Stolpersteine für die Familie Kubatzky

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,

am Montag, 24. Juni 2024 werden in den Bezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Mitte zehn Stolpersteine für sechs Geschwister und Angehörige der Familie Kubatzky verlegt. Die Geschwister wurden in Pommern geboren, kamen aber letztlich alle nach Berlin.

Wir gedenken mit der Verlegung von Stolpersteinen der Geschwister
Wanda Kubatzky (verheiratete Dumke), überlebte den Holocaust in Deutschland (Mischehe)
Anna Kubatzky (verheiratete Budzislawski), nach Auschwitz deportiert und ermordet
Max Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
Hermann Julius Kubatzky (Flucht mit Familie nach Palästina)
Hedwig Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet
Johana Kubatzky, nach Auschwitz deportiert und ermordet

In Tiergarten Süd werden Stolpersteine für folgende Personen verlegt:

Um 14 Uhr  werden in der Lützowstraße 87 drei Steine
für Hermann Julius Kubatzky, Rosa Kubatzky, geb. Arndt und deren Sohn Herbert Kubatzky
verlegt. Die Flucht nach Palästina in den 30er Jahren rettete ihnen das Leben. Sie haben den Holocaust überlebt.

Zu Hermann, Julius Kubatzky ist Folgendes bekannt:
Er wurde am 12. Dezember 1878 in Ratzebuhr, dem ehemaligen Deutsch Krone, geboren. Seine letzte bekannte Meldeadresse in Deutschland ist: Berlin, Lützowstrasse 87. Gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn ist er am 17. Dezember 1937 nach Haifa / Israel ausgewandert. Eventuell war er noch in den USA bevor er spätestens 1957 wieder nach Deutschland kam (seine Frau verstarb 1944). Letzte bekannte Adresse ist die Iranische Strasse 6 in Berlin (Jüdisches Altersheim).
Hermann Julius Kubatzky war 2x verheiratet: mit Rosa Arndt (geboren 1872 gestorben 1944) und davor mit Elly Rosenthal.

Um 15 Uhr werden in der Pohlstraße 64 zwei Steine
für Hedwig Kubatzky und ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt.

Hedwig Kubatzky wurde am 27. November 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet. Johana Kubatzky lebte 1939 noch in Pommern. Sie wurde am 15. August 1942 vom Sammellager in der Berliner Gipsstraße nach Riga deportiert und dort ermordet.

Über Hedwig Kubatzky ist das Folgende bekannt:
Geboren wurde sie am 13. Januar 1875 in Zippnow, dem ehemaligen Deutsch Krone.
Sie arbeitete als Schneiderin / Modistin. Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse: bis 1940 wohnte sie in der Ludendorffstrasse 64 (heute Pohlstrasse). Sie musste ihre Wohnung aufgeben und ihre letzte bekannte Adresse in Berlin befindet sich in einem sogenannten „Judenhaus“ in der Turmstrasse 9.
Deportation am 27. November 1941 nach Riga, wo sie am 30. November 1941 ankam. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, wurden im Wald von Rumbula erschossen.

Über Johana Hanna (Hannchen) Kubatzky wissen wir Folgendes:
Geboren wurde sie am 16. August 1873 in Zippnow, im ehemaligen Deutsch Krone.

Ihre letzte bekannte, frei gewählte Adresse findet sich im Mai 1939 (Deutsche Minderheiten-Volkszählung) in Ratzebuhr, im ehemaligen Deutsch Krone. Sie muss zwischen 1939 und 1942 zu ihrer Schwester nach Berlin gezogen sein.

Die letzte bekannte Adresse in Berlin ist Gipsstrasse 12 a (Sammellager).

Am 15. August 1942 wurde sie mit dem 18. Osttransport nach Riga deportiert – Ankunft am 18. August in Riga. Alle Menschen, die den Transport selber überlebten, aber als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden, wurden unmittelbar nach der Ankunft in den Wald von Bikernieki getrieben und dort erschossen. Johana wurde auf der Liste als nicht arbeitsfähig vermerkt.

Jüdische Gewerbebetriebe (2) Versandhaus A. Blumenreich (Teil 2)

Im ersten Teil der Geschichte hatten wir die Herkunft Arnold Blumenreichs – und seiner Geschwister – vorgestellt, insbesondere den berühmt-berüchtigten Vater Paul Philipp Perez Blumenreich und seine vier Ehen mit insgesamt 14 Kindern (JUELE vom 22. Juni 2024). Wir haben uns gefragt, was bei so einer chaotischen Kindheit aus den vier Kindern der ersten Ehe geworden sein mag. Hier und heute also die Geschichte des ältesten Sohnes und seiner Familie, nachdem zwei Geschwisterkinder, die vor ihm geboren worden waren, noch im Kleinkindalter verstarben.
Laut Geburtsurkunde hieß er Arnold, aber er schrieb sich später im Leben gelegentlich, wenngleich nicht immer Arnhold (Bild 1) – wir werden ihn einheitlich Arnold nennen.

Bild 1: Aus der Bücherei des Arnhold Blumenreich (aus: Sammlung Ex Libris, Datenbank der Sammlungen des Museums für Angewandte Kunst, Budapest, Ungarn. Künstler: Felix Willmann, Berlin)

Von Wien nach Berlin

Arnold Blumenreich, geboren am 6. November 1875 in Berlin, heiratete am 3. Dezember 1905 in Wien Ilse Mautner, Tochter des Hauptschullehrers Julius Jakob Mautner, geboren am 23. August 1877. Im diesem Jahr 1877 waren die Eltern von Arnold, der Schriftsteller Paul Blumenreich und seine (erste) Frau Adele, geborene Fränkel, die zu diesem Zeitpunkt hochschwanger war, mit Arnold nach Wien umgezogen, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung wurde und vor allem Theaterstücke verfasste; drei Jahre später (Arnold war 5 Jahre alt) zog die Familie wieder zurück nach Berlin. Als er neun Jahre alt war (1885), starb seine Mutter an Tuberkulose. Ein Jahr später (1886) heiratete sein Vater erneut. Diese Ehe hatte nur vier Jahre Bestand, sie wurden 1890 geschieden, Arnold war jetzt 15 Jahre alt. Zuvor bereits hatte sein Vater, vermutlich in Wien, die Schriftstellerin Franziska Kapff-Essenther (1845-1899) kennengelernt, sie wurde 1891 seine dritte Frau.

Es ist völlig unklar, wo Arnold seine Schulzeit verbracht hat (vermutlich größtenteils in Berlin), wo er seine Buchhändler-Lehre gemacht hat, und wann und wo er die Ilse Mautner kennengelernt hat, wahrscheinlich in Wien. Jedenfalls haben sie dort 1905 in der jüdischen Gemeinde geheiratet. Im Jahr 1906 kam ein Sohn, Victor, zur Welt, und im Jahr 1911 eine Tochter, Gerda. 1919 zogen Victor und Gerda mit den Eltern nach Berlin. Victor Tod wurde im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens 1960 dokumentiert : er starb Neufchatel (Schweiz) „gegen Ende des 1. Weltkriegs … sein Tod wird mit dem Zeitpunkt 31. Dezember 1923 festgestellt“ (1).

Im Jahr 1908 eröffnete Arnold Blumenreich in Wien, in der Webgasse 12, das Wiener Kunsthaus Ges.m.b.H., das bis 1923 in Wien nachweisbar ist, jedoch mit Unterbrechungen. Darüber hinaus war Arnold Blumenreich Gesellschafter eines Kunst- und Musikalienhandels in Wien, und meldete 1916 in Wien „Blumenreich´s Versandhaus Ges.m.b.H.“ an; eine gleichnamige Fima eröffnete er in Budapest. Dieser Teil seiner Biografie ist in der exzellenten Master-Arbeit von Victoria Louise Steinwachs (2) gut recherchiert und dokumentiert. Auch die vielfältigen Aktivitäten des Versandhauses (Kauf, Verkauf, Vermittlung von Kunst etc.) sind bei Steinwachs gut dokumentiert und werden hier nicht behandelt (Bild 2).

Bild 2: Visitenkarte des Arnold Blumenreich (aus: Der Querschnitt, Sommerheft (Heft 2) 1922).

Den Beitrag von Bethan Griffiths „Jüdische Gewerbebetriebe rund um die Potsdamer Straße: Versandhandel Arnhold Blumenreich“ über den Aufstieg und die anschließende Auflösung des Geschäftes nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wollen wir hier nicht wiederholen, sondern verweisen auf die Veröffentlichung hier vom 17. Februar 2023. Diese Geschichte endet mit dem folgenden Absatz: 

Für das Ehepaar wurde es in Berlin immer bedrohlicher. Im Mai 1939 wurde Arnhold aus unbekannten Gründen verhaftet und im Polizeigefängnis Mitte inhaftiert. Er und Ilse wurden schließlich am 28.10.1942 aus ihrer Wohnung in der Solinger Str. 6 nach Theresienstadt deportiert. Die furchtbaren Bedingungen des Konzentrationslagers überlebte Ilse nur ein halbes Jahr. Arnhold starb ein Jahr nach seiner Deportation. 

Die weitere Geschichte wirft einige Fragen auf, denen wir nachgegangen sind: Warum und wie wohnte die Familie in der Solinger Straße 6? Was geschah mit den Kunstgegenständen? Was wurde aus Gerda Blumenreich, der Tochter? Gab es nach dem Krieg ein Wiedergutmachungsverfahren, und wie ging es aus?

Judenhäuser in der Solinger Straße

In der Levetzowstraße 7/8 in Berlin-Moabit befand sich seit 1914 eine der größten Synagogen Berlins. Die Nationalsozialisten richteten dort 1941 ein Sammellager für Juden ein, die sie anschließend in den Osten deportierten (3) – und drumherum gab es eine Vielzahl von sogenannten „Judenhäusern“, in denen die von außerhalb Berlins oder aus anderen Stadtteilen zusammengezogenen Juden bis zur – geplanten – Deportation ab dem Jahr 1939 einquartiert wurden. Die Solinger Straße 6 war so ein Judenhaus in der Nähe der Synagoge, neben einigen anderen in der gleichen und den umliegenden Straßen (Bild 3). Natürlich wohnten besonders viele Juden in der Umgebung der Synagoge, und viele dieser Häuser hatten ursprünglich jüdische Besitzer – sie standen nach der Machtergreifung des Nazis unter Zwangsverwaltung, auch das Haus Solingerstraße 6. Es gehörte einem J. Kaufmann aus Riga und wurde ab 1939 von einer Charlotte Meurer im Auftrag der Treuhandstelle Ost verwaltet. Arnold Blumenreich arbeitete zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Buch- und Kunsthändler, sondern als „Wohnungsberater“ der Jüdischen Krankenversicherung (JKV) für 190 Reichsmark (RM) monatlich. Die Miete für die 4-Zimmer-Wohnung war 130,30 RM im Monat. In der gleichen Wohnung war weiterhin eine jüdische Familie (Ernst und Elfriede Süßmann und ihre Tochter Franziska) untergebracht (4). Der Vormieter der Wohnung, Heymann Grossmann, war im Oktober „ausgewandert“.

