc. Dies wurde später im Wiedergutmachungsverfahren als „übliche Praxis“ der Auktionshäuser bezeichnet, um den Preis zu drücken und so auf jeden Fall die Gegenstände zu verkaufen – das Finanzamt war schließlich nicht an Möbeln interessiert, sondern an Geldwerten. Die Versteigerung von etwa 60 Positionen am 23. März 1943 listet auch die vielen Käufer des Blumenreichschen Hausrates. Der auf der Auktion erzielte Gesamtverkaufspreis von 3097,00 RM reduzierte sich um 309,70 RM als Gebühr für die Versteigerung, und 203,10 RM für den Transport des Hausrats, so dass am 6. April 1943 nur 2584,20 RM an die Finanzkasse des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg überwiesen wurden. Auch das Eigentum der Familie Süßmann kam zur Versteigerung und erbrachte (netto) 387,10 RM. Als das Geld beim Finanzamt einging, war Gerda Blumenreich schon mit dem 23. Osttransport am 29. November 1942 als Nr. 1007 von 1021 anderen nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich unmittelbar nach Ankunft umgebracht worden (10) (Bild 5).

Bild 5. Gerda Blumenreich auf der Deportationsliste des 23. Osttransports (aus: 10).

Aber es gab weitere Interessenten an dem wenigen Geld: Die Hausverwaltung veranlasste unmittelbar nach Auszug von Gerda Blumenreich umfängliche Renovierungen der Wohnung, deren Gesamtrechnung sich auf 1093,46 RM belief. Diese Kosten machten sie gegenüber dem Finanzamt am 29. September 1943 geltend, und dann begann das, was man wohl eine Schacherei nennt. Das Finanzamt monierte, dass eine Gesamtrenovierung nach zwei Jahren Wohnens nicht angemessen sei, da bei Wohnungsbezug keinerlei Mängel notiert worden seien, sondern die Wohnung laut Mietvertrag renoviert übernommen worden sei. In der Vermögenserklärung hatte Arnold Blumenreich demgegenüber erhebliche Mängen in den hinteren Räumen beanstandet. Ausnahmsweise bot das Finanzamt die Übernahme von einem Drittel der Kosten an, und erhöhte schließlich auf 50%, nachdem die Hausverwaltung nachgelegt und über erhebliche Mietschäden durch ungenehmigte Untervermietung geltend gemacht hatte. Und so überwies das Finanzamt am 30. November 1944 vom Verkaufserlös des Mobiliars einen nicht unerheblichen Teil (510,76 RM) wieder zurück in den Geldkreislauf – 6 Monate vor Kriegsende. Die darüber hinaus gehenden vielfachen persönlichen wie dienstlichen Bereicherungen Einzelner wie auch unterschiedlicher Ämter und Behörden am Vermögen der Juden ist gut dokumentiert und diskutiert, z.B. bei Dinkelaker (3).

Das Wiedergutmachungsverfahren

Ein Antrag auf Wiedergutmachung (1) wurde am 19. März 1959 vom Bruder von Ilse Blumenreich geborene Mautner gestellt, Dr. Leo Viktor Mautner, der rechtzeitig vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich nach Columbien ausgewandert war – er war, als er den Antrag stellte, 85 Jahre alt und machte in seinem Antrag wegen seines hohen Alters auf eine gewissen Dringlichkeit aufmerksam. Das hinderte den Justizapparat in Deutschland jedoch nicht, zunächst die bürokratischen Mühlen mahlen zu lassen: Er musste nicht nur nachweisen, dass er der rechtmäßige Erbe seiner Schwester ist (was wegen der fehlenden Informationen über den Verbleib von Gerda schwierig war), er musste auch den Inhalt der Wohnung nachweisen, „da Hausratsgegenstände in der letzten Wohnung Berlin NW 87, Solinger Str. 6 nicht vorgefunden worden (sind)„. Er musste, als die Versteigerungsliste auftauchte, widerlegen, dass die Wohnungseinrichtung alt, defekt, zerbrochen etc. war – eine eidesstattliche Versicherung war dazu unzureichend, es musste vom Gericht ein Gutachten eingeholt werden, dass dies bestätigte und dass den wahren Wert des Mobiliars zum Zeitpunkt der Konfiszierung schätzte – es kam auf einen Wiederbeschaffungswert von 16.727 DM. Erst als das Gericht durchblicken ließ, dass es der Argumentation des Antrag folgen würde, bewegte sich das Finanzamt und bot am 13. Februar 1963 als Kompromiss die Zahlung von 10.000 DM – das RM:DM-Verhältnis lag in all diesen Verfahren bei etwa 10:1. Und erst nochmaliges Insistieren der Antragsteller und des Gerichtes führten schließlich am 1. März 1965 zum Vergleich: Zahlung von 13.364 DM – aber da war der Antragsteller bereits verstorben, und sein Sohn führte das Verfahren zu Ende. 

Literatur

1. Wiedergutmachungs-Akten (WGA) im Landesarchiv Berlin:  B Rep. 025-02 Nr. 22127/59.

2. Victoria Louise Steinwachs: Arnold Blumenreich. Ein Beitrag zur Erforschung jüdischen Kunsthandels in Berlin im Dritten Reich. Masterarbeit Kunstgeschichte, FU Berlin, ohne Jahr (2016).

3. Philipp Dinkelaker: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Metropol Verlag Berlin 2017.

4. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich Arnold, 36A (II) 3700.

5. Webseite „Zwangsräume“ des Aktien Museums: https://zwangsraeume.berlin/de

6. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania – Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Berlin, Transit Buchverlag 1986.

7. Günther Haase: Die Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring. Kunstsammlung Göring. Eine Dokumentation. Quintessenz-Verlag Berlin 2000

8. Transportliste des 68. Alterstransport Theresienstadt. Arolsen Datenbank Doc ID: 127207457: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207457

9. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich, Gerda, 26A (II) 3695

10. Transportliste des 23. Osttransport in das Konzentrationslager Auschwitz. Arolsen Datenbank Doc ID 127207555: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207555.

Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 1)

Auch für diese Geschichte gibt es eine Vorlage von Beth Griffiths (mittendran am 18.  Dezember 2022, diese Webseite vom 17. Februar 2023), und auch diese Geschichte – in zwei Teilen – erzählt zunächst die familiäre Herkunft des Arnold Blumenreich, bevor im Teil 2 sein Schicksal und das seines Versandhandels nach der Machtergreifung der Nazis thematisiert wird. Der Bezug zum Lützow-Viertel ist dabei zunächst eher zufällig, wenn die Familie Blumenreich immer wieder mal für kurze Zeit hier wohnte: in der Potsdamer Straße 66 von 1891-1893, in der Dennewitzstraße 19 in den Jahren 1903 und 1904. Erst seine Söhne Arnold, Leopold und Walter hatte ihre Wohnsitze dauerhaft im Lützow-Viertel.

Der Vater, Paul Philipp Blumenreich

Paul Philipp Perez Blumenreich war der Sohn des Optikers (Optirist, Optikus) Lesser Blumenreich in Berlin, über dessen Herkunft das Judenbürgerbuch der Stadt Berlin (1) keine Auskunft gibt: er muss also um oder nach 1848 nach Berlin gekommen sein, als Juden keinen Bürgerbrief mehr beantragen mussten – auch wenn das volle Bürgerrecht damit noch lange nicht erreicht war. Das Adressbuch von Berlin kennt Lesser Blumenreich im Jahr 1849 zum ersten Mal (Oranienburger Straße 12). Er blieb – mit Unterbrechung einzelner Jahre, in denen er umzog – bis 1876 als Optiker im Adressbuch, war aber laut einem Heiratsdokument seines Sohnes auch 1891 noch am Leben – sein Sterbedatum ist nicht bekannt. Er war verheiratet mit Doris Thiras, die 1873 verstarb, und am 17. November 1849 kam ihr (einziges?) Kind zur Welt. Und das hatte anderes im Sinn, als in die handwerklichen Fußstapfen des Vaters zu treten. 

Bekannt geworden ist Paul Blumenreich als Schriftsteller. Schreiben konnte er offenbar, für die Tagespresse für die Vossische Zeitung – nach eigenen Angaben nur kurzfristig -, für Das kleine Journal (2), für die Gartenlaube; er gab die Zeitschrift Montag heraus und führt ein Literarisches Bureau. Erstmals im Adressbuch erschien er als Redakteur Paul Blumenreich 1874 (Alte Jacobstraße 136), wenn er nicht identisch war mit dem Buchhändler und Antiquar Paul Blumenreich (Dresdnerstr. 66) in den Jahren 1872 und 1873 – das wäre bei dieser Familienherkunft ein sehr früher Beginn einer intellektuellen Karriere, vor Erreichen der Volljährigkeit mit 24 Jahren. 

Paul Philipp Perez Blumenreichs berufliches und familiäres Leben reichte für mehr als eine Person, und genau so hat er es auch organisiert: Das fängt schon damit an, daß er sich im Schriftsteller- und Theaterleben Paul Blumenreich nannte, private Urkunden und Dokumente aber meist mit PhilippBlumenreich unterschrieb. In der Geburtsurkunde seines Sohnes Walter von 1880 geriet diese Konzept offenbar kurzfristig in Unordnung, als er bei seiner Unterschrift seinen Vorname Paul durchstrich und durch Philipp ersetzte. Er heiratete 1891 unter dem Namen Philipp Blumenreich. Und als der Schriftsteller Paul Blumenreich aus den USA zurückkam (s. unten), lebte er – zumindest für kurze Zeit – unbeschadet des Haftbefehls in Berlin unter dem Namen Philipp Blumenreich in Wien. Auch seine Sterbeurkunde im Standesamtsregister weist ihn als Philipp Blumenreich aus (Bild 1).