Bild 3: Sogenannte „Judenhäuser“ in der Umgebung der Synagoge in der Levetzowstraße, insbesondere in der Solinger Straße. Screen-Kopie der Webseite „Zwangsräume“ (5).

Die Webseite „Zwangsräume“, die Judenhäuser in Berlin dokumentiert (5), nennt wenigstens 16 Umzüge an diese Adresse nach 1939. Eine dieser Umzüge war der der Familie Arnold Blumenreich, die nach 1939 nicht mehr unter ihrer alten Adresse (1938: Schöneberger Ufer/Großadmiral von Koester-Ufer 55; 1939: Kluckstraße 13) im Berliner Adressbuch gelistet war. Sie zog zum 28. November 1940 in die Solinger Straße 6, 2. Stock, nachdem sie zuvor offenbar kurzzeitig schon in der Solinger Straße 3 gewohnt hatte, ein weiteres Judenhaus mit mindestens 13 Einzügen seit 1939. Durch diese Zwangsumzüge war, wie die Nazi-Presse lauthals verkünden konnte, das Tiergartenviertel „judenfrei“ und bereit zum großen Umbau für „Germania“, den Monster-Stadtplan von Albert Speer (6).

Wir erfahren all dies aus den Akten, die das Finanzministerium angelegt hatte (4), um Eigentum und Vermögen der Juden zu erfassen und zu konfiszieren. Auf der Grundlage eines entsprechenden anti-jüdischen Gesetzes musste alle Juden in Deutschland eine gesonderte Vermögenserklärung gegenüber dem Finanzamt abgeben – die Erklärung der Familie Blumenreich (Arnold, Ilse und Gerda) listet alle Einrichtungsgegenstände der Wohnung auf, die sie in der Solinger Straße bewohnten (s. unten) – Kunstgegenstände waren nicht darunter. 

Da jüdische Galeristen bereits vor 1939 ihre Geschäfte aufgeben mussten, aus den Kunst- und Kunsthändler-Verbänden ausgeschlossen wurden und die von ihnen gehandelte Kunst oftmals als „entartet“ gebrandmarkt worden war, wurde die Kunst versteigert; die „entartete“ ging ins Ausland, um Devisen einzufahren für den geplanten Krieg, und wenn sie dem nationalsozialistischen „Zeitgeist“ entsprach, an einheimische Sammler. Wenn sich nicht zuvor Göring oder Hitler die Werke selbst unter den Nagel rissen für ihre Privatsammlungen (7).

Arnold und Ilse hatten einen Ehevertrag zur Gütertrennung vom 24. März 1906, also noch in Wien vereinbart und im Notariatsregister Breslau am 12. August 1911 hinterlegt. Die Vermögenserklärungen von Arnold und Ilse Blumenreich (vom 16. Oktober 1942) sind darüber hinaus deswegen spärlich, weil sie den gesamten Hausrat 1939 ihrer Tochter Gerda als Aussteuer übertragen hatten und bis auf weniges Persönliches, vor allem Kleider, nichts mehr besaßen. Sollten sie noch Geld gehabt haben, so haben sie dies sicherlich für die Reise und Unterbringung in Theresienstadt ausgeben müssen – die Nazis ließen sich auch dies von den Deportierten bezahlen, da ihnen ja ein „Altersruhesitz“ versprochen wurde – welch ein Zynismus. Als Gerda ihre Vermögenserklärung abgab (am 24. November 1942), waren ihre Eltern bereits „abgereist“: Sie wurden mit dem 68. Alterstransport am 28. Oktober 1842 nach Theresienstadt deportiert (8) – ob sie danach noch mal Kontakt mit ihnen hatte, ist zweifelhaft, beide starben innerhalb eines Jahres. Aber die geheime Staatspolizei (Gestapo) konnte dem Oberfinanzpräsidenten die erfolgreiche Beschlagnahmung des Vermögens weiterer 100 Juden nebst deren Abschiebung nach Theresienstadt in einem geschäftsmässigen Schreiben melden (Bild 4).

Bild 4: Schreiben der Gestapo vom 30. Oktober 1942 an den Oberfinanzpräsidenten zum Vollzug des 68. Alterstransportes (aus (8)).

Gerda Blumenreich

Gerda Blumenreich, am 16. März 1911 in Wien geboren, war 22 Jahre alt, als die Nazis an die Macht kamen. Sie war unverheiratet, hat noch bei ihren Eltern gewohnt, und war laut Informationen aus den Akten des BLHA (9), von Beruf Fürsorgerin und ständige Helferin in der Synagoge in der Levetzowstraße. In ihrer Vermögenserklärung gibt sie weitere Informationen: Sie arbeitete zuletzt bei der Jüdischen Kulturvereinigung zu Berlin e.V. für 200 RM netto im Monat, bewohnte die 4-Zimmer-Wohnung nach der „Abwanderung“ ihrer Eltern nach Theresienstadt allein, zahlte dafür 135 RM Miete, hatte aber einen weiteren Untermieter aufgenommen – möglicherweise war die Familie Süßmann ebenfalls bereits deportiert worden.

Das Wohnungsinventar wurde Finanzamt auf eine Gesamtwert von 1239 RM geschätzt, wobei bei vielen Positionen vermerkt wurde: defekt, alt, beschädigt, zerbrochen etc. Dies wurde später im Wiedergutmachungsverfahren als „übliche Praxis“ der Auktionshäuser bezeichnet, um den Preis zu drücken und so auf jeden Fall die Gegenstände zu verkaufen – das Finanzamt war schließlich nicht an Möbeln interessiert, sondern an Geldwerten. Die Versteigerung von etwa 60 Positionen am 23. März 1943 listet auch die vielen Käufer des Blumenreichschen Hausrates. Der auf der Auktion erzielte Gesamtverkaufspreis von 3097,00 RM reduzierte sich um 309,70 RM als Gebühr für die Versteigerung, und 203,10 RM für den Transport des Hausrats, so dass am 6. April 1943 nur 2584,20 RM an die Finanzkasse des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg überwiesen wurden. Auch das Eigentum der Familie Süßmann kam zur Versteigerung und erbrachte (netto) 387,10 RM. Als das Geld beim Finanzamt einging, war Gerda Blumenreich schon mit dem 23. Osttransport am 29. November 1942 als Nr. 1007 von 1021 anderen nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich unmittelbar nach Ankunft umgebracht worden (10) (Bild 5).

Bild 5. Gerda Blumenreich auf der Deportationsliste des 23. Osttransports (aus: 10).

Aber es gab weitere Interessenten an dem wenigen Geld: Die Hausverwaltung veranlasste unmittelbar nach Auszug von Gerda Blumenreich umfängliche Renovierungen der Wohnung, deren Gesamtrechnung sich auf 1093,46 RM belief. Diese Kosten machten sie gegenüber dem Finanzamt am 29. September 1943 geltend, und dann begann das, was man wohl eine Schacherei nennt. Das Finanzamt monierte, dass eine Gesamtrenovierung nach zwei Jahren Wohnens nicht angemessen sei, da bei Wohnungsbezug keinerlei Mängel notiert worden seien, sondern die Wohnung laut Mietvertrag renoviert übernommen worden sei. In der Vermögenserklärung hatte Arnold Blumenreich demgegenüber erhebliche Mängen in den hinteren Räumen beanstandet. Ausnahmsweise bot das Finanzamt die Übernahme von einem Drittel der Kosten an, und erhöhte schließlich auf 50%, nachdem die Hausverwaltung nachgelegt und über erhebliche Mietschäden durch ungenehmigte Untervermietung geltend gemacht hatte. Und so überwies das Finanzamt am 30. November 1944 vom Verkaufserlös des Mobiliars einen nicht unerheblichen Teil (510,76 RM) wieder zurück in den Geldkreislauf – 6 Monate vor Kriegsende. Die darüber hinaus gehenden vielfachen persönlichen wie dienstlichen Bereicherungen Einzelner wie auch unterschiedlicher Ämter und Behörden am Vermögen der Juden ist gut dokumentiert und diskutiert, z.B. bei Dinkelaker (3).

Das Wiedergutmachungsverfahren

Ein Antrag auf Wiedergutmachung (1) wurde am 19. März 1959 vom Bruder von Ilse Blumenreich geborene Mautner gestellt, Dr. Leo Viktor Mautner, der rechtzeitig vor dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich nach Columbien ausgewandert war – er war, als er den Antrag stellte, 85 Jahre alt und machte in seinem Antrag wegen seines hohen Alters auf eine gewissen Dringlichkeit aufmerksam. Das hinderte den Justizapparat in Deutschland jedoch nicht, zunächst die bürokratischen Mühlen mahlen zu lassen: Er musste nicht nur nachweisen, dass er der rechtmäßige Erbe seiner Schwester ist (was wegen der fehlenden Informationen über den Verbleib von Gerda schwierig war), er musste auch den Inhalt der Wohnung nachweisen, „da Hausratsgegenstände in der letzten Wohnung Berlin NW 87, Solinger Str. 6 nicht vorgefunden worden (sind)„. Er musste, als die Versteigerungsliste auftauchte, widerlegen, dass die Wohnungseinrichtung alt, defekt, zerbrochen etc. war – eine eidesstattliche Versicherung war dazu unzureichend, es musste vom Gericht ein Gutachten eingeholt werden, dass dies bestätigte und dass den wahren Wert des Mobiliars zum Zeitpunkt der Konfiszierung schätzte – es kam auf einen Wiederbeschaffungswert von 16.727 DM. Erst als das Gericht durchblicken ließ, dass es der Argumentation des Antrag folgen würde, bewegte sich das Finanzamt und bot am 13. Februar 1963 als Kompromiss die Zahlung von 10.000 DM – das RM:DM-Verhältnis lag in all diesen Verfahren bei etwa 10:1. Und erst nochmaliges Insistieren der Antragsteller und des Gerichtes führten schließlich am 1. März 1965 zum Vergleich: Zahlung von 13.364 DM – aber da war der Antragsteller bereits verstorben, und sein Sohn führte das Verfahren zu Ende. 

Literatur

1. Wiedergutmachungs-Akten (WGA) im Landesarchiv Berlin:  B Rep. 025-02 Nr. 22127/59.

2. Victoria Louise Steinwachs: Arnold Blumenreich. Ein Beitrag zur Erforschung jüdischen Kunsthandels in Berlin im Dritten Reich. Masterarbeit Kunstgeschichte, FU Berlin, ohne Jahr (2016).