Bild 1: Unterschriften-Korrektur (Paul gestrichen, Philipp ergänzt) auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich 1880.

Paul Blumenreich war Schriftsteller, auch wenn er 1869 als Schauspieler am Leipziger Stadttheater angefangen hatte. Er schrieb Theaterstücke am laufenden Band, die in Berlin, Wien und anderswo aufgeführt wurden, zumeist Komödien und Glossen, nicht selten in – manchmal nicht-autorisierter – Übernahme oder Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen (3). Und außerdem publizierte er unter verschiedenen Pseudonymen: Hellmuth Wilke, Jörg Ohlsen und Georg Berwick.

Blumenreich war auch Mitbegründer des 1895 im Berliner Stadtteil Charlottenburg gegründeten Theater des Westens (Bild 2)ebenso wie „Erfinder“ und Direktor des Theaters Alt-Berlin auf der Berliner Gewerbeschau von 1896, das unter dem Protektorat des Vereins für die Geschichte Berlins von 1869 stand und mit einem finanziellen Desaster endete. Details dazu waren in der Tagespresse in Berlin, Wien und anderswo Thema kontinuierlicher Diskussion, an die er sich laufend beteiligte. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Betrugs kommentierte er mit einer 68-seitigen „Festschrift“ von 1897 (4), mit umfangreichem, interessantem, wenngleich nicht in allen Fällen gesichertem Detailwissen, das in der Stadt einen Skandal auslöste. 

Bild 2: Postkarte (Ausschnitt, von 1900) des Theaters des Westens in der Kantstrasse.

Die von ihm erwartete, nicht unbedingt befürchteten Beleidigungsklagen blieben aus, der Vorwurf des Betrugs aber blieb. Im Laufe der Jahre sammelte er Gerichtsurteile: Im Oktober 1883 verlor er eine Beleidigungsklage als Chef des Kleinen Journals (60 Mark Strafe), im Januar 1884 wurde eine Klage wegen unerlaubten Nachdrucks eingestellt, im Juni 1885 war er bei einer Klage wegen falscher Anschuldigung in einem Artikel unauffindbar. Nach dem Scheitern des Theaters Alt-Berlin wurde er im Oktober 1896 steckbrieflich gesucht wegen Betruges, war für einige Zeit verschwunden, stellt sich dann, um im darauffolgenden Jahr (1897) erneut mit einem Steckbrief gesucht zu werden, da er nach dem Urteil und einer abgelehnter Revision verschwand; dazu unten mehr. 

Philipp Blumenreich heiratete am 15. März 1873 Adele Fränkel aus Breslau (1850 – 16. Mai 1885 Berlin). Das Ehepaar hatte neun Kinder, von denen allerdings fünf noch im Kindesalter starben: Benjamin (1873-1877), Oskar (1874-1875), Arnold (1875-1943), Elsa (1877-1956), Hans (1878-1878), Walter (1880-1940), Dorothea (1881-1882), Erich (1883-1885), und Leonhard (1884-1932). Im Jahr 1877 zog die Familie nach Wien, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung war, Feuilletons schrieb, aber vor allem Theaterstücke verfasste (siehe oben). Gelegentlich wurde er hier mit einem Doktor-Titel geziert, aber das mag dem österreichischen Hang zu klangvollen Titeln geschuldet sein. Drei Jahre später zog die Familie wieder nach Berlin, und Paul Blumenreich arbeitete als Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Kleines Journal“. In den folgenden Jahren (1881 bis 1888) wechselte die Familie nahezu jährlich die Wohnadresse, bevor sie nach sieben Umzügen in acht Jahren für drei Jahre in der Potsdamer Straße 66 verblieben – vermutlich war dies der wachsenden Kinderzahl geschuldet. Ein halbes Jahr nach der Geburt des Jüngsten, Leonhard, starb Adele Blumenreich geborene Fränkel im Alter von nur 35 Jahren, vermutlich an Tuberkulose. 

Der Witwer mit vier minderjährigen Kindern (drei Söhnen und eine Tochter) im Alter von 6 Monaten, 5 Jahren, 8 Jahren und 15 Jahren heiratete ein zweites Mal am 21. November 1885: die Lehrerin Gutchen Gertrud Lewissohn (1856-1903). Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit: ein Mädchen noch am Tag der Geburt (19. Juni 1887), ein Junge (Ludwig) nach 5 Wochen (15. Juli 1888). Zum Zeitpunkt des Todes des zweiten Kindes war der Aufenthalt des Vaters nicht zu ermitteln, wie die Geburtsurkunde bezeugt. Diese Ehe wurde am 11. Oktober 1890 geschieden. Gertrud Blumenreich geborene Lewissohn starb am 20. März 1903 in der „staatlichen Irrenanstalt Dalldorf“ in Berlin – ob ihre Krankheit mit dem unglücklichen Verlauf ihrer Ehe zusammenhing oder Grund für das Scheitern der Ehe war, entzieht sich unserer Kenntnis.

Der Vater, mit immer noch vier minderjährigen Kindern zwischen 5 und 20 Jahren heiratete erneut am 30. Juni 1891: Franziska Essenther, geboren am 2. April 1845, fing in Wien mit der Schriftstellerei an, erarbeitete sich einen tadellosen Ruf als frühe und engagierte Frauenrechtlerin, und erhielt für ihre schriftstellerische Tätigkeit 1886 einen Preis. Sie muss in Wien Paul Philipp Blumenreich kennengelernt haben, ging sie doch 1888 nach Berlin und bekam noch im gleichen Jahr ein Kind, Illa, geboren am 14. August 1888, für das Blumenreich die Vaterschaft bestätigte (Bild 3). Zwei weitere Kinder (Hertha, geboren am 5. September, Julius, geboren am 21. Januar 1891) wurden in Berlin geboren, bevor sie 1891 heirateten. Zwischen 1892 und 1894 lebte die Familie wohl in Stuttgart.

Bild 3: Geburtsurkunde von 1888 der Illa/Ella, dem ersten Kind aus der dritten Ehe. Zu diesem Zeitpunkt waren Philipp Blumenreich und Franziska Essenther noch nicht verheiratet, sie trug noch den Nachnamen ihres ersten Mannes (Kapff), von dem sie wenige Monate zuvor geschieden worden war; das Kind bekam daher den Nachnamen Kapff. In der Beischrift von 1891 rechts bestätigt Philipp Blumenreich, dass er die Franziska Kapff geheiratet habe und dass das Kind seinen Namen tragen könne, er also die Vaterschaft anerkenne.

In den folgenden 5 Jahren hatte Paul Blumenreich das Theater Alt-Berlin im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung (Bild 4) zunächst aufgebaut und dann in den Konkurs geschickt, hatte deswegen die geplante Direktion des Westend-Theaters an der Kantstraße verloren und war 1897 wegen Veruntreuung und Betrug angeklagt und verurteilt worden. Er floh, nachdem die Revision verworfen worden war, im gleichen Jahr in die USA; unklar ist, ob ihn dabei einige seiner Kinder begleiteten, wie manche Zeitungen zu berichten wussten. In der US-Volkszählung vom Januar 1900 jedenfalls waren zu diesem Zeitpunkt vier Kinder bei ihm: die 23-jährige Elsa und der 16-jährige Leo aus der ersten Ehe, und Illa/Ella mit 12 Jahren und Siegfried mit 9 Jahren aus der dritten Ehe (Bild 5).

Bild 4: Liebig-Sammelkarte zur Gewerbeausstellung 1896. In verschiedenen Serien dieser Karten werden Szenen aus der Berliner Geschichte dargestellt, die im Theater Alt-Berlin auf der Ausstellung aufgeführt wurden; hier die Überbringung der Nachricht von der Besetzung Berlins durch russische Truppen 1760 an Friedrich den Großen.

Paul Blumenreich bekam eine Anstellung beim Deutschen Theater in New York, schickte Geld nach Berlin, und unbestätigten Meldungen in der Presse zufolge schickte seine Frau ihm 1899 (zwei) Kinder nach New York City, reiste aber selbst nicht aus Angst vor der Seereise; sie hatte in dieser Zeit einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Als er seine Anstellung in New York verlor, schrieb er nach Berlin, dass er Geld brauche. Sie erhöhte ihren schriftstellerischen Output und schickte Geld in die USA, als er aber schrieb, er habe „Rückenmarkschwindsucht“, war dieser Schicksalsschlag offenbar zu viel für sie: sie nahm sich im November 1899 das Leben (5). 

Bild 5: US-Census vom Januar 1900 für New York: Gelistet ist die Familie Blumenreich mit Vater und 4 Kindern.

Blumenreich kam im Juli 1900 aus den USA nach Wien, wurde als Redakteur eines illustrierten Wiener Wochenblattes angestellt, und heiratete im August 1902 in Wien ein viertes Mal: Ernestine (Erna) Gruber (1870-1941). Gemeldet war er unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich, Schriftsteller, wohnhaft Lerchenfelderstr. 44. Als er Unterlagen in Berlin beantragte, wurde die Berliner Polizei auf seinen Aufenthalt in Österreich aufmerksam. Auf Antrag wurde er von der österreichischen Polizei verhaftet und ausgeliefert. Er kam für neun Monate ins Gefängnis und im Januar 1902 wieder auf freien Fuß. Auch im Gefängnis Plötzensee schrieb er weiterhin Romane und Theaterstücke.