3. Philipp Dinkelaker: Das Sammellager in der Berliner Synagoge Levetzowstraße 1941/42. Metropol Verlag Berlin 2017.

4. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich Arnold, 36A (II) 3700.

5. Webseite „Zwangsräume“ des Aktien Museums: https://zwangsraeume.berlin/de

6. Hans J. Reichhardt, Wolfgang Schäche: Von Berlin nach Germania – Über die Zerstörung der Reichshauptstadt durch Albert Speers Neugestaltungsplanungen. Berlin, Transit Buchverlag 1986.

7. Günther Haase: Die Kunstsammlung des Reichsmarschalls Hermann Göring. Kunstsammlung Göring. Eine Dokumentation. Quintessenz-Verlag Berlin 2000

8. Transportliste des 68. Alterstransport Theresienstadt. Arolsen Datenbank Doc ID: 127207457: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207457

9. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv: Blumenreich, Gerda, 26A (II) 3695

10. Transportliste des 23. Osttransport in das Konzentrationslager Auschwitz. Arolsen Datenbank Doc ID 127207555: https://collections.arolsen-archives.org/de/document/127207555.

STOLPERSTEINE ZUM GEDENKEN AN DIE FAMILIE KUBATZKY

Stolpersteine für Rosa, Herrmann und Herbert Kubatzky
Foto: EKI

Am Montag, 24. Juni, wurden in mehreren Berliner Bezirken insgesamt zehn Stolpersteine für Mitglieder der Familie Kubatzky verlegt. In Tiergarten-Süd hatten in der Lützowstraße 87, dort wo heute der Schulhof der Allegro-Grundschule ist,  Hermann Julius Kubatzky, seine Frau Rosa Kubatzky, geb. Arndt und ihr Sohn Herbert Kubatzky gewohnt.  Sie konnten in den 1930er Jahren nach Palästina fliehen und so ihr Leben retten. Alle drei haben den Holocaust überlebt.

Angehörige und Gäste bei der Stolperstein-Verlegung in der Lützowstr. 87
Foto FP

Debbie Kirby, Urenkelin von Hermann und Rosa Kubatzky, sprach auf Englisch einige bewegende Worte am Ort des ehemaligen Wohnhauses ihrer Urgroßeltern. Sie und weitere Verwandte waren aus Israel und den USA angereist. Sie dankten für die Teilnahme von rund 15 Nachbarn aus Tiergarten an dieser Veranstaltung.

Debbie Kirby, begleitet von ihrem Vater (re.) spricht Worte des Gedenkens an ihre Familie vo dem Hause Pohlstr. 64
Foto FP

Die Recherchen zum Schicksal dieser jüdischen Familie hat Oliver Staack ins Rollen gebracht: auf einem Flohmarkt kaufte er durch Zufall Postkarten, die Wanda Kubatzky ihrem Verlobten geschrieben hatte. Als Oliver Staack feststellte, dass die Familie Kubatzky aus dem pommerschen Kreis Deutsch Krone nach Berlin gezogen war, weckte das sein Interesse, weil auch seine eigene Großmutter von dort stammte. In der Corona-Zeit hatte er Muße für die tiefergehende Recherche und bekam über eine Genealogie-Seite im Netz Kontakt zu Debbie Kirby. Die Initiative „Stolpersteine Mitte“ brachte die Verlegung der Stolpersteine auf den Weg.

Theo Bröcker, Projekt Stolpersteine Mitte, erinnert an das Schicksal von Hedwig und Johana Kubatzky
Foto FP
Teilnehmende an der Stolpersteinverlegung in der Pohlstraße
Foto FP

Bei strahlendem Sonnenschein gingen die Gäste der Stolperstein-Verlegung gemeinsam in die Pohlstraße 64, dem früheren Wohnhaus von Hedwig Kubatzky, 1875 in Zippnow/Pommern geboren. Hedwig Kubatzky hatte im Hause Pohlstraße 64 ein Atelier, in dem sie ihren Beruf als Schneiderin und Modistin ausübte. Neben dem Stolperstein für Hedwig Kubatzky wurde ein weiterer für ihre Schwester Johana Kubatzky verlegt, deren Wohnadresse in Berlin nicht ermittelt werden konnte. Beide Schwestern wurden 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet.

Stolpersteine zum Gedenken an Johana und Hedwig Kubatzky vor dem Haus Pohlstr. 64
Foto EKI
Frank Lunte spielt Altsaxophon im Rahmen der Stolpersteinverlegung
Foto FP

Eine besondere Atmosphäre lag über beiden Gedenkveranstaltungen: Frank Lunte, Musiklehrer an der Allegro-Schule, spielte auf dem Altsaxophon mehrere Musikstücke jüdischer Komponisten aus den 1930er Jahren.

Jüdische Gewerbebetriebe (2): Versandhaus A. Blumenreich (Teil 1)

Auch für diese Geschichte gibt es eine Vorlage von Beth Griffiths (mittendran am 18.  Dezember 2022, diese Webseite vom 17. Februar 2023), und auch diese Geschichte – in zwei Teilen – erzählt zunächst die familiäre Herkunft des Arnold Blumenreich, bevor im Teil 2 sein Schicksal und das seines Versandhandels nach der Machtergreifung der Nazis thematisiert wird. Der Bezug zum Lützow-Viertel ist dabei zunächst eher zufällig, wenn die Familie Blumenreich immer wieder mal für kurze Zeit hier wohnte: in der Potsdamer Straße 66 von 1891-1893, in der Dennewitzstraße 19 in den Jahren 1903 und 1904. Erst seine Söhne Arnold, Leopold und Walter hatte ihre Wohnsitze dauerhaft im Lützow-Viertel.

Der Vater, Paul Philipp Blumenreich

Paul Philipp Perez Blumenreich war der Sohn des Optikers (Optirist, Optikus) Lesser Blumenreich in Berlin, über dessen Herkunft das Judenbürgerbuch der Stadt Berlin (1) keine Auskunft gibt: er muss also um oder nach 1848 nach Berlin gekommen sein, als Juden keinen Bürgerbrief mehr beantragen mussten – auch wenn das volle Bürgerrecht damit noch lange nicht erreicht war. Das Adressbuch von Berlin kennt Lesser Blumenreich im Jahr 1849 zum ersten Mal (Oranienburger Straße 12). Er blieb – mit Unterbrechung einzelner Jahre, in denen er umzog – bis 1876 als Optiker im Adressbuch, war aber laut einem Heiratsdokument seines Sohnes auch 1891 noch am Leben – sein Sterbedatum ist nicht bekannt. Er war verheiratet mit Doris Thiras, die 1873 verstarb, und am 17. November 1849 kam ihr (einziges?) Kind zur Welt. Und das hatte anderes im Sinn, als in die handwerklichen Fußstapfen des Vaters zu treten. 

Bekannt geworden ist Paul Blumenreich als Schriftsteller. Schreiben konnte er offenbar, für die Tagespresse für die Vossische Zeitung – nach eigenen Angaben nur kurzfristig -, für Das kleine Journal (2), für die Gartenlaube; er gab die Zeitschrift Montag heraus und führt ein Literarisches Bureau. Erstmals im Adressbuch erschien er als Redakteur Paul Blumenreich 1874 (Alte Jacobstraße 136), wenn er nicht identisch war mit dem Buchhändler und Antiquar Paul Blumenreich (Dresdnerstr. 66) in den Jahren 1872 und 1873 – das wäre bei dieser Familienherkunft ein sehr früher Beginn einer intellektuellen Karriere, vor Erreichen der Volljährigkeit mit 24 Jahren. 

Paul Philipp Perez Blumenreichs berufliches und familiäres Leben reichte für mehr als eine Person, und genau so hat er es auch organisiert: Das fängt schon damit an, daß er sich im Schriftsteller- und Theaterleben Paul Blumenreich nannte, private Urkunden und Dokumente aber meist mit PhilippBlumenreich unterschrieb. In der Geburtsurkunde seines Sohnes Walter von 1880 geriet diese Konzept offenbar kurzfristig in Unordnung, als er bei seiner Unterschrift seinen Vorname Paul durchstrich und durch Philipp ersetzte. Er heiratete 1891 unter dem Namen Philipp Blumenreich. Und als der Schriftsteller Paul Blumenreich aus den USA zurückkam (s. unten), lebte er – zumindest für kurze Zeit – unbeschadet des Haftbefehls in Berlin unter dem Namen Philipp Blumenreich in Wien. Auch seine Sterbeurkunde im Standesamtsregister weist ihn als Philipp Blumenreich aus (Bild 1).

Bild 1: Unterschriften-Korrektur (Paul gestrichen, Philipp ergänzt) auf der Geburtsurkunde von Walter Blumenreich 1880.

Paul Blumenreich war Schriftsteller, auch wenn er 1869 als Schauspieler am Leipziger Stadttheater angefangen hatte. Er schrieb Theaterstücke am laufenden Band, die in Berlin, Wien und anderswo aufgeführt wurden, zumeist Komödien und Glossen, nicht selten in – manchmal nicht-autorisierter – Übernahme oder Übersetzung aus dem Englischen oder Französischen (3). Und außerdem publizierte er unter verschiedenen Pseudonymen: Hellmuth Wilke, Jörg Ohlsen und Georg Berwick.

Blumenreich war auch Mitbegründer des 1895 im Berliner Stadtteil Charlottenburg gegründeten Theater des Westens (Bild 2)ebenso wie „Erfinder“ und Direktor des Theaters Alt-Berlin auf der Berliner Gewerbeschau von 1896, das unter dem Protektorat des Vereins für die Geschichte Berlins von 1869 stand und mit einem finanziellen Desaster endete. Details dazu waren in der Tagespresse in Berlin, Wien und anderswo Thema kontinuierlicher Diskussion, an die er sich laufend beteiligte. Die gegen ihn gerichteten Vorwürfe des Betrugs kommentierte er mit einer 68-seitigen „Festschrift“ von 1897 (4), mit umfangreichem, interessantem, wenngleich nicht in allen Fällen gesichertem Detailwissen, das in der Stadt einen Skandal auslöste. 

Bild 2: Postkarte (Ausschnitt, von 1900) des Theaters des Westens in der Kantstrasse.

Die von ihm erwartete, nicht unbedingt befürchteten Beleidigungsklagen blieben aus, der Vorwurf des Betrugs aber blieb. Im Laufe der Jahre sammelte er Gerichtsurteile: Im Oktober 1883 verlor er eine Beleidigungsklage als Chef des Kleinen Journals (60 Mark Strafe), im Januar 1884 wurde eine Klage wegen unerlaubten Nachdrucks eingestellt, im Juni 1885 war er bei einer Klage wegen falscher Anschuldigung in einem Artikel unauffindbar. Nach dem Scheitern des Theaters Alt-Berlin wurde er im Oktober 1896 steckbrieflich gesucht wegen Betruges, war für einige Zeit verschwunden, stellt sich dann, um im darauffolgenden Jahr (1897) erneut mit einem Steckbrief gesucht zu werden, da er nach dem Urteil und einer abgelehnter Revision verschwand; dazu unten mehr. 

Philipp Blumenreich heiratete am 15. März 1873 Adele Fränkel aus Breslau (1850 – 16. Mai 1885 Berlin). Das Ehepaar hatte neun Kinder, von denen allerdings fünf noch im Kindesalter starben: Benjamin (1873-1877), Oskar (1874-1875), Arnold (1875-1943), Elsa (1877-1956), Hans (1878-1878), Walter (1880-1940), Dorothea (1881-1882), Erich (1883-1885), und Leonhard (1884-1932). Im Jahr 1877 zog die Familie nach Wien, wo Blumenreich Redakteur einer Zeitung war, Feuilletons schrieb, aber vor allem Theaterstücke verfasste (siehe oben). Gelegentlich wurde er hier mit einem Doktor-Titel geziert, aber das mag dem österreichischen Hang zu klangvollen Titeln geschuldet sein. Drei Jahre später zog die Familie wieder nach Berlin, und Paul Blumenreich arbeitete als Schriftsteller und Redakteur der Zeitschrift „Kleines Journal“. In den folgenden Jahren (1881 bis 1888) wechselte die Familie nahezu jährlich die Wohnadresse, bevor sie nach sieben Umzügen in acht Jahren für drei Jahre in der Potsdamer Straße 66 verblieben – vermutlich war dies der wachsenden Kinderzahl geschuldet. Ein halbes Jahr nach der Geburt des Jüngsten, Leonhard, starb Adele Blumenreich geborene Fränkel im Alter von nur 35 Jahren, vermutlich an Tuberkulose. 

Der Witwer mit vier minderjährigen Kindern (drei Söhnen und eine Tochter) im Alter von 6 Monaten, 5 Jahren, 8 Jahren und 15 Jahren heiratete ein zweites Mal am 21. November 1885: die Lehrerin Gutchen Gertrud Lewissohn (1856-1903). Zwei in der Nachfolge geborene Kinder starben innerhalb kurzer Zeit: ein Mädchen noch am Tag der Geburt (19. Juni 1887), ein Junge (Ludwig) nach 5 Wochen (15. Juli 1888). Zum Zeitpunkt des Todes des zweiten Kindes war der Aufenthalt des Vaters nicht zu ermitteln, wie die Geburtsurkunde bezeugt. Diese Ehe wurde am 11. Oktober 1890 geschieden. Gertrud Blumenreich geborene Lewissohn starb am 20. März 1903 in der „staatlichen Irrenanstalt Dalldorf“ in Berlin – ob ihre Krankheit mit dem unglücklichen Verlauf ihrer Ehe zusammenhing oder Grund für das Scheitern der Ehe war, entzieht sich unserer Kenntnis.

Der Vater, mit immer noch vier minderjährigen Kindern zwischen 5 und 20 Jahren heiratete erneut am 30. Juni 1891: Franziska Essenther, geboren am 2. April 1845, fing in Wien mit der Schriftstellerei an, erarbeitete sich einen tadellosen Ruf als frühe und engagierte Frauenrechtlerin, und erhielt für ihre schriftstellerische Tätigkeit 1886 einen Preis. Sie muss in Wien Paul Philipp Blumenreich kennengelernt haben, ging sie doch 1888 nach Berlin und bekam noch im gleichen Jahr ein Kind, Illa, geboren am 14. August 1888, für das Blumenreich die Vaterschaft bestätigte (Bild 3). Zwei weitere Kinder (Hertha, geboren am 5. September, Julius, geboren am 21. Januar 1891) wurden in Berlin geboren, bevor sie 1891 heirateten. Zwischen 1892 und 1894 lebte die Familie wohl in Stuttgart.

Bild 3: Geburtsurkunde von 1888 der Illa/Ella, dem ersten Kind aus der dritten Ehe. Zu diesem Zeitpunkt waren Philipp Blumenreich und Franziska Essenther noch nicht verheiratet, sie trug noch den Nachnamen ihres ersten Mannes (Kapff), von dem sie wenige Monate zuvor geschieden worden war; das Kind bekam daher den Nachnamen Kapff. In der Beischrift von 1891 rechts bestätigt Philipp Blumenreich, dass er die Franziska Kapff geheiratet habe und dass das Kind seinen Namen tragen könne, er also die Vaterschaft anerkenne.

In den folgenden 5 Jahren hatte Paul Blumenreich das Theater Alt-Berlin im Rahmen der Berliner Gewerbeausstellung (Bild 4) zunächst aufgebaut und dann in den Konkurs geschickt, hatte deswegen die geplante Direktion des Westend-Theaters an der Kantstraße verloren und war 1897 wegen Veruntreuung und Betrug angeklagt und verurteilt worden. Er floh, nachdem die Revision verworfen worden war, im gleichen Jahr in die USA; unklar ist, ob ihn dabei einige seiner Kinder begleiteten, wie manche Zeitungen zu berichten wussten. In der US-Volkszählung vom Januar 1900 jedenfalls waren zu diesem Zeitpunkt vier Kinder bei ihm: die 23-jährige Elsa und der 16-jährige Leo aus der ersten Ehe, und Illa/Ella mit 12 Jahren und Siegfried mit 9 Jahren aus der dritten Ehe (Bild 5).

Bild 4: Liebig-Sammelkarte zur Gewerbeausstellung 1896. In verschiedenen Serien dieser Karten werden Szenen aus der Berliner Geschichte dargestellt, die im Theater Alt-Berlin auf der Ausstellung aufgeführt wurden; hier die Überbringung der Nachricht von der Besetzung Berlins durch russische Truppen 1760 an Friedrich den Großen.

Paul Blumenreich bekam eine Anstellung beim Deutschen Theater in New York, schickte Geld nach Berlin, und unbestätigten Meldungen in der Presse zufolge schickte seine Frau ihm 1899 (zwei) Kinder nach New York City, reiste aber selbst nicht aus Angst vor der Seereise; sie hatte in dieser Zeit einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. Als er seine Anstellung in New York verlor, schrieb er nach Berlin, dass er Geld brauche. Sie erhöhte ihren schriftstellerischen Output und schickte Geld in die USA, als er aber schrieb, er habe „Rückenmarkschwindsucht“, war dieser Schicksalsschlag offenbar zu viel für sie: sie nahm sich im November 1899 das Leben (5). 

Bild 5: US-Census vom Januar 1900 für New York: Gelistet ist die Familie Blumenreich mit Vater und 4 Kindern.

Blumenreich kam im Juli 1900 aus den USA nach Wien, wurde als Redakteur eines illustrierten Wiener Wochenblattes angestellt, und heiratete im August 1902 in Wien ein viertes Mal: Ernestine (Erna) Gruber (1870-1941). Gemeldet war er unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich, Schriftsteller, wohnhaft Lerchenfelderstr. 44. Als er Unterlagen in Berlin beantragte, wurde die Berliner Polizei auf seinen Aufenthalt in Österreich aufmerksam. Auf Antrag wurde er von der österreichischen Polizei verhaftet und ausgeliefert. Er kam für neun Monate ins Gefängnis und im Januar 1902 wieder auf freien Fuß. Auch im Gefängnis Plötzensee schrieb er weiterhin Romane und Theaterstücke.

Aus dieser vierten Ehe stammen zwei Kinder: Hans, geboren 1902 und Rudolph, geboren 1903. Über die Witwe des Schriftstellers wissen wir wenig: Sie war bis 1910 noch in Berlin gemeldet und wohnte in der Altonaer Str. 13 im Gartenhaus. Ausweislich einer weiteren Quelle (6) ging es ihr nach dem Tod ihres Mannes finanziell nicht besonders gut, so dass sie einen Antrag auf Unterstützung bei der Schiller-Stiftung in Weimar stellte, die gemäß ihrer Satzung nicht nur Literaturpreise an Schriftsteller vergab, sondern auch finanzielle Unterstützung an notleidende Schriftsteller und ihre Angehörigen – ob ihr diese gewährt wurde ist bislang nicht bekannt. 1910 war sie offenbar nach Wien zurückgekehrt und lebte von 1916 bis 1941 an der gleichen Adresse (Rechte Wienzeile 117), dann verschwand sie aus dem Adressbuch. 

Das ließ Böses ahnen: Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 setzte sich dort die Judenverfolgung und -vertreibung durch die Nationalsozialisten in noch brutalerer Weise fort, und es stand zu befürchten, dass Ernestine (Erna) Gruber nach Theresienstadt oder in ein anderes KZ deportiert worden war. Eine Check der Arolsen-Datenbank der Holocaust-Opfer (7) ergab keinen Hinweis darauf, und in der Zeitungsdatenbank ANNO des österreichischen Nationalarchivs fand sich schließlich eine Notiz vom 16. April 1942 im Völkischen Beobachter, der Zeitung der NSDAP, wonach sie am 6. September 1941 verstorben sei. Diese amtliche Notiz fragte nach dem Verbleib ihres Sohnes Rudolf Blumenreich, der als Erbe gesucht wurde. Beide, Hans und Rudolf waren rechtzeitig nach Amerika ausgewandert.

Paul Philipp Perez Blumenreich starb 3. Juli 1908 in Berlin – unter dem Namen Philipp Perez Blumenreich. Er hinterließ seine Frau und sechs Kinder aus zwei seiner vier Ehen, von denen die vier aus der ersten Ehe versuchten, in Berlin Fuß zu fassen. Ob ihnen dies mit so einer chaotischen Kindheitsgeschichte geglückt ist, werden wir im nächsten Teil beschreiben – die Chancen dafür standen allerdings schlecht.

Literatur

1. Jacob Jacobson:  Die Judenbürger-Bücher der Stadt Berlin. Walter de Gruyter & Co. Verlag, Berlin 1962.

1. Franz Brümmer: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Band 1, 6. Auflage. Reclam Verlag, Leipzig 1913, Seite 266.

2. Das kleine Journal“ – Berliner Wochenschrift für Theater, Film und Musik“ (1878 bis 1935).

4. Paul Blumenreich: Das Theater des Westens. Festschrift und Epilog. Selbstverlag (Berlin) 1896 (digital in der Zentralen Landesbibliothek, ZLB Berlin).