Aus dieser vierten Ehe stammen zwei Kinder: Hans, geboren 1902 und Rudolph, geboren 1903. Über die Witwe des Schriftstellers wissen wir wenig: Sie war bis 1910 noch in Berlin gemeldet und wohnte in der Altonaer Str. 13 im Gartenhaus. Ausweislich einer weiteren Quelle (6) ging es ihr nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht besonders gut, so dass sie einen Antrag auf Unterstützung bei der Schiller-Stiftung in Weimar stellte, die gemäß ihrer Satzung nicht nur Literaturpreise an Schriftsteller vergab, sondern auch finanzielle Unterstützung an notleidende Schriftsteller und ihre Angehörigen – ob ihr diese gewährt wurde ist bislang nicht bekannt. 1910 war sie offenbar nach Wien zurückgekehrt und lebte von 1916 bis 1941 an der gleichen Adresse (Rechte Wienzeile 117), dann verschwand sie aus dem Adressbuch. 

Das ließ Böses ahnen: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 setzte sich dort die Judenverfolgung und -vertreibung durch die Nationalsozialisten in noch brutalerer Weise fort, und es stand zu befürchten, dass Ernestine (Erna) Gruber nach Theresienstadt oder in ein anderes KZ deportiert worden war. Eine Check der Arolsen-Datenbank der Holocaust-Opfer (7) ergab keinen Hinweis darauf, und in der Zeitungsdatenbank ANNO des österreichischen Nationalarchivs fand sich schließlich eine Notiz vom 16. April 1942 im Völkischen Beobachter, der Zeitung der NSDAP, wonach sie am 6. September 1941 verstorben sei. Diese amtliche Notiz fragte nach dem Verbleib ihres Sohnes Rudolf Blumenreich, der als Erbe gesucht wurde. Beide, Hans und Rudolf waren rechtzeitig nach Amerika ausgewandert.

Paul Philipp Perez Blumenreich starb 3. Juli 1908 in Berlin – unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich. Er hinterließ seine Frau und sechs Kinder aus zwei seiner vier Ehen, von denen die vier aus der ersten Ehe versuchten, in Berlin Fuß zu fassen. Ob ihnen dies mit so einer chaotischen Kindheitsgeschichte geglückt ist, werden wir im nächsten Teil beschreiben – die Chancen dafür standen allerdings schlecht.

Literatur

1. Jacob Jacobson:  Die Judenbürger-Bücher der Stadt Berlin. Walter de Gruyter & Co. Verlag, Berlin 1962.

1. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, 6. Auflage. Reclam Verlag, Leipzig 1913, Seite 266.

2. Das kleine Journal“ – Berliner Wochenschrift für Theater, Film und Musik“ (1878 bis 1935).

4. Paul Blumenreich: Das Theater des Westens. Festschrift und Epilog. Selbstverlag (Berlin) 1896 (digital in der Zentralen Landesbibliothek, ZLB Berlin).

5. Neues Wiener Tagblatt vom 30. Oktober 1899, Seite 3. Alle biografischen Informationen, mit all ihren Tatsachen, Spekulationen und Widersprüchlichkeiten, sind den Berliner Tageszeitungen Berliner Börsenblattund Berliner Tagblatt und Handelszeitung im Deutschen Zeitschriftenarchiv und den Österreichischen, insbesondere Wiener Tageszeitungen im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO entnommen.

6. http://www.thilo-reffert.de/minima/skizzen/paul-blumenreich_biographische-miniatur

7. https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/suche-online-archiv/

Stolpersteine für die Familie Kubatzky

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,

am Montag, 24. Juni 2024 werden in den Bezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte zehn Stolpersteine für sechs Geschwister und Angehörige der Familie Kubatzky verlegt. Die Geschwister wurden in Pommern geboren, kamen aber letztlich alle nach Berlin.

Wir gedenken mit der Verlegung von Stolpersteinen der Geschwister
Wanda Kubatzky (verheiratete Dumke), überlebte den Holocaust in Deutschland (Mischehe)
Anna Kubatzky (verheiratete Budzislawski), nach Auschwitz deportiert und ermordet
Max Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
Hermann Julius Kubatzky (Flucht mit Familie nach Palästina)
Hedwig Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
Johana Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet

In Tiergarten Süd werden Stolpersteine für folgende Personen verlegt:

Um 14 Uhr  werden in der Lützowstraße 87 drei Steine
für Hermann Julius Kubatzky, Rosa Kubatzky, geb. Arndt und deren Sohn Herbert Kubatzky
verlegt. Die Flucht nach Palästina in den 30er Jahren rettete ihnen das Leben. Sie haben den Holocaust überlebt.

Zu Hermann, Julius Kubatzky ist Folgendes bekannt:
Er wurde am 12. Dezember 1878 in Ratzebuhr, dem ehemaligen Deutsch Krone, geboren. Seine letzte bekannte Meldeadresse in Deutschland ist: Berlin, Lützowstrasse 87. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn ist er am 17. Dezember 1937 nach Haifa / Israel ausgewandert. Eventuell war er noch in den USA bevor er spätestens 1957 wieder nach Deutschland kam (seine Frau verstarb 1944). Letzte bekannte Adresse ist die Iranische Strasse 6 in Berlin (Jüdisches Altersheim).
Hermann Julius Kubatzky war 2x verheiratet: mit Rosa Arndt (geboren 1872 gestorben 1944) und davor mit Elly Rosenthal.

Um 15 Uhr werden in der Pohlstraße 64 zwei Steine
für Hedwig Kubatzky und ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt.

Hedwig Kubatzky wurde am 27. November 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Johana Kubatzky lebte 1939 noch in Pommern. Sie wurde am 15. August 1942 vom Sammellager in der Berliner Gipsstraße nach Riga deportiert und dort ermordet.

Über Hedwig Kubatzky ist das Folgende bekannt:
Geboren wurde sie am 13. Januar 1875 in Zippnow, dem ehemaligen Deutsch Krone.
Sie arbeitete als Schneiderin / Modistin. Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse: bis 1940 wohnte sie in der Ludendorffstrasse 64 (heute Pohlstrasse). Sie musste ihre Wohnung aufgeben und ihre letzte bekannte Adresse in Berlin befindet sich in einem sogenannten „Judenhaus“ in der Turmstrasse 9.
Deportation am 27. November 1941 nach Riga, wo sie am 30. November 1941 ankam. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, wurden im Wald von Rumbula erschossen.

Über Johana Hanna (Hannchen) Kubatzky wissen wir Folgendes:
Geboren wurde sie am 16. August 1873 in Zippnow, im ehemaligen Deutsch Krone.

Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse findet sich im Mai 1939 (Deutsche Minderheiten-Volkszählung) in Ratzebuhr, im ehemaligen Deutsch Krone. Sie muss zwischen 1939 und 1942 zu ihrer Schwester nach Berlin gezogen sein.

Die letzte bekannte Adresse in Berlin ist Gipsstrasse 12 a (Sammellager).

Am 15. August 1942 wurde sie mit dem 18. Osttransport nach Riga deportiert – Ankunft am 18. August in Riga. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, aber als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden, wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Wald von Bikernieki getrieben und dort erschossen. Johana wurde auf der Liste als nicht arbeitsfähig vermerkt.

Jüdische Gewerbetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 2)

Der folgende Text ist eine überarbeitete – einerseits gekürzte, andererseits ergänzte – Fassung eines Textes, den Beth Griffiths erstellt und bei mittendran am 16. Januar 2022 veröffentlich hatte. Der erste Teil der gesamten Geschichte findet sich in mittendran vom 20. April 2024 und auf dieser Webseite am 20. April 2024.

Die Arisierung der Firma Theodor Heymann Herrenartikel

Den ersten Hinweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten seitens des Hut- und Herrenartikelgeschäfts finden sich in den Handelsregisterakten in einem Brief der Industrie- und Handelskammer am 7. März 1938 an das Amtsgericht: Das Unternehmen sei zwar noch vollkaufmännisch tätig, aber es betreibe lediglich Einzelhandel mit Herrenartikeln, die Hutfabrikation sei eingestellt worden (9). Es ist anzunehmen, dass die antisemitischen Maßnahmen, insbesondere der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Beschädigung der Schaufenster eine große Rolle in der Verkleinerung des Betriebes gespielt hatten. Nur wenige Monate später erreichte die antisemitische Gewalt mit den deutschlandweiten Novemberpogromen einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt, der das Ende des Hutgeschäfts bedeutete, das fast ein halbes Jahrhundert lang existiert hat.

Die Schaufenster müssen unverzüglich ersetzt werden spätestens bis 28. November“ – so schrieb nach dem Novemberpogrom der Zwangsverwalter des Hauses Potsdamer Straße 61, Carl A. Schmidt, am 22. November 1938 (11); zu diesem Zeitpunkt waren die meisten jüdischen Geschäfte aufgrund gesetzlicher Vorgaben den Inhabern entzogen worden, und Immobilien wurden unter Zwangsverwaltung gestellt.  Schmidt schrieb daher nicht an Heymann, sondern an Heinrich (Heinz) Barchen, der in der Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Gewalt gegen die jüdischen Inhaber eine Chance für sich sah. Barchen hatte sein Geschäft, „Brauner Laden Yorck“, zehn Häuser weiter, Potsdamer Straße 71 (12) (Bild 6); es war unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 eröffnet worden, dort verkaufte er Uniformen und „NS-Bedarf“. Wenige Tage nach dem Progrom im November 1938 kam Barchen in das zertrümmerte Geschäft, um zu sehen, ob er es übernehmen und dort sein Uniformgeschäft für nationalsozialistische Organisationen weiter betreiben konnte (11). Er entschied, die Geschäftsräume zu nehmen und am 3. Dezember wurde der Laden eröffnet, mit Waren, die für genau die Leute bestimmt waren, die zuvor die Fensterscheiben eingeschlagen hatten. Theodor Heymann sah fast nichts von der finanziellen Transaktion, die ihn seines Geschäfts beraubte. Im Schreiben des Hausverwalters Schmidt an Barchen wurde mitgeteilt: „Aus dem Kaufpreis soll die rückständige Miete bis einschließlich November ausgeglichen sowie der Ersatz der Schaufensterscheiben beglichen werden.“ Jedoch schrieb Heymanns Rechtsanwalt in der Wiedergutmachungsklage im Jahr 1950, dass das Schaufenster nicht von Barchen sondern von der Jüdischen Gemeinde Berlins bezahlt wurde. Barchen bezahlte 3.500 RM für einen Teil des Warenlagers und 1500 RM für die Einrichtung, aber Heymann „ging hinaus ohne einen Pfennig“, so Heymanns Rechtsanwalt (11). Theodor Heymann gab nach dem Krieg an, dass die nicht bezahlte Summe 18.000 RM betragen habe. Am 24. März 1939 wurde das Geschäft Theodor Heymanns im Handelsregister gelöscht (s. Bild 5 in Teil 1). 

Bild 6: Anzeige des Geschäftes für NS-Bedarf Brauner Laden ´Yorck´ (aus (12), Seite 286).

Was geschah mit der Familie Heymann?

Laut Adressbuch gehörten die Häuser Potsdamer Straße Nr. 61 und Nr. 62 dem Kaufmann Franke bis 1935, ab 1936 war Nr. 62 unter Zwangsverwaltung gestellt, d.h. dem jüdischen Eigentümer entzogen worden (im Adressbuch 1936 war die Nr. 61 noch dem Franke gehörig), und die Heymanns wohnten noch im Haus Nr. 61 (nach der Umnummerierung: 146) bis Ende 1938, dann hatte das Haus einen neuen Eigentümer.

Am 7. Juni 1930 hatte Betty Heymann geborene Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, erneut geheiratet, den Gastwirt Julius Rosenthal, geboren am 15. Juni 1893 in Berlin. Am 29. Februar 1932 kam ihre Tochter Irma zur Welt. Das „Restaurant Rosenthal“ befand sich laut den Adressbüchern 1929 bis 1933 in der Kommandantenstraße 77 (Bild 7), danach in der Potsdamer Str. 81, und ab 1935 hatte Rosenthal einen „Mittagstisch“ am Wittenbergplatz 5. Zum Zeitpunkt der Volkszählung Mai 1939 befand sich das Restaurant in der Kleiststraße 15. 

Bild 7: Anzeige des Restaurant Rosenthal aus den „Posener Heimatblätter“ Nr. 4 vom Januar 1929, Seite 34.

Theodor Heymann wurde gezwungen, die Privatwohnung ab Dezember 1938 aufzugeben. In einem Schreiben vom 23. November 1938 heißt es: „Herr Heymann ist dagegen verpflichtet, spätestens am 3. Dezember 1938 seine Privatwohnung in den Räumen aufzugeben.“ (11). Danach verläuft sich zunächst seine Spur, ebenso wie die seiner Stiefmutter und deren zweiter Ehemann. 

Exil in Shanghai, dann nach Amerika

Wenige Wochen später emigrierten sowohl Theodor Heymann wie auch Betty und Julius Rosenthal und ihre 7 Jahre alte Tochter Irma nach Shanghai. Die Unterlagen der Volkszählung im Mai 1939 benennen den 10. und 29. Juli 1939 als Ausreisedatum für die Rosenthals bzw. für Heymann. Die Emigration nach Shanghai war für viele Juden die letzte Möglichkeit, aus dem Deutschen Reich zu fliehen, da die mit dem Deutschen Reich verbündeten Japaner, die die Häfen Chinas kontrollierten, zu diesem Zeitpunkt keinerlei Visapflicht eingeführt hatten – Shanghai war zwar fern und fremd und hatte den schlechtesten Ruf unter den möglichen Fluchtorten, aber es genügte zur Einreise ein Pass und ein Bahn- bzw. Schiffsticket. Bis zum Kriegsbeginn September 1939 gab es drei prinzipielle Reisewege: Über Bremen oder Hamburg mit den deutschen Schiffen Potsdam bzw. Usaramo (oder über einige nordeuropäische Häfen), über Genua oder Triest mit den Schiffen Conte RossoConte Verde bzw. Conte Biancomano, oder auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn, entweder nach Wladiwostok oder nach Mandschukuo, und weiter mit dem Schiff nach Japan bzw. nach Shanghai; diesen Landweg haben immerhin mehr als 2.000 Flüchtlinge genommen. Die Schiffspassagen waren teuer, 3.500 RM pro erwachsener Person, nicht zuletzt, weil Hin- und Rückfahrt gebucht werden mussten; die Landpassage war deutlich billiger – 490 RM -, aber nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf Russland („Unternehmen Barbarossa“) nicht mehr möglich.

Auf welchem Wege und mit welchem Schiff die Heymann/Rosenthal-Familie nach Shanghai reiste, ist nicht mehr zu ermitteln, aber wie fanden sowohl den Kaufmann Theodor Heymann wie auch den Restaurateur (Gastwirt) Julius Rosenthal im Emigranten-Adressbuch Shanghais von 1939 (737/19 Broadway bzw. 818 Tongshan 57) (15), wenngleich genauere Informationen fehlen, womit sie ihren Lebensunterhalt unter diesen schwierigen Bedingungen verdienten. Aus einer anderen Quelle wenige Jahre später (1944), nämlich der Registrierungsliste aller Ausländer in Shanghai durch die japanischen Polizei (16) erfuhren wir, dass Julius Rosenthal offenbar Wohneigentum erworben hatte (Adresse: 626/29 Tongshan Lu; er wird in dem Dokument als „owner“ bezeichnet) und seine Frau als Köchin arbeitete – offensichtlich hatten sie wieder ein Restaurant aufgemacht, das wir bei einer Bildersuche zufällig entdeckten – das Bild kann wegen ungeklärter Rechtsverhältnisse zur Zeit nicht gezeigt werden. In dem japanischen Register wird auch erstmals die Tochter Irma erwähnt, die zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt war. Theodor Heymann wird in diesem Dokument nicht genannt, aber eine andere Spur (17) weist ihn als Fotograf aus. 

Bild 8: Theodor Heymann auf der Schiffspassage-Liste der USS General W. H. Gordon (aus: Ancestry) und Foto des Schiffs (aus: Wikipedia, gemeinfrei).

Über die schwierige soziale und wirtschaftliche Situation der jüdischen Flüchtlinge in China ist in den vergangenen 20 Jahren einiges publiziert worden (16,18). Nach dem Krieg wollten daher viele Flüchtlinge, die in Shanghai überlebt hatten, entweder zu einem geringen Teil zurück nach Deutschland, zu einem größeren nach Israel, Südamerika und Australien, und zu mehr als 50% in die USA auswandern. Die Familie Rosenthal fanden wir auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General M.C.Meigs von Shanghai nach San Francisco, Ankunft am 17. Juni 1947. Theodor Heymann, jetzt von Beruf Fotograf, stand auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General W. H. Gordon, Ankunft in San Francisco am 29. Juni 1947 (Bild 8). Von dort waren sie offenbar weitergereist in den Osten der Vereinigten Staaten, weil sowohl Theodor Heymann wie auch Julius und Betty Rosenthal aus Cincinnati bzw. New York in den Jahren in den Jahren nach 1950 Wiedergutmachungsanträge in Berlin gestellt hatten.

Theodor Heymann starb am 20. Januar 1971 in Paramus, Bergen, New Jersey, in der Metropolregion von New York City; er blieb unverheiratet und hatte keine Nachkommen. Betty Rosenthal geb. Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, Theodors Vater, starb am 16. März 1996, ebenfalls in Paramus, Bergen, New Jersey. Julius Rosenthal, ihr Mann war bereits am 2. Juni 1950 im Alter von nur 56 Jahren verstorben. Ihre Tochter Irma hatte 1954 in New York City Frank Reinhold Lewy geheiratet, der am 5. Dezember 1930 in Berlin-Dahlem geboren wurde und am 30. September 2014 in Yarmouthport, MA, USA verstarb. Sie hatten zwei Kinder, Sharon und Michael, die heute in den USA leben und beide verheiratet sind. Irma starb am 10. Oktober 2023.