5. Neues Wiener Tagblatt vom 30. Oktober 1899, Seite 3. Alle biografischen Informationen, mit all ihren Tatsachen, Spekulationen und Widersprüchlichkeiten, sind den Berliner Tageszeitungen Berliner Börsenblattund Berliner Tagblatt und Handelszeitung im Deutschen Zeitschriftenarchiv und den Österreichischen, insbesondere Wiener Tageszeitungen im Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek ANNO entnommen.

6. http://www.thilo-reffert.de/minima/skizzen/paul-blumenreich_biographische-miniatur

7. https://arolsen-archives.org/suchen-erkunden/suche-online-archiv/

Jüdische Geschichte in Tiergarten-Süd: Das Altersheim (Teil 3)

Eine E-Mail aus Schweden dieser Tage hat die Geschichte des jüdischen Altersheims in der Lützowstraße 48/49 (auf dieser Webseite am 8. Mai 2022 und 18. August 2023) auf ein neues Niveau gehoben, man kann den schwedischen Rechercheuren Johan Ulvenlöv, Matti Palm und Anders Larsson, die ihre Ergebnisse bereits 2017 in einem schwedischen Buch und 2019 in dessen englischer Übersetzung (Bild 1) (1) publiziert haben, nur gratulieren zu ihren Befunden – das ist mehr, als was ich mir persönlich zugetraut hätte.

Bild 1: Titelseite des Buches über Gustaf Ekström (1). „No remorse“ heisst: keine Gewissensbisse.

Im Teil 2 der Geschichte des Jüdischen Altersheims hatte ich nämlich geschrieben, dass von den vielen, geschätzt mehr als 200 Bewohnern des Altersheim nur wenige Spuren übriggeblieben sind, und hatte stellvertretend zwei Namen genannt, den einer Altenpflegerin, Johanna Calvary, geboren am 3. Januar 1896 in München, und den einer Heimbewohnerin, Rosa Mayer, geboren am 25. September 1868 aus Wittlich, die von den Nationalsozialisten deportiert und umgebracht worden waren. Und dass das ehemalige Altersheim nach seiner Räumung 1942 von der SS-Hauptabteilung des RSHA besetzt und genutzt wurde. Nur zu einem Heimbewohnerpaar, Hugo Mannheim und seine Ehefrau Emma, hatte ich zwischenzeitlich Akten um Centrum Judaicum Berlin gefunden und erhalten (2), die ich demnächst auswerten und beschreiben wollte.

Die schwedischen Kollegen, die ursprünglich auf einer ganz anderen Fährte unterwegs waren, haben mich nun eines Besseren belehrt: Sie konnten alle 256 Einwohner des Altersheims im Jahr 1939 namentlich identifizieren und ihr Schicksal nachverfolgen, das in den meisten Fällen – wie bei Calvary und Mayer – in Deportation und Ermordung endete. Aus dieser Recherche ist ein höchst lesenswertes Buch entstanden, das ich vor wenigen Tagen von Johan Ulvenlöv, einem der Autoren erhielt. Ich stelle es Interessierten gern zur Verfügung.

Ulvenlöv und Kollegen waren – und sind – auf der Suche nach Spuren eines schwedischen Alt-Nazis, Gustaf Ekström (1907-1995), der sich 1941 als Freiwilliger der deutschen Waffen-SS anschloss und in Berlin stationiert war, und der nach dem Krieg, wieder in Schweden, braunes Gedankengut in die schwedische Neo-Nazi-Szene einbrachte und 1988 an der Gründung der nationalsozialistischen Partei „Schweden Demokraten“ beteiligt war. Er war sein Leben lang ein Holocaust-Leugner, auch wenn er nachweislich an dessen Exekution beteiligt war.

Bei der Recherche nach seinem Arbeitsplatz in Berlin stießen die Kollegen auf die Lützowstraße (Bild 2) (3), und als ihnen klar wurde, dass dort zuvor ein jüdisches Altersheim existierte, wollten sie dessen frühere Bewohner und deren Schicksal ausfindig machen. Die Quelle, die ihnen dabei half, war mir vor zwei Jahren noch nicht bekannt: Es gab im Mai 1939 eine allgemeine Volkszählung in Deutschland, bei der alle Einwohner – nicht nur Berlins – neben allgemeinen Angaben auch die arische bzw. nicht-arische Abstammung der vier Großeltern angeben mussten. Diese Zusatzinformationen – nebst Adresse zum Zeitpunkt der Erhebung – haben als „Ergänzungskarten der Volkszählung vom 17. Mai 1939“ den Krieg überlebt und stehen heute in einer Datenbank zur Verfügung (4). Darüber konnten Ulvenlöv und Kollegen insgesamt 256 Individuen (184 Frauen, 72 Männer) identifizieren, die im Mai 1939 in der Lützowstraße 48/49 wohnten, und mit Hilfe dieser Namen und Geburtsangaben war es ihnen möglich, für 237 von ihnen in den diversen Quellen zum Holocaust (5) deren Verbleib zu rekonstruieren. Es ist hier nicht der Platz, das traurige Schicksal dieser 237 Personen nachzuzeichnen, selbst die Namensliste allein wäre hier zu lang, aber in der Summe ist die reine Statistik erschreckend genug: von 237 identifizierten Personen konnten nur acht noch rechtzeitig emigrieren, und nur drei hatten die Deportation überlebt – sie waren zum Zeitpunkt der Deportation jung. Vor der Deportation starben 57 in Berlin, in fünf Fällen ist ein Suizid gesichert. Insgesamt 166 wurden ermordet, die meisten in Theresienstadt; viele wurden von dort weiter transportiert nach Auschwitz und Treblinka, alle andere wurden in Riga, Minsk, Warschau, Litzmanstadt (Lodz) und anderen Ghettos und Konzentrationslagern ermordet.

Bild 2: Anweisung des SS-Hauptamtes zum Umzug in die Lützowstraße 48/49. Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte NS 33/376, Blatt 12.

Eine weitere deutsche Quelle (6) (Bild 3) haben die Autoren ausfindig gemacht, die Hinweise auf das Altersheim enthalten: Ester Golan (geborene Dobkowsky) wurde 1939 mit 16 Jahren mit einem Kindertransport nach England geschickt und korrespondierte bis 1942 mit ihren Eltern daheim. Ihre Mutter schrieb ihr, dass sie im August 1939 Anstellung im Altersheim in der Lützowstraße 48/49 gefunden hatte und in als Köchin arbeitete; sie bestätigte indirekt die große Belegung des Altersheims („wir verteilen knapp dreihundert Portionen„). In der Küche arbeitete sie zusammen mit Renate Golinski, eine Klassenkameradin von Ester. Renate Golinski wiederum, geboren 1924, ist eine der wenigen Überlebenden der Deportation: zuerst 1943 nach Theresienstadt, dann 1944 nach Auschwitz, wo ihre Eltern ermordet wurden, schließlich nach Flossenbürg und zuletzt nach Mauthausen. Auch Esters Eltern wurden ermordet, wie auch der Leiter des Altersheim, Dr. Martin Salomonski: er wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert und starb 1942 in Auschwitz.

Bild 3: Titelseite des Buches von Ester Golan (6).

Was aber besonders bemerkenswert an dem Buch ist, ist nicht die sorgfältige, gut dokumentierte Recherche, sondern der meines Erachtens gelungene Versuch, die Geschichte eines Nazi-Täters, die ja immer in Gefahr steht, von den falschen Leuten mit Applaus bedacht zu werden, mit der Geschichte seiner Opfer zu verbinden. Und das nicht nur im Buch insgesamt, dass zwischen biografischen Informationen zu dem SS-Mannes Ekström und denen seiner Opfer kapitelweise wechselt, sondern auch innerhalb eines Kapitels bleiben Täter und Opfer aus das Engste miteinander verbunden, gelingt es Ekström nicht, seiner Vergangenheit zu entkommen – man wünscht sich fast, er hätte das Erscheinen dieses Buches noch erlebt.

Literatur

1. Johann Ulvenlöv, Matti Palm, Anders Larsson: No Remorse. Gustaf Ekströn, the SS volunteer who founded the Sweden Democrats. Faktel förlag, Eskilstuna, Schweden 2019.

2. Archiv des Centrum Judaicum Berlin, Akte:  1 E, Nr. 536, #14823.

3. Akte Bundesarchiv Berlin Lichterfelde: Akte NS 33/376, Blatt 12.

4. Bundesarchiv Berlin Lichterfelde, Akte: R 1509 bis R 1518. Die Film-Akten sind digital aufbereitet auf der Webseite „Mapping the Lives“ (https://tracingthepast.org/mapping-the-lives/).

5. Die Datenbank von Yad Vashem, das Gedenkbuch der Holocaust-Opfer im Bundesarchiv Berlin, das Erinnerungsbuch von Theresienstadt und viele andere Quellen.

6. Ester Golan: Auf Wiedersehn in unserem Land. ECON Verlag, Düsseldorf 1995.

Jüdische Gewerbetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 2)

Der folgende Text ist eine überarbeitete – einerseits gekürzte, andererseits ergänzte – Fassung eines Textes, den Beth Griffiths erstellt und bei mittendran am 16. Januar 2022 veröffentlich hatte. Der erste Teil der gesamten Geschichte findet sich in mittendran vom 20. April 2024 und auf dieser Webseite am 20. April 2024.

Die Arisierung der Firma Theodor Heymann Herrenartikel

Den ersten Hinweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten seitens des Hut- und Herrenartikelgeschäfts finden sich in den Handelsregisterakten in einem Brief der Industrie- und Handelskammer am 7. März 1938 an das Amtsgericht: Das Unternehmen sei zwar noch vollkaufmännisch tätig, aber es betreibe lediglich Einzelhandel mit Herrenartikeln, die Hutfabrikation sei eingestellt worden (9). Es ist anzunehmen, dass die antisemitischen Maßnahmen, insbesondere der Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte und die Beschädigung der Schaufenster eine große Rolle in der Verkleinerung des Betriebes gespielt hatten. Nur wenige Monate später erreichte die antisemitische Gewalt mit den deutschlandweiten Novemberpogromen einen bis dahin nicht gekannten Höhepunkt, der das Ende des Hutgeschäfts bedeutete, das fast ein halbes Jahrhundert lang existiert hat.