Fragliche Wiedergutmachung nach dem Krieg

Nach der Übernahme des Geschäftes durch Heinrich Barchen stieg der Umsatz des Uniformgeschäfts in der Potsdamer Str. von 48.000 auf 62.000 RM. Trotzdem behauptete Barchens Rechtsanwalt nach dem Krieg, dass der Kaufmann aus der politischen Entwicklung im Nationalsozialismus keinerlei persönliche Vorteile gezogen hatte. Auffällig war Barchens Verteidigunglinie in der Wiedergutmachungssache, nämlich seine Nazi-Verbindungen nicht zu verschleiern, sondern zu betonen (11). Als Antwort auf die Anklage, dass Barchen nichts für die Reputation („good will“) des seit 46 Jahren bestehenden Geschäfts bezahlt hatte, erwiderte Barchens Beauftragter: „Die bisherige Geschäftsaufschrift Hüte und Mützen mit einem grünen Hut auf einem Transparent als Branchenzeichen wurde überstrichen. Stattdessen bekam das Geschäft das Äußere eines Braunen Ladens und die Aufschrift hieß fortan „NS Bedarf“. Lediglich auf dem Teilgebiet von Herrenwäsche und Herrenunterkleidung waren beide Geschäfte miteinander verwandt. Aber es liegt auf der Hand, dass der Charakter beider Geschäfte ein grundsätzlich anderer war. So waren z.B. bunte Oberhemden und bunte Krawatten in einem Braunen Laden nur ausgesprochene Nebenartikel. Insbesondere kann nicht davon die Rede sein, dass der „good will“ des Geschäfts des Antragstellers von dem Antragsgegner übernommen worden wäre“ (11). 

Weiterhin schrieb er, dass ein Kundenkreis, der bis 1938 in einem jüdischen Geschäft gekauft hatte, das Geschäft des Antragsgegners nie besuchen würde. Auf diese Weise versuchte Barchen, seinen Anteil an der antisemitischen Diskriminierung und Gewalt, mit der Heymann konfrontiert war, und seine Verbindung zu der NSDAP zu verschleiern. Dass Barchen ein NSDAP-Parteimitglied war, behauptete Heymanns Rechtsanwalt in einem Brief vom 27. Juni 1950 (11), aber betonte auch die NSDAP selbst, die den „Pg Barchen“ in der 1934er Ausgabe des Gesamtadressenwerks der Partei auflistete (siehe Bild 6). Das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde schließlich bestätigte die Parteimitgliedschaft: Heinz Barchen aus Berlin-Schöneberg (Hauptstraße 108), geboren am 13. September 1903, war bereits am 1. Mai 1931 Mitglied des NSDAP geworden (Mitglieds-Nr. 535859) (19) (Bild 10), also noch zwei Jahr vor der Machtergreifung des Nazis.

Bild 9: NSDAP-Mitgliedschaft von Heinz Barchen (Quelle: (19): BArch R 9361-IX KARTEI 1400187).

Der Streit im Wiedergutmachungsverfahren ging in erster Linie um die Frage, ob dies eine Geschäftsübernahme (Heymann) oder eine Geschäftsverlagerung (Barchen) war. Im September 1952 beschloss die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts, dass Barchen an Heymann 3635 DM zu zahlen hatte, 3485 DM für die Übernahme des Warenlagers und 150 DM für die Ladeneinrichtung – sie entsprach damit weitgehend den Wertangaben Heymanns (3) bei einem DM:RM-Verhältnis von 1:10. Heymann und Barchen hatten zuvor diesem Vergleich zugestimmt. Barchens Geschäft wurde nach dem Krieg als normales Herrenartikelgeschäft weitergeführt und war noch im Berliner Adressbuch von 1954 zu finden, nur das „Heinz und Frieda Barchen“ jetzt keine NS-Klamotten und -Devotionalien verkauften, sondern Herren- und Damenkleidung. 

Literatur (Nr. 1 bis 10 im Teil 1)

11. Landesarchiv Berlin (LAB), Akte: B Rep. 025-01, Nr. 176/49.

12. Gesamtadressenwerk der NSDAP-Geschäftsstellen. Die Deutsche Tat, Verlagsgesellschaft für das Deutsche Schrifttum, 1934. Digital erhältlich unter <https://digital.zlb.de/viewer/toc/34296129/1/>, zuletzt eingesehen am 5.Mai 2024.

13. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Akte: 36A (II) 15178.

14. https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Évian, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.

15. Emigranten-Adressbuch für Shanghai November 1939. Digital zugänglich bei CompGen unter <https://digibib.genealogy.net>, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.

16. Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck, Sonja Mühlberger (Hrg.): Exil Shanghai. Jüdisches Leben in der Emigration 1938–1947. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2000. Die dem Buch beiliegende CD enthält u.a. die „List of Foreigners Residing in Dee Lay Jao District …“ vom 24. August 1924 mit den Namen von Heymann und Rosenthal.

17. Ein Foto im Besitz des Museums of Jewish History in New York zeigt das Personals des Shanghai Refugee Hospitals aus den 1940er Jahren: es weist Theodor Heymann als Fotografen aus.

18. Jüdisches Museum Berlin (Hrg.): Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938-1947. Druck durch Jüdischen Museum im Stadtmuseum, Berlin 1997.

19. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL): Akte BArch R 9361-IX KARTEI 1400187.

Vergessene Orte; Blumeshof

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,
viele von Ihnen werden Prof. Dr. Paul Enck schon kennen.
Er beschäftigt sich mit der Geschichte unseres Kiezes und gibt sein Wissen in Vorträgen weiter.

Am Mittwoch, 24.1.2024 wird Paul Enck über eine heute vergessene Straße erzählen. Die Straße „Blumeshof“ verband die Lützowstraße mit dem Schöneberger Ufer und war eine Parallelstraße zur Kluckstraße. Dort, wo heute die Stadtteilbibliothek, der Nachbarschaftstreff, das Kiezzentrum Villa Lützow, die Jugendherberge, das Gebäude des Familienministeriums stehen, wurde vor 100 Jahren großbürgerlich gewohnt.

Das Gebäude Blumeshof Nr. 15 wurde von den Nationalsozialisten zu einem „Judenhaus“ erklärt, in dem jüdische Nachbarn zwangsweise zusammengepfercht wurden.
Die Straße wurde im 2. Weltkrieg zerstört und auf Beschluss des Senates zurück gebaut.
Paul Enck präsentiert anhand alter Fotos und Pläne Wissenswertes zur Geschichte der Straße und seinen BewohnerInnen.

Mi 24.1.2024, um 19 Uhr
im Projektraum des Nachbarschaftstreffs Lützowstr. 27,
„Vergessene Orte: Blumeshof“

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 10

Mit der Zusammenfassung der Wiedergutmachungsverfahren der Fürstenberg-Söhne nach dem 2. Weltkrieg wollen wir die Geschichte der Familie beenden. Dabei stellt sich – nicht nur für die Nachkommen von Sally Fürstenberg – die Frage, ob mit den prozessualen Ergebnissen eigentlich eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erreicht wurde, oder ob die finanzielle Kompensation nur dieses Unrecht verschleierte; dann wäre, wie wir oben (Teil 8) diskutiert haben, der Begriff der Restitution (der Wiederherstellung des finanziellen Status quo ante), der angemessenere Begriff. Zu unserer Überraschung hatte diese Diskussion bereits in den 1950er Jahre eingesetzt und war ihm allzeit immanent. Dazu im Folgenden ein längerer Textausschnitt von 1990 (58).

„Der unselige Begriff ´Wiedergutmachung`

In den Gründerjahren der Bundesrepublik haben gerade solche Politiker den Wiedergutmachungsbegriff hochgeschätzt, die klarer als andere erkannten, dass die Deutschen sehr viel zu ersetzen, zu bezahlen und zu sühnen hatten. Adolf Arndt oder Carlo Schmid, Franz Böhm oder Theodor Heuss sahen in diesem Sprachgebrauch ein Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und einen moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden. Dabei schwang die Idee einer deutschen Selbstreinigung mit, die Bundespräsident Heuss auf die Formel brachte: Es gelte nicht zuletzt, „sich selber wieder gut zu machen“. 

Ein Streiter für die Sache der Verfolgten, der Unionsabgeordnete Franz Böhm, erläuterte 1954 die zeitgenössische Semantik so: ´Wen die Grausamkeiten der Hitlerzeit damals, als sie verübt wurden, entsetzten, wer mit den Opfern fühlte, wer, wenn er konnte, zu helfen suchte, dem ist heute die Wiedergutmachung Herzenssache. Wer aber damals mit Hitler sympathisierte, wer jeden, den die Gestapo abholte, für einen Feind, Übeltäter oder Schädling hielt oder wer sich auch nur beim Anblick all der Herzlosigkeit und Brutalität mit dem Satz tröstete: wo gehobelt wird, da fallen Späne, für den ist heute die Wiedergutmachung ein Ärgernis.`

In unserer Gegenwart verhält es sich gerade umgekehrt: Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz in das Zentrum deutscher Erinnerungskultur getreten ist, um so mehr ist der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gilt er als ´unerträglich verharmlosend`. Die Abwehr ist verständlich, auch deshalb, weil es immer problematisch ist, einem Diskursbegriff der Zeitgenossen die historiografische Deutungshoheit zu überlassen. Doch sollte man sich vor dem anachronistischen Fehlschluss hüten, den frühen Protagonisten der Wiedergutmachung sei es nur um eine Art Schadensabwicklung gegangen.

Wenn heute an diesem Begriff festgehalten wird, dann primär aus pragmatischen Gründen. Wie keine andere Sammelbezeichnung rückt er einen Gesamtkomplex in den Blick, der sich in fünf Felder unterteilen lässt. Es handelt sich, erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens, die Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen. Zu den einschlägigen Gesetzen traten, drittens, Sonderregelungen auf verschiedenen Rechtsgebieten, insbesondere in der Sozialversicherung. Die juristische Rehabilitierung, viertens, stand vor der Aufgabe, Unrechtsurteile zu beseitigen – vor allem in der Strafjustiz, aber auch Unrechtsakte wie die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade sind zu bedenken. Diese vier Bereiche betrafen das innerdeutsche Recht. Aber die Verfolger haben Staatsgrenzen niedergerissen, Terror nach außen getragen und Millionen von Ausländern in das Deutsche Reich deportiert. Das Thema hat somit auch, fünftens, weite internationale Dimensionen, die den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilden“ (58).

War die Wiedergutmachung der Fürstenbergs nur Schadensabwicklung oder mehr?

Versucht man, die verschiedenen Wiedergutmachungsprozesse der Familie Fürstenberg bezüglich ihrer Ergebnisse zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild:

1. Aus den beiden hier ausführlicher diskutierten Verfahren (Teil 8 und Teil 9) ergeben sich finanzielle Zahlungen an die Familie in der Größenordnung von 1.2 Millionen DM.

2. Von den übrigen Immobilien der Familie zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung (1938) wurde die Lützowstraße 60 offenbar vor einer Enteignung im Frühjahr 1938 an das Finanzministerium (Abteilung Militär) verkauft. Nimmt man einen Bodenwert von 20-40€/qm an (59), kann man vermuten, dass das Grundstück nebst Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt und mindestens zu diesem Preis verkauft wurde und dieses Geld den Fürstenbergs auch zur Verfügung stand – sonst hätten sie zu Recht dafür Wiedergutmachung verlangen können.

3. Die Immobilien Leipzigerstraße 72/73 und Niederwallstraße 13/14 lagen nach dem Krieg in Ost-Berlin, die DDR hat sich an der Wiedergutmachung nicht beteiligt – sie sahen sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Für diese Immobilien wurde daher wohl kein Rückerstattungsanspruch erhoben.

4. Für die Immobilie Wassertorstraße 3 wurde am 6. Januar 1954 ein Rückerstattungsantrag von 1950 zurückgezogen (60), da das Grundstück zurückgegeben wurde. Laut Bauakten (61) war das Haus 1934 für 19.000 RM aus einer Versteigerung erstanden und hatte einen Verkehrswert von etwa 24.000 bis 26.000 RM. Es war nach dem Krieg noch nahezu vollständig bewohnbar, nur eine Werkstatt im Hof war vollständig zerstört.

5. Das gleiche galt für das Grundstück Lietzenburgerstraße 13, über das es keine Wiedergutmachungsakte gibt. Laut Räumungsakte von 1949 (62) war das Grundstück 1600qm groß und zu 26% beschädigt (nur Quergebäude, das Vorderhaus war bewohnt).

Wie hoch war der Grundwert, und wie verhielt sich dies zu den Werten um 1955?

Die Kaufkraft einer Reichsmark vor dem Krieg (1938) entspricht einer Kaufkraft von 4,7€ heute (63), aber das sagt uns wenig über den Wert der RM vor nunmehr 90 Jahren, 20 Jahre nach der Restitution, 1956, außer vielleicht einem etwa 10:1 Verhältnis von RM:DM. Dem entspricht aber sehr genau eine andere Kalkulation: Der VbK bewertete den Kaufpreis für Grund und Gebäude Lützowplatz 9 (370.000 RM) im Jahr 1956 mit 37.000 DM (37). 

Das vom Landgericht veranlasste Gutachten des Dipl.-Ing. Enderlein vom 23. Juli 1953 im Wiedergutmachungsprozess Fürstenberg gegen den VbK (59, Bl. 58-72) bezifferte den Bodenwert der etwa 1800qm, die der VbK 1938 erworben hatte, mit 58.000 RM, und das Gebäude mit 228.000 RM, zusammen also etwas mehr als die bezahlten 370.000 RM. Gegenüber dem Gebäudewert, der sich im Jahr 1953 durch die Zeit, aber auch durch das Ausmaß der Zerstörung 1943 gegenüber 1938 verringert hatte, war der Bodenwert praktisch gleichgeblieben und wurde im Gutachten mit 50.000 DM angenommen (59, Bl. 71).

Nehmen wir also der Einfachheit halber an, dass die beiden Grundstücke zu 4. und 5. im Jahr 1956 zusammen einen Grundwert von etwa 50.000 DM hatten, dann beläuft sich die Gesamtsumme der finanziellen Restitution für die Familie Fürstenberg auf etwa 1.25 Millionen DM im Jahr 1960, und dies entspricht etwa dem zehnfachen Wert (12,5 Mio. RM) im Jahr 1938.

Die Fürstenbergs (Sally, Paul und Sophie Fürstenberg) hatten im Rahmen ihrer Vermögenserklärungen 1938 (s. Teil 7) in der Größenordnung von ca. 7 Millionen RM angegeben, die im Ausland angelegten Vermögenswerte nicht mitgerechnet. Da auch das Vermögen von Fritz Fürstenberg und seiner Firma Reveillon in Amsterdam 1942 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, und die Firma Reveillon in London durch deutsche V2-Bomben zerstört wurde (wofür es vor Ort keine Kompensation gegeben haben dürfte), lässt sich das Vermögen der Familie 1938 auf mindestens 10 Mio. RM schätzen und entspricht somit von der Kaufkraft ungefähr der Restitutionssumme von 1.25 Mio DM im Jahr 1960. 

Es muss an dieser Stelle aber daran erinnert werden, dass Vermögenden, insbesondere mit Immobilienbesitz, im Rahmen des Lastenausgleichs (1952) (64) ebenfalls erhebliche finanzielle Abstriche ihres Vermögens hinnehmen mussten, wenngleich gestreckt auf viele Jahre, wozu auch der Entzug von Vermögen und Immobilien im Machtbereich der DDR gehörte, den auch sehr viele haben hinnehmen müssen. Und „last but not least“: Hätten die Fürstenbergs nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, wären sie, so makaber das klingt, vermutlich wie viele weniger vermögende Juden Opfer des NS-Terrors geworden und ermordet worden.

War die Lösung der Wiedergutmachungsprozesse also gerecht?

Da wir darauf keine befriedigende Antwort finden können, sollen am Schluss die Söhne von Sally Fürstenberg selbst zu Wort kommen. In einem Zeitungsartikel im „Tagesspiegel“ vom 17. März 1954 (65) (Bild 1) berichtet der Reporter (G.L.) über ein soeben stattgefundenes Treffen mit zwei der Gebrüder Fürstenberg – bei denen es sich möglicherweise um Fritz aus den Niederlanden und Ulrich aus Ägypten handelt, von denen wir aus anderen Quellen wissen, dass sie gelegentlich in Berlin bzw. auf der Frankfurter Messe waren. Sie hatten offenbar auf der Durchreise in Berlin Station gemacht, vermutlich auch, um im Prozess auszusagen. Zum Zeitpunkt dieses Besuches aber waren die Prozesse noch keineswegs beendet, sondern noch mehr als sechs Jahre von den oben beschriebenen Ergebnissen entfernt.

Bild 43: Artikel im Tagesspiegel vom 17. März 1954

Das Treffen fand in einer Villa im Grunewald statt, und die beiden „plauderten … bei einer Tasse Tee von ihren Erlebnissen, in den letzten zwanzig Jahren: Verfolgung, Emigration, Aufbau von Geschäften in Kairo, Alexandrien, Rhodesien und Amsterdam, erneute Flucht, Internierung in der Schweiz mit Lagerleben, Gefängnismauern, gewaltsamer Trennung der Familie und schließlich wieder geschäftliche Erfolge in Europa und in Afrika. Lächelnd, mit verbindlichen Handbewegungen, geht man von diesen angedeuteten Reminiszenzen, als wolle man die Gesprächspartner damit nicht belasten, zur Gegenwart über“ und deutet an, dass sie zukünftig vielleicht auch am Kurfürstendamm in Berlin wieder ein „Haus der Geschenke“ eröffnen möchten, „wenn die gegenwärtigen Restitutionsverhandlungen günstig verlaufen„. Auch wenn sie das am Ende vielleicht gewesen sind, Jahre später waren vermutlich die Bedingungen für einen Neubeginn ungünstig, die Preise für Immobilien am Ku-Damm zu hoch, und alle Beteiligten um Jahre älter und um Erfahrungen reicher.

Literatur

58. Quelle: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-1945-1990-ein-ueberblick/

59. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): B Rep. 025-05 Nr 204/49 Nr. 5725/50. 

60. LAB: B Rep. 020-02 Nr. 2138/51, Blatt 2.

61. LAB: B Rep. 206 Nr. 4619 (Bauakte Wassertorstraße 3).

62. LAB: B Rep. 207-01 Nr. 971 (Abräumakte Lietzenburger Str. 13).

63. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

64. https://de.wikipedia.org/wiki/Lastenausgleichsgesetz.

65. Tagesspiegel vom 17. März 1954.

Jüdisches Leben in Tiergarten Süd:  Fernsehdiskussion auf TV Berlin

Anlässlich des Jahrestages der Reichspogrom-Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 einerseits, und den antisemitischen Ausschreitungen auch und gerade in Berlin nach dem Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober und den bereits jetzt Gaza-Krieg genannten Auseinandersetzungen seitdem, ist das Interesse an jüdischem Leben gestern und heute groß und erreichte auch die Redaktion von Mittendran. Nach Anfrage des Privatsenders TV Berlin sprach Prof. Dr. Paul Enck am Dienstag, den 8.11. um 18:00 Uhr in der Sendung „Brinkmann & König“ über jüdisches Leben in Berlin vor 1933, insbesondere in Tiergarten Süd, und berichtete von seinen Recherchen aus dem Lützow-Viertel, deren Ergebnisse in diesem Blog sowie bei www.mittendran.de nachlesbar sind. Der Link zur Sendung, die bis auf Weiteres auf YouTube zu sehen ist, ist hier: https://youtu.be/tJzcnX1wRGs.