Die Schaufenster müssen unverzüglich ersetzt werden spätestens bis 28. November“ – so schrieb nach dem Novemberpogrom der Zwangsverwalter des Hauses Potsdamer Straße 61, Carl A. Schmidt, am 22. November 1938 (11); zu diesem Zeitpunkt waren die meisten jüdischen Geschäfte aufgrund gesetzlicher Vorgaben den Inhabern entzogen worden, und Immobilien wurden unter Zwangsverwaltung gestellt.  Schmidt schrieb daher nicht an Heymann, sondern an Heinrich (Heinz) Barchen, der in der Zerstörung jüdischer Geschäfte und der Gewalt gegen die jüdischen Inhaber eine Chance für sich sah. Barchen hatte sein Geschäft, „Brauner Laden Yorck“, zehn Häuser weiter, Potsdamer Straße 71 (12) (Bild 6); es war unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 eröffnet worden, dort verkaufte er Uniformen und „NS-Bedarf“. Wenige Tage nach dem Progrom im November 1938 kam Barchen in das zertrümmerte Geschäft, um zu sehen, ob er es übernehmen und dort sein Uniformgeschäft für nationalsozialistische Organisationen weiter betreiben konnte (11). Er entschied, die Geschäftsräume zu nehmen und am 3. Dezember wurde der Laden eröffnet, mit Waren, die für genau die Leute bestimmt waren, die zuvor die Fensterscheiben eingeschlagen hatten. Theodor Heymann sah fast nichts von der finanziellen Transaktion, die ihn seines Geschäfts beraubte. Im Schreiben des Hausverwalters Schmidt an Barchen wurde mitgeteilt: „Aus dem Kaufpreis soll die rückständige Miete bis einschließlich November ausgeglichen sowie der Ersatz der Schaufensterscheiben beglichen werden.“ Jedoch schrieb Heymanns Rechtsanwalt in der Wiedergutmachungsklage im Jahr 1950, dass das Schaufenster nicht von Barchen sondern von der Jüdischen Gemeinde Berlins bezahlt wurde. Barchen bezahlte 3.500 RM für einen Teil des Warenlagers und 1500 RM für die Einrichtung, aber Heymann „ging hinaus ohne einen Pfennig“, so Heymanns Rechtsanwalt (11). Theodor Heymann gab nach dem Krieg an, dass die nicht bezahlte Summe 18.000 RM betragen habe. Am 24. März 1939 wurde das Geschäft Theodor Heymanns im Handelsregister gelöscht (s. Bild 5 in Teil 1). 

Bild 6: Anzeige des Geschäftes für NS-Bedarf Brauner Laden ´Yorck´ (aus (12), Seite 286).

Was geschah mit der Familie Heymann?

Laut Adressbuch gehörten die Häuser Potsdamer Straße Nr. 61 und Nr. 62 dem Kaufmann Franke bis 1935, ab 1936 war Nr. 62 unter Zwangsverwaltung gestellt, d.h. dem jüdischen Eigentümer entzogen worden (im Adressbuch 1936 war die Nr. 61 noch dem Franke gehörig), und die Heymanns wohnten noch im Haus Nr. 61 (nach der Umnummerierung: 146) bis Ende 1938, dann hatte das Haus einen neuen Eigentümer.

Am 7. Juni 1930 hatte Betty Heymann geborene Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, erneut geheiratet, den Gastwirt Julius Rosenthal, geboren am 15. Juni 1893 in Berlin. Am 29. Februar 1932 kam ihre Tochter Irma zur Welt. Das „Restaurant Rosenthal“ befand sich laut den Adressbüchern 1929 bis 1933 in der Kommandantenstraße 77 (Bild 7), danach in der Potsdamer Str. 81, und ab 1935 hatte Rosenthal einen „Mittagstisch“ am Wittenbergplatz 5. Zum Zeitpunkt der Volkszählung Mai 1939 befand sich das Restaurant in der Kleiststraße 15. 

Bild 7: Anzeige des Restaurant Rosenthal aus den „Posener Heimatblätter“ Nr. 4 vom Januar 1929, Seite 34.

Theodor Heymann wurde gezwungen, die Privatwohnung ab Dezember 1938 aufzugeben. In einem Schreiben vom 23. November 1938 heißt es: „Herr Heymann ist dagegen verpflichtet, spätestens am 3. Dezember 1938 seine Privatwohnung in den Räumen aufzugeben.“ (11). Danach verläuft sich zunächst seine Spur, ebenso wie die seiner Stiefmutter und deren zweiter Ehemann. 

Exil in Shanghai, dann nach Amerika

Wenige Wochen später emigrierten sowohl Theodor Heymann wie auch Betty und Julius Rosenthal und ihre 7 Jahre alte Tochter Irma nach Shanghai. Die Unterlagen der Volkszählung im Mai 1939 benennen den 10. und 29. Juli 1939 als Ausreisedatum für die Rosenthals bzw. für Heymann. Die Emigration nach Shanghai war für viele Juden die letzte Möglichkeit, aus dem Deutschen Reich zu fliehen, da die mit dem Deutschen Reich verbündeten Japaner, die die Häfen Chinas kontrollierten, zu diesem Zeitpunkt keinerlei Visapflicht eingeführt hatten – Shanghai war zwar fern und fremd und hatte den schlechtesten Ruf unter den möglichen Fluchtorten, aber es genügte zur Einreise ein Pass und ein Bahn- bzw. Schiffsticket. Bis zum Kriegsbeginn September 1939 gab es drei prinzipielle Reisewege: Über Bremen oder Hamburg mit den deutschen Schiffen Potsdam bzw. Usaramo (oder über einige nordeuropäische Häfen), über Genua oder Triest mit den Schiffen Conte RossoConte Verde bzw. Conte Biancomano, oder auf dem Landweg mit der Transsibirischen Eisenbahn, entweder nach Wladiwostok oder nach Mandschukuo, und weiter mit dem Schiff nach Japan bzw. nach Shanghai; diesen Landweg haben immerhin mehr als 2.000 Flüchtlinge genommen. Die Schiffspassagen waren teuer, 3.500 RM pro erwachsener Person, nicht zuletzt, weil Hin- und Rückfahrt gebucht werden mussten; die Landpassage war deutlich billiger – 490 RM -, aber nach dem Angriff des Deutschen Reichs auf Russland („Unternehmen Barbarossa“) nicht mehr möglich.

Auf welchem Wege und mit welchem Schiff die Heymann/Rosenthal-Familie nach Shanghai reiste, ist nicht mehr zu ermitteln, aber wie fanden sowohl den Kaufmann Theodor Heymann wie auch den Restaurateur (Gastwirt) Julius Rosenthal im Emigranten-Adressbuch Shanghais von 1939 (737/19 Broadway bzw. 818 Tongshan 57) (15), wenngleich genauere Informationen fehlen, womit sie ihren Lebensunterhalt unter diesen schwierigen Bedingungen verdienten. Aus einer anderen Quelle wenige Jahre später (1944), nämlich der Registrierungsliste aller Ausländer in Shanghai durch die japanischen Polizei (16) erfuhren wir, dass Julius Rosenthal offenbar Wohneigentum erworben hatte (Adresse: 626/29 Tongshan Lu; er wird in dem Dokument als „owner“ bezeichnet) und seine Frau als Köchin arbeitete – offensichtlich hatten sie wieder ein Restaurant aufgemacht, das wir bei einer Bildersuche zufällig entdeckten – das Bild kann wegen ungeklärter Rechtsverhältnisse zur Zeit nicht gezeigt werden. In dem japanischen Register wird auch erstmals die Tochter Irma erwähnt, die zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt war. Theodor Heymann wird in diesem Dokument nicht genannt, aber eine andere Spur (17) weist ihn als Fotograf aus. 

Bild 8: Theodor Heymann auf der Schiffspassage-Liste der USS General W. H. Gordon (aus: Ancestry) und Foto des Schiffs (aus: Wikipedia, gemeinfrei).

Über die schwierige soziale und wirtschaftliche Situation der jüdischen Flüchtlinge in China ist in den vergangenen 20 Jahren einiges publiziert worden (16,18). Nach dem Krieg wollten daher viele Flüchtlinge, die in Shanghai überlebt hatten, entweder zu einem geringen Teil zurück nach Deutschland, zu einem größeren nach Israel, Südamerika und Australien, und zu mehr als 50% in die USA auswandern. Die Familie Rosenthal fanden wir auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General M.C.Meigs von Shanghai nach San Francisco, Ankunft am 17. Juni 1947. Theodor Heymann, jetzt von Beruf Fotograf, stand auf der Passagierliste des Truppentransportschiffs USS General W. H. Gordon, Ankunft in San Francisco am 29. Juni 1947 (Bild 8). Von dort waren sie offenbar weitergereist in den Osten der Vereinigten Staaten, weil sowohl Theodor Heymann wie auch Julius und Betty Rosenthal aus Cincinnati bzw. New York in den Jahren in den Jahren nach 1950 Wiedergutmachungsanträge in Berlin gestellt hatten.

Theodor Heymann starb am 20. Januar 1971 in Paramus, Bergen, New Jersey, in der Metropolregion von New York City; er blieb unverheiratet und hatte keine Nachkommen. Betty Rosenthal geb. Winterfeld, Witwe des Hermann Heymann, Theodors Vater, starb am 16. März 1996, ebenfalls in Paramus, Bergen, New Jersey. Julius Rosenthal, ihr Mann war bereits am 2. Juni 1950 im Alter von nur 56 Jahren verstorben. Ihre Tochter Irma hatte 1954 in New York City Frank Reinhold Lewy geheiratet, der am 5. Dezember 1930 in Berlin-Dahlem geboren wurde und am 30. September 2014 in Yarmouthport, MA, USA verstarb. Sie hatten zwei Kinder, Sharon und Michael, die heute in den USA leben und beide verheiratet sind. Irma starb am 10. Oktober 2023.

Fragliche Wiedergutmachung nach dem Krieg

Nach der Übernahme des Geschäftes durch Heinrich Barchen stieg der Umsatz des Uniformgeschäfts in der Potsdamer Str. von 48.000 auf 62.000 RM. Trotzdem behauptete Barchens Rechtsanwalt nach dem Krieg, dass der Kaufmann aus der politischen Entwicklung im Nationalsozialismus keinerlei persönliche Vorteile gezogen hatte. Auffällig war Barchens Verteidigunglinie in der Wiedergutmachungssache, nämlich seine Nazi-Verbindungen nicht zu verschleiern, sondern zu betonen (11). Als Antwort auf die Anklage, dass Barchen nichts für die Reputation („good will“) des seit 46 Jahren bestehenden Geschäfts bezahlt hatte, erwiderte Barchens Beauftragter: „Die bisherige Geschäftsaufschrift Hüte und Mützen mit einem grünen Hut auf einem Transparent als Branchenzeichen wurde überstrichen. Stattdessen bekam das Geschäft das Äußere eines Braunen Ladens und die Aufschrift hieß fortan „NS Bedarf“. Lediglich auf dem Teilgebiet von Herrenwäsche und Herrenunterkleidung waren beide Geschäfte miteinander verwandt. Aber es liegt auf der Hand, dass der Charakter beider Geschäfte ein grundsätzlich anderer war. So waren z.B. bunte Oberhemden und bunte Krawatten in einem Braunen Laden nur ausgesprochene Nebenartikel. Insbesondere kann nicht davon die Rede sein, dass der „good will“ des Geschäfts des Antragstellers von dem Antragsgegner übernommen worden wäre“ (11). 

Weiterhin schrieb er, dass ein Kundenkreis, der bis 1938 in einem jüdischen Geschäft gekauft hatte, das Geschäft des Antragsgegners nie besuchen würde. Auf diese Weise versuchte Barchen, seinen Anteil an der antisemitischen Diskriminierung und Gewalt, mit der Heymann konfrontiert war, und seine Verbindung zu der NSDAP zu verschleiern. Dass Barchen ein NSDAP-Parteimitglied war, behauptete Heymanns Rechtsanwalt in einem Brief vom 27. Juni 1950 (11), aber betonte auch die NSDAP selbst, die den „Pg Barchen“ in der 1934er Ausgabe des Gesamtadressenwerks der Partei auflistete (siehe Bild 6). Das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde schließlich bestätigte die Parteimitgliedschaft: Heinz Barchen aus Berlin-Schöneberg (Hauptstraße 108), geboren am 13. September 1903, war bereits am 1. Mai 1931 Mitglied des NSDAP geworden (Mitglieds-Nr. 535859) (19) (Bild 10), also noch zwei Jahr vor der Machtergreifung des Nazis.

Bild 9: NSDAP-Mitgliedschaft von Heinz Barchen (Quelle: (19): BArch R 9361-IX KARTEI 1400187).

Der Streit im Wiedergutmachungsverfahren ging in erster Linie um die Frage, ob dies eine Geschäftsübernahme (Heymann) oder eine Geschäftsverlagerung (Barchen) war. Im September 1952 beschloss die Wiedergutmachungskammer des Landgerichts, dass Barchen an Heymann 3635 DM zu zahlen hatte, 3485 DM für die Übernahme des Warenlagers und 150 DM für die Ladeneinrichtung – sie entsprach damit weitgehend den Wertangaben Heymanns (3) bei einem DM:RM-Verhältnis von 1:10. Heymann und Barchen hatten zuvor diesem Vergleich zugestimmt. Barchens Geschäft wurde nach dem Krieg als normales Herrenartikelgeschäft weitergeführt und war noch im Berliner Adressbuch von 1954 zu finden, nur das „Heinz und Frieda Barchen“ jetzt keine NS-Klamotten und -Devotionalien verkauften, sondern Herren- und Damenkleidung. 

Literatur (Nr. 1 bis 10 im Teil 1)

11. Landesarchiv Berlin (LAB), Akte: B Rep. 025-01, Nr. 176/49.

12. Gesamtadressenwerk der NSDAP-Geschäftsstellen. Die Deutsche Tat, Verlagsgesellschaft für das Deutsche Schrifttum, 1934. Digital erhältlich unter <https://digital.zlb.de/viewer/toc/34296129/1/>, zuletzt eingesehen am 5.Mai 2024.

13. Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA), Akte: 36A (II) 15178.

14. https://de.wikipedia.org/wiki/Konferenz_von_Évian, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.

15. Emigranten-Adressbuch für Shanghai November 1939. Digital zugänglich bei CompGen unter <https://digibib.genealogy.net>, zuletzt eingesehen am 5. Mai 2024.

16. Georg Armbrüster, Michael Kohlstruck, Sonja Mühlberger (Hrg.): Exil Shanghai. Jüdisches Leben in der Emigration 1938–1947. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin 2000. Die dem Buch beiliegende CD enthält u.a. die „List of Foreigners Residing in Dee Lay Jao District …“ vom 24. August 1924 mit den Namen von Heymann und Rosenthal.

17. Ein Foto im Besitz des Museums of Jewish History in New York zeigt das Personals des Shanghai Refugee Hospitals aus den 1940er Jahren: es weist Theodor Heymann als Fotografen aus.

18. Jüdisches Museum Berlin (Hrg.): Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938-1947. Druck durch Jüdischen Museum im Stadtmuseum, Berlin 1997.

19. Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAL): Akte BArch R 9361-IX KARTEI 1400187.

IN DEMUT ERINNERN – NIE WIEDER IST HEUTE!

Die SPD-Abteilungen Tiergarten Süd und Tiergarten Mitte luden am Sonntag, 5. Mai anlässlich des Jahrestages der Befreiung zum Gedenken an die Gräuel, die Deutsche an Jüdinnen und Juden und Anderen verübt haben zu einem Gedenk-Spaziergang ein.

Treffpunkt des etwa zweistündigen Gedenk-Spaziergangs entlang der Kurfürstenstraße war vor der „Kleinen Nachtrevue“ an der Bushaltestelle „Schillstraße“. Der Weg führte die ca. 20 Teilnehmenden zu vier ausgewählten Mahn- und Erinnerungsorten, zu Stolpersteinen von ehemaligen Anwohnerinnen und Anwohnern in unserem Kiez.

Gedenk-Spaziergang am 5. Mai Dr. Maja Lasic

Zu Beginn begrüßte Dr. Maja Lasic (Mitglied des Abgeordnetenhauses) die Anwesenden. Sie erinnerte daran, dass laut „mapping the lives in den dreißiger Jahren fast 300 jüdische Mitbürger*innen in der Kurfürstenstraße lebten und, dass wir ebenso aber auch erinnern wollen, dass hier auch die Täter wohnten und arbeiteten.

Auf dem Mittelstreifen der Kurfürstenstraße 115/116 steht eine Stele, eine Kopie der Gradiva (Die Vorschreitende).

Bettina Schulze, Schriftführerin der Abteilung Tiergarten Süd, trug einen Text vor, der aus verschiedenen Quellen zusammentragen war und erinnerte damit daran, dass wir hier dem Ort gegenüber stehen an dem ‚das Haus des Jüdischen Brüdervereins für gegenseitige Unterstützung‘ einst gestanden hat. 1940 missbrauchte Adolf Eichmann das Haus des Brüdervereines als Deportationszentrale für Juden.

Bettina Schulze vor der Gradiva

Die vielfache Besetzung des Ortes durch die Figur der Gradiva als Novelle, als psychoanalytische Übertragungsfigur, die allen Psychoanalytikern weltweit bekannt ist, als Gegengestalt Eichmanns und seiner nationalsozialistischen Verbrechen wird damit zu einem Ort, der an die gemeinsame psychoanalytische Kultur erinnert – aber nicht ohne die zerstörerische NS-Vergangenheit auszublenden. Damit wird der Ort zu einem dialogischen Angebot, der zum Erinnern und Nachdenken einlädt.

Gedenk-Spaziergang am 5. Mai, Mahnort für Eichmanns „Judenreferat“

Weiter ging es zurück auf die gegenüberliegende Seite zur Bushaltestelle Schillstraße in der Kurfürstenstraße 116 (am ehemaligen Sylter Hof) zu dem Mahnort für Eichmanns „Judenreferat“, 1988 gestaltet von dem Künstler Ronnie Goltz.

Paul Völsch mit einer Teilnehmerin vom Gedenk-Spaziergang am Mahnort

Eichmann und seine Mitarbeiter*innen organisierten von der Kurfürstenstraße aus die Vertreibung und Deportation von Millionen europäischer Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Sie waren alles andere als Mitläufer – sie waren gemeine Mörder führte Paul Völsch (Stellvertretender Vorsitzender der Abteilung Tiergarten Süd) aus. Er verwies auch auf die Protokolle der Wannseekonferenz vom 20.1.1942.

Hier erstellte er (Eichmann) die Redevorlagen für den Vortrag des Hauptverantwortlichen des Holocausts, Reinhard Heydrich (Chef des Reichssicherheitshauptamtes), zur „Endlösung der Judenfrage“, für deren Protokoll er ebenfalls verantwortlich war. Hier wurden die Statistiken „zur Judenfrage in Europa“ erstellt, die zur Grundlage des Tötungsprogramms für Millionen Juden wurden. Eichmanns Wannsee-Protokoll vermerkt auf Seite 6: „Anstelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit nach entsprechender vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten und im Zuge dieser Endlösung der europäischen Judenfrage kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht“.

Die zwei Stolpersteine für Georg Blumenfeld ein in Berlin geborener jüdischer Privatbankier, der mit seiner Frau Lucia Margarete von der Schlüterstraße in Charlottenburg 1926 in die Villa in die Kurfürstenstraße 58 einzog liegen vor der Villa (Café Einstein), der nächsten Station des Gedenk-Spaziergangs. Hannah Elten, Stellvertreterin der Europaabgeordneten(-Kandidatin) Gabi Bischoff, sprach über die Bankiersfamilie.

Hannah Elten vor dem Haus Kurfürstenstraße 58

Was die Familie Blumenfeld nach 1933 erlebte, erzählt die Geschichte Tausender: die nicht enden wollenden, dezentralen umfassenden antijüdischen Ausschreitungen und die sukzessive pseudolegale Ausgrenzung und Stigmatisierung des jüdischen Bevölkerungsteiles durch die Reichsregierung sowie durch das Umfeld. Für die Bankiersfamilie kam es bereits in den ersten beiden Jahren nach der Machtergreifung zu einschneidenden Rückgängen im Geschäft. Die Benennung einer jüdischen Bankadresse war für Privatkunden und Firmen nicht mehr opportun.

Georg Blumenfeld hatte wie viele andere Berliner Juden den Ersten Weltkrieg in patriotischer Begeisterung erlebt und mit Kriegsanleihen deutsche Heeresaufträge finanziert.
1938 erfolgte die Liquidation der Bank G. Blumenfeld & Co. Georg Blumenfeld entschied sich am 21. Juni 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, für den Freitod mittels Einnahme von Gift.

Die Stolpersteine für Luise Wolf(f) und ihre jüngere Schwester Julie Wolfthorn, sind heute vor dem Parkplatz von Getränke Hofmann in der Kurfürstenstraße 50 zu finden. Ihr Wohnhaus, in dem sie fast 40 Jahre gemeinsam wohnten, stand einst an dieser Stelle.

Manuela Buyny bei den Stolpersteinen für Luise Wolf und Julie Wolfthorn

Luise Wolf  trat viele Jahre lang besonders mit Übersetzungen literarischer, wissenschaftlicher und kulturhistorischer Werke aus mehreren Sprachen hervor: aus den skandinavischen Sprachen, dem Französischen und Englischen.

Julie Wolfthorn: Nachdem sie wegen ihrer jüdischen Herkunft aus Berufsverbänden ausgeschlossen worden oder selber ausgetreten war, konnte und durfte sie nur noch innerhalb des Jüdischen Kulturbundes arbeiten und ausstellen. Auch hier hatte sie noch große Erfolge und gewann künstlerische Wettbewerbe.

Gemeinsam mit ihrer Schwester Luise Wolf wurde sie am 28. Oktober 1942 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert. Dort starb ihre Schwester Luise Wolf kurz nach ihrer Ankunft. Julie Wolfthorn arbeitete bis zu ihrem Lebensende weiter, auch noch in Theresienstadt. Sie überlebte noch mehr als zwei Jahre, sie starb im Dezember 1944.

Der Vortrag den Manuela Buyny, stellverstretende Vorsitzende der Abteilung Tiergarten Süd, gehalten hat.

Der nächste Stolperstein war ein Erinnerungsort für Dr. Arthur Simon, der ab 1923 als außerordentlicher Professor an der Humboldt-Universität tätig war und dem auf Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933 die Lehrbefugnis entzogen und die Stellung an der Charité gekündigt wurde, der in der Kurfürstenstraße 50 nicht nur wohnte, sondern der dort auch eine kleine Praxis unterhielt, in der er danach allerdings nur noch jüdische Mitbürger*innen behandeln durfte, davon erzählte Adda Schmidt-Ehry, Beisitzerin der Abteilung Tiergarten Süd.

Im September 1942 wurde Arthur Simons verhaftet, am 26. September mit einem Deportationszug in das besetzte Estland deportiert und bei Raasiku ermordet. (Copilot/Wikipedia)

Auch von der Lebensgeschichte Erich Hirschwehs sprach Adda Schmidt-Ehry. Erich Hirschweh war Kaufmann und heiratete die Katholikin Margarethe Edel, sie hatten ein Kind, Peter. Als Mitglieder der reformierten Jüdischen Gemeinde in Berlin musste die Familie 1937 ihre Wohnung im Hansa-Viertel aufgeben. Sie fand bei Julie Wolfthorn Zuflucht. Um den Sohn zu schützen, sahen die Eltern 1940 nur die Möglichkeit einer formalen Scheidung – so führte Peter Edel fortan nicht mehr den Nachnamen Hirschweh, sondern den Geburtsnamen der Mutter. Peter Edel überlebte den Holocaust in mehreren Konzentrationslagern – er gehörte zu den Gefangenen, die in der Operation Bernhard zur Fälschung von englischen Pfundnoten gezwungen waren – und wurde später ein bekannter Schriftsteller, Grafiker, Drehbuchautor und Fotograf.

Adda Schmidt-Ehry am Stolperstein für Erich Hirschweh

Erich Hirschweh teilte das Schicksal vieler Jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen. Der Kaufmann Erich Hirschweh wurde am 14.8.1942 mit dem 44. Alterstransport nach Theresienstadt und im Oktober 1944 von dort nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. (Aus Bürgerverein Luisenstadt e. V., Stolpersteine Berlin und Peter Edel Archiv)

Ecke Potsdamerstraße 122/Kurfürstenstraße (vor dem Kaufhaus Woolworth) prodozierte und vertrieb die Fabrik Kopp und Joseph als Marktführer für Drogerieprodukte Parfüme, Cremes, Verbandstoffe, Bade- und Schönheitsprodukte – darunter den erfolgreichen Nagelpolier-Stein „Stein der Weisen“.

1911 wurde im Haupthaus an der Ecke Potsdamer/Kurfürstenstraße die vierte Ausstellung der „Neuen Secession“ eröffnet, die von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Expressionismus war.

Als Adolf Hitler 1933 zum reichsweiten „Judenboykott“ aufrief, wurden Listen der Geschäfte mit jüdischen Betreibern verbreitet. SA-Männer marschierten als „Boykottposten“ auf. Plakate mit judenfeindlichen Sprüchen wurden an die Schaufenster geklebt und Parolen geschmiert. Eigentürmer und Mitarbeiter wurden beschimpft und mit offener Gewalt bedroht. Im Herbst 1938 hatte sie nur noch 13 Angestellte, davon fünf Juden. In der „Reichspogromnacht“ im November 1938 wurden die Geschäftsräume geplündert, verwüstet und endgültig zerstört. Kurt Josef wurde verhaftet und ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Entlassung musste Kurt Josef sein Unternehmen „weit unter Preis“ verkaufen. Er emigrierte nach Großbritannien. Seine Frau und zwei Kinder wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Informationen wurden von Sarah Hegazy, Kreisvorsitzende der Jusos Berlin Mitte, vorgetragen.

Sarah Hegazy an der Ecke Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße

Die letzte Station des Gedenk-Spaziergangs war das „Dreiländereck Schönberg/Tiergarten/Friedrichshain-Kreuzberg“. Zwischen Nelli-Sachs-Park und dem Eingang zum Gleisdreieck-Park befand sich von 1890 bis 1976 in der Dennewitzstraße 35 die Firma KORI GmbH eine Berliner Ofenbaufirma. Dieser Ort ist noch kein Mahnort.

Kori stellte mobile Verbrennungsöfen für das Euthanasie-Programm T4 und Leichenverbrennungsöfen für die Konzentrationslager her.

Nach dem Tod des Firmengründers nahm der Gesellschafter und Geschäftsführer Hugo Heßler Kontakt zur SS auf. Er selbst war seit 1933 NSDAP-Mitglied. Der Kontakt zur SS kam möglicherweise durch einen Neffen des Gründers, Georg Kori, zustande, der seit 1933 Mitglied und seit 1937 Scharführer der SS war.

Von der Firmen-Zentrale in der Dennewitzstraße wurde die Belieferung der SS für die Konzentrationslager mit den für den Massenmord benötigten Verbrennungsöfen gegen „gute Reichsmark“ betrieben. Die erste Bestellung ging im Dezember 1939 ein. Ein Ofen kostete 3200 Reichsmark.

Zunächst stellte Kori mobile Verbrennungsöfen für das Euthanasie-Programm T4 her. Später wurden diese fest installiert oder Kori errichtete vor Ort in den Lagern gleich ortsfeste Verbrennungsöfen – in 18 Konzentrations- und Vernichtungslagern.

Dr. Bergis Schmidt-Ehry zwischen Nelly-Sachs-Park und Gleisdreieck-Park

Nach 1945 arbeitete die Firma ungeachtet der Beteiligung am Holocaust unbehelligt weiter. Unter anderem im Geschäftsfeld „Verbrennungsöfen für Abfälle aller Art, Müllschluckanlagen, Feuerungsanlagen“. Diese ungeheuren Verbrechen schilderte Dr. Bergis Schmidt-Ehry, Organisator der Gedenkveranstaltung.

Dr. Schmidt-Ehry führte weiter aus, dass „in der Gedenktafelkommission des Bezirks Tempelhof-Schöneberg am 19.04.2023. waren sich alle Beteiligten einig, dass nicht nur Information vor Ort wichtig ist, sondern auch ein mahnendes Zeichen benötigt wird. Der Ort soll als „Täterort“ markiert werden. Ein Gestaltungswettbewerb wird stattfinden. Da dies aber noch Jahre dauern wird, soll eine Interimslösung mit einer Informationstafel umgesetzt werden. In den nächsten Jahren soll am Eingang Kurfürstenstraße in den Westpark des Gleisdreiecks über die Firma KORI informiert werden, die von der Dennewitzstraße 35 aus Leichenverbrennungsanlagen für den industriellen Massenmord in zahlreichen Konzentrationslagern und Tötungsanstalten geplant und geliefert hat.“

Text: E. Kitzelmann/B. Schmidt-Ehry Fotos eki

Die Erinnerung an die Opfer der Nazi-Verbrechen wachhalten, damit es kein Vergessen gibt.

Jüdische Gewerbebetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 1)

Aufmerksame Leser werden sich erinnern, dass wir einen Artikel zur „Hermann Heymann Hutfabrik“ in mittendran schon einmal hatten, danach auch im Blog „Jüdisches Leben und Widerstand im Tiergarten“: Im Dezember 2022 und im Januar 2023 hatte Bethan Griffiths im Rahmen einer Serie von drei Artikeln zu „Jüdisches Gewerbe rund um die Potsdamer Straße“ über die Arisierung der Firmen Hermann Heymann HutfabrikA. Blumenreich GmbH und die Ultrazell GmbH und die entsprechenden Wiedergutmachungsverfahren nach dem 2. Weltkrieg berichtet. Diese Leser werden aber auch festgestellt haben, dass in diesen Berichten die Familien selbst und deren Herkunftsgeschichten eher kurz geschildert worden waren – das war der Autorin in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Dies soll in den nächsten Wochen für die jüdischen Familien hinter diesen drei Firmen nachgeholt werden. Heute also für die Hutfabrik Hermann Heymann und deren Inhaber Theodor Heymann (Bild 1).

Bild 1. Anzeige im HRA 1931

Rogasen, Kreis Obornik, Provinz Posen

Die Herkunft der Familie Heymann bleibt trotz intensiven Suchens weitgehend im Dunkel, aus vielerlei Gründen: Heymann (manchmal Heimann geschrieben) ist ein nicht seltener Name, auch unter Juden, und der sehr gebräuchliche Vorname Hermann macht die Suche nicht leichter. Aus der Sterbeurkunde des Herrmann Heymann wissen wir, dass er in Rogasen (nach 1815 der preußischen Provinz Posen; heute: Rogoszno, Polen) geboren wurde (s. unten), und dass auch seine Frau aus diesem kleinen Ort 30 km nördlich der Stadt Posen stammte. Aber das hilft nicht viel weiter, weil komplette Einwohnerlisten fehlen, nicht zuletzt durch schwere Stadtbrände im Jahr 1794 (1), bei denen Dokumente vernichtet worden sind. Selbst ausgewiesene jüdische Genealogen wie Jacob Jacobson (2) und David Luft (3) haben sich mit diesen Schwierigkeiten abgemüht. Wir beginnen also die Familiengeschichte der Heymanns mit der Geburt von Herrmann am 8. Oktober 1858 – zu diesem Zeitpunkt und noch für viele Jahre später wird sein Vorname mit doppeltem „r“ geschrieben, eine von ihm selbst später veranlasste Korrektur auf die gebräuchliche (und korrekte) Schreibweise mit einem „r“ werden wir von hier ab übernehmen.

Wenn ein wenige Jahre später (1863) ebenfalls in Rogasen geborenen Gustav Heymann (verstorben 1905) der Bruder von Hermann Heymann gewesen wäre, wüssten wir auch noch die Namen seiner Eltern: Kaufmann Josef Heymann (verstorben vor 1884) und seine Frau Karoline, geborenen Krause (1834-1917), aber das ist nicht gesichert, sondern Spekulation, hervorgerufen durch die drei doch sehr traditionellen deutschen Vornamen. Aber Hermann Heymann könnte auch der Bruder von Abraham Heymann gewesen sein, der am 22. Dezember 1861 in Rogasen geboren wurde und der um 1905 in Berlin starb – dann wäre die gemeinsamen Eltern David Heymann und seine Frau