Im Studio bei TV Berlin: Ewald König, Paul Enck, Peter Brinkmann (v.li.)

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 7

Bereits vor dem Tode von Sally Fürstenberg im Juni 1942, spätestens aber nach seinem Tod zogen seine vier Söhne in alle Welt und brachten sich vor den Nazis in Sicherheit. Während und am Ende des Krieges waren sie mit ihren Familien in Ägypten, England, Rhodesien, der Schweiz und den USA, und sie stellten bereits 1948 gemeinsam und konzentriert Anträge auf Restitution ihrer Vermögenswerte, deren Darstellung hier die Familiengeschichte der Familie Fürstenberg beschließen soll. Zuvor jedoch wollen wir ihre jeweils persönlichen Geschichten nacherzählen, soweit wir sie rekonstruieren konnten. Wesentliche Grundlage dafür war ein Bericht, den Paul Fürstenberg dem Leo-Baeck-Institut zur Verfügung stellte (28). Die genealogischen Angaben sind – wie meist – durch Michael Schemann komplettiert worden.

Die Söhne des Egon Fürstenberg

Der Erstgeborene, Paul Philip Hans Fürstenberg, geboren am 30. Juli 1900, heiratete am 26. März 1929 in Berlin Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, geboren am 10. Januar 1905 in Berlin. Sie war von 1923 bis 1929 verheiratet gewesen mit Joseph Birnholz, und Sophie Birnholz, die Ehefrau von Gustav Fürstenberg (siehe Teil 3), war dessen Schwester. Er (Paul) verbrachte die Kriegszeit in England und führte dort die englische Niederlassung der Firma Reveillon gemeinsam mit seinem Bruder Ulrich. Er ließ sich von seiner Frau scheiden und wanderte wie Ulrich nach Rhodesien aus, vermutlich, um der Internierung in England während des Krieges zu entgehen (Bild 35). In Rhodesien heiratete er am 25. September 1950 Edith Ida Baer, die am 10. Februar 1915 in Worms geboren worden war; seine erste Frau heiratete in England erneut im November 1943 einen bekannten Cricketspieler. Paul und Edith Fürstenberg wanderte in den 50er Jahren in die USA aus, wo sie am 22. November 1966 naturalisiert wurden und sich dann Forbes nannten. Paul Forbes starb am 8. November 1979 in Oakland (Kalifornien), seine Frau verstarb dort am 23. Dezember 2005. In seiner Vermögenserklärung von 1938 (siehe Teil 6) hatte Paul Fürstenberg darauf hingewiesen, dass er zwei minderjährige Kinder habe, Helga Pauline Birnholz (aus der ersten Ehe seiner Frau), geboren am 6. September 1924, und Stephan Egon Albert Fürstenberg, geboren am 18. Mai 1930 aus der Ehe mit Maria Birnholz. Mit seiner zweiten Frau hatte er ein weiteres Kind, dessen Identität bislang geschützt ist.

Bild 35: Biografische Daten der Maria Margot Birnholz, geborene Brodnitz, insbesondere zu ihrem Internierungsaufenthalt auf der Isle of Men 1940-1941. Sie war zu diesem Zeitpunkt geschieden und heiratete 1943 erneut (Quelle: https://www.imuseum.im/search/collections/people/mnh-agent-99845.html)

Der zweitälteste Sohn, Werner Fritz Fürstenberg, geboren am 1. August 1903 in Berlin, zog 1933 nach Holland und heiratete dort am 29. Mai 1936 Käthe Ruth Smoszewski, geboren am 22. Mai 1913 in Posen (Bild 36). Werner leitet das Geschäft in Amsterdam, bis dieses – nach dem Einmarsch der deutschen Armee in den Niederlanden – konfisziert und von der Firma Reiwinkel übernommen wurde, die auch das Geschäft der Firma Rosenhain in Berlin übernommen hatte. Werner und Käthe Fürstenberg hatten zwei Kinder; ihre Tochter Madeline Rose wurde am 2. Oktober 1937 in Amsterdam geborenen, für ein weiteres Kind sind die Geburtsdaten nicht freigegeben. Die Eltern flohen 1942 in letzter Minute vor der Deportation aus Holland in die Schweiz und ließen ihre Tochter bei Freunden in Holland zurück. Sie wurden nach dem Krieg repatriiert und lebten in Amstel, wo Werner Fürstenberg am 15. Februar 1971 verstarb und seine Frau am 20. November 2003 in Amstelveen. Ihre Tochter Madeline war bereits am 3. März 1972 im Alter von nur 34 Jahre verstorben.

Bild 36: Werner Fritz Fürsternberg und seine Käthe Ruth, geborene Smoszewski (Quelle: Ancestry, Fotograph unbekannt um 1935).

Ulrich Ernst Rolf Fürstenberg, geboren am 15. August 1906 in Berlin, übernahm 1936 die Leitung einer Firma Rivoli in London, die 1941 durch deutsche V2-Bomben zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde. Aufgrund seiner Auswanderung wurde er seiner deutschen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt. Er heiratete Hilde Eloise Klembt, geboren am 29. Juli 1915 in Bremen. Im Mai 1947 wanderte die Familie nach Rhodesien aus und nahm den Namen Ralph Ernest Forbes an. Ulrich und Hilde Forbes hatten einen Sohn, Roy Ralph Forbes, geboren am 17. Dezember 1947, der 1998 in Leeds, England verstarb. Irgendwann zwischen 1949 und 1988 wanderte die Familie nach Oregon, USA aus, wo Ulrich als Farmer tituliert wird. Ulrich Forbes starb in Turner, OR am 6. Juni 1988, seine Frau verstarb am 31. Oktober 2004 ebenfalls dort.

Der jüngste Sohn der Fürstenbergs, Hellmuth Joachim Moritz, geboren am 7. Juli 1908, wanderte 1937 nach Ägypten aus und leitete dort die Geschäfte der Firma Reveillon bis nach dem Krieg. Er heiratete Sylvia Low, geboren am 20. März 1904 in Vancouver, British Columbia, Kanada, die am 14. Dezember 1966 in Los Angeles, USA starb. Das Ehepaar hatte zwei Töchter: Rosanne J. Fürstenberg, geboren am 25. März 1929 in New York, die am 9. Juni 2008 dort verstarb, und Catherine, geboren 1930 in New York und im gleichen Jahr dort verstorben (?). Nach dem Tod seiner Frau 1966 zog Hellmuth Fürstenberg zurück nach Deutschland; er verstarb am 3. November 1971 in Frankfurt/Main.

Die rechtlichen und finanziellen Regelungen zur Wiedergutmachung 

Als die Fürstenberg-Söhne 1948 den Antrag auf Wiedergutmachung des durch die Nationalsozialisten erlittenen Unrechts stellten, war die rechtliche Regelung dafür noch keineswegs abgeschlossen. Erst am 16. August 1949 wurde das Gesetz Nr. 951 „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (Entschädigungsgesetz)“ vom amtierenden Länderrat (den Bundestag gab es noch nicht) auf der Basis von zwei Proklamationen der Militärregierung von 1945 beschlossen. Danach hat „ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz …, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945) wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.

Das Gesetz hat in der Folge eine Reihe von Ergänzungen erfahren und wurde 1955 durch den Bundestag neu gefasst. Bis dahin waren insgesamt 418 Millionen DM ausgezahlt worden. Der finanzieller Gesamtaufwand für die Durchführung des Gesetzes in der neuen Fassung wurde auf 6,5 bis 7 Milliarden DM geschätzt, wovon bei Inkrafttreten der Novelle (1. April 1956) rund 1 Milliarde DM gezahlt sein sollten (35). Bis 2022 betrugen die Gesamtleistungen etwa 48 Milliarden Euro (als ca. 94 Milliarden DM), wovon (gerundet) 7 Milliarden auf Kapitalentschädigungen und 41 Milliarden auf Renten entfielen; 40 Milliarden Euro an Zahlungen gingen ins Ausland. Nahezu eine Milliarde DM wurde im Rahmen von Globalabkommen mit den europäischen Nachbarstaaten gezahlt. Insgesamt wurden von 1953 bis 1987 mehr als 4 Millionen Anträge auf Wiedergutmachung gestellt, von denen etwa die Hälfte positiv entschieden wurde und die übrigen je zur Hälfte abgelehnt oder zurückgenommen oder anderswie erledigt wurden (Daten aus (36)). Diese Zahl entspricht jedoch nicht der Anzahl der Antragsteller, die niedriger ist: Wie wir sehen werden, haben die vier Fürstenberg-Söhne insgesamt mehr als 30 gleichlautende Anträge in verschiedenen Wiedergutmachungsverfahren gestellt: gegen den deutschen Staat als Rechtsnachfolger des NS-Regimes, gegen die Firma Reiwinkel bzw. gegen Walter Koch, der die Firma Rosenhain übernommen hatten, und gegen den Verein Berliner Künstler, das das Haus am Lützowplatz erworben hatte; diese Anträge wurden in zwei Verfahren zusammengefasst (siehe unten).

Es versteht sich von selbst, dass bei der Vielzahl solcher Verfahren Irrtümer und Fehlentscheidungen nicht ausgeschlossen werden konnten, ebenso wie es versuchten und erfolgreichen Betrug von Antragstellern gegeben hat. Darüber hinaus ist natürlich auch zu berücksichtigen, dass der „ideelle Wert“ eines erlittenen Verlustes mit der monetären Berechnung einer Sache (eines Hauses, eines Schmuckstückes etc.) nicht abgeglichen werden kann und immer zu Lasten des subjektiven Wertes gehen muss, da sich Emotionen nicht messen lassen. Die Wiedergutmachungsverfahren der Gebrüder Fürstenberg wurden daher, wie viele andere solcher Verfahren, vielfach mit erstaunlicher Härte auf Seiten der Beklagten geführt, mit Unterstellungen und Vorwürfen, die heute oft erschreckend wirken; davon weiter unten mehr.

Die beiden Wiedergutmachungsverfahren

Die Wiedergutmachungsakten (WGA) im Landesarchiv Berlin lassen sich grob in zwei Komplexe unterteilen:  1. Antrag auf Wiedergutmachung (Restitution) des Verlustes des elterlichen Hauses am Lützowplatz 9 (WGA-1), und 2. Antrag auf Restitution des Verlustes der Firma Rosenhain GmbH und der mit ihren verbundenen Immobilien (WGA-2). Auffallend ist dabei, dass eine Immobilie, Lützowstraße 60, in keinem der beiden Verfahren eine Rolle spielte, auch wenn die Familie dieses Grundstück bereits 1919 erworben hatte und darauf ein eindruckvolles Wohnhaus stand (Bild 37). 

Bild 37: Das Wohnhaus Lützowstraße 60 (rechts) sowie 61, 1938 kurz nach dem Umbau für die Herresplankammer. Das Wohnhaus 60 gehörte zur Hälfte der Familie Fürstenberg (s. unten, Bild 38) (Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte zur Heeresplankammer, digitalisiert: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/39ded8c4-abd5-4560-9b00-4ad0348fa79a/)

Bei Durchsicht der WGA-1-Akten fiel auf, dass ein Situationsplan der beiden Grundstücke Lützowstr. 60 und Lützowplatz 9 (Bild 38) darauf hinwies, dass es zum Grundstück an der Lützowstraße einen separaten Vertrag vom 28. Februar 1938 mit dem „Reichsfiskus (Heer) = Wehrkreiskommando III“ gegeben hatte, der zur „Auflassung“ und damit zum Verkauf des Geländes und Gebäudes am 29. Juni 1938 führte. Hier zog nach Umbau noch am 1. Oktober 1938 die Heeresplankammer ein. Zu diesem Vorgang gibt es keine Unterlagen, auch die Bauakte fehlt, aber das Fehlen eines Wiedergutmachungsantrags lässt darauf schließen, dass die Fürstenbergs diesen Vertrag noch ohne „Schaden“ abgewickelt haben und den Verkaufspreis, anders also als die beiden „Verkäufe“ zu WGA-1 und WGA-2, ohne Einschränkungen erhalten haben – er hat es ihnen möglicherweise die Flucht erst ermöglicht. Interessanterweise war das Gartengelände hinter diesem Haus Lützowstraße 60 wiederum Teil des Kaufvertrags mit dem Verein Berliner Künstler (VbK) vom 7. Dezember 1938 war. Nach Auffassung der Familie Fürstenberg war einzig ein 510qm großes Grundstück zwischen den beiden Grundstücken aus jeglicher Vereinbarung herausgefallen und wurde in WGA-1-Verfahren geltend gemacht.

Bild 38: Grundstückplan der Häuser Lützowstrasse 60 und 60a. Das Grundstück 60a (rot) war im Februar 1938 an das Deutsche Reich verkauft worden, das dazugehörige Gartenstück (blau) zusammen mit den Haus Lützowplatz 9 (blau, straffiert) im Dezember des gleichen Jahres
an den Verein Berliner Künstler (Quelle: Wiedergutmachungsakte im Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-05 Nr. 204/49, Blatt 80).

Der Verein Berliner Künstler (VbK)

Elf Jahre nach dem Krieg und 18 Jahre nach dem Erwerb des Hauses Lützowplatz 9 (früher: 5), 1956, legte der Verein in einem Bericht (in 7 Teilen) an seine Mitglieder (37) Rechenschaft ab über die Geschichte des Vereins, insbesondere in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg. Der 1841 gegründete Verein residierte von 1898 bis 1928 in der Bellevuestraße 3, war aber „aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten“ gezwungen, dieses Haus zu verkaufen. In einem Bieterstreit zwischen Wertheim, Eigentümer des Kaufhauses im Leipziger Platz nebenan, und der französischen Kaufhauskette Lafayette, die in Berlin Fuß fassen wollte, wurde dem Verein von Wertheim 3,1 Millionen Reichsmark für das Haus geboten (davon 1 Million als Hypothek auf das Grundstück) und der Kauf besiegelt. Von diesem Geld erwarb der VbK die Villa des Barons Erich von Goldschmidt-Rothschild in der Tiergartenstraße 2a (Bild 39), die umgebaut und für die Zwecke des Vereins eingerichtet (Gesamtkosten: etwa 700.000 RM) und 1931 eingeweiht wurde. Das verbleibende Vermögen, immerhin noch 1,5 Millionen RM, erlaubte dem Verein üppige Ausstellungstätigkeit in den nächsten Jahren, bis nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 sich alles änderte: NSDAP-Mitglieder übernahmen den Vorstand (1935), jüdische Vereinsmitglieder mussten den Verein verlassen, und der Plan für die Nord-Süd-Achse der neuen Hauptstadt Germania des Albert Speer (38) machte allen klar, dass auch das Haus Tiergartenstraße 2 nicht mehr lange bleiben konnte. In dieser Situation, so der Bericht, „wendet sich die jüdische Familie Fürstenberg (Egon Sally Fürstenberg) an den Verein und bietet dem Verein ihr Haus Lützowplatz 9 an. … Der Verein … geht auf das Anerbieten ein …und erwirbt nach einer vierteljährlichen Verhandlung das angebotene Haus …“ für 370.000 RM am 10 Dezember 1938 – Ende des 6. Teils des Berichtes. 

Bild 39: Das Künstlerhaus in der Bellevuestraße 3 (links) (Foto von 1900, Fotograf unbekannt) und das Vereinshaus ab 1928 in der Tiergartenstraße 2A (Foto von 1935, Fotograf: Walter Köster, Landesarchiv Berlin Nr. F 290 (08) Nr. 0152454 mit freundlicher Genehmigung).

Was hier aussieht wie ein freundliches Entgegenkommen auf das Angebot der Fürstenbergs ist in Wahrheit ein Ausnutzen der Notlage der Familie – die vierteljährliche Verhandlung wird also eher dem Zwecke gedient haben, den Preis zu drücken, wussten doch alle Beteiligten (insbesondere der aus Parteimitgliedern bestehende Vorstand) im Frühjahr 1938 um die systematische Arisierung jüdischer Geschäfte und Immobilien. Dass die Familie Fürstenberg sich aktiv an der Suche nach einem Käufer beteiligt hat, ist dagegen sehr wahrscheinlich, das hat sie auch im Zuge der „Entjudung“ der Firma Rosenhain gemacht (s. oben, Teil 6). Später (33) wird aus dem freundlichen „Anerbieten“ sogar noch die historisch falsche Behauptung, dieses Angebot sei vom zum VbK gehörenden ausserordentlichen Vereinsmitglied Egon Sally Fürstenberg gekommen (s. oben, Teil 6), schamloser geht es kaum. An anderem Ort und nach dem Krieg wird dieses „Angebot“ sehr wohl in Anführungszeichen gesetzt (39).

Im 7. Teil des VbK-Berichtes geht es dann um das Restitutionsverfahren selbst, das 1949 begann – der „große Umbruch des Reiches“ und der „furchtbare Krieg“ dazwischen kommen sehr kurz weg, die 100-Jahr-Feier seiner Existenz 1941 unter dem Hakenkreuz überhaupt nicht – sie finden sich in anderen Dokumenten ihrer Zeit (40). Dieser 7. Teil fasst die Auseinandersetzungen zwischen dem VbK und den Fürstenberg-Söhnen bis 1956 zusammen und endet 1956; der VbK wird noch weitere drei Jahre warten müssen, bis ein Urteil des Landgerichts Berlin am 6. November 1959 den Streit beendet – und er wird dabei die meisten seiner initial erhobenen Ansprüche und Forderungen verlieren. Einen finalen Teil des Berichtes gibt es nicht, zumindest nicht im Archiv der Akademie der Künste (38).

Literatur

35. https://de.wikipedia.org/wiki/Bundesentschädigungsgesetz

36. Bundesministerium der Finanzen: Wiedergutmachung – Regelungen zur Entschädigung von NS-Unrecht. Im Internet: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Downloads/Broschueren_Bestellservice/2018-03-05-entschaedigung-ns-unrecht.pdf

37. Archiv der Akademie der Künste (AdK): Archivalien-Nr. VereinBK Nr. 27 (Manuskript der Chronik von Arthur Hoffmann von 1956), und Nr. 713 (Schreiben des Rechtanwaltes Graul vom Dezember 1952).

38. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania. Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Transit Buch-Verlag 1984.

39. Martin-M. Langner: Der Verein Berliner Künstler zwischen 1930 und 1945. In: Verein Berliner Künstler: Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Berlin, Nikolaische Verlagsbuchhandlung 1991 (hier: Seite 110).

40. Die Kunst im Deutschen Reich, 5. Jahrgang, Folge 8/9 (August/September) 1941 (Zentralverlag der NSDAP, Franz Eher Nachf. München), S. 182-187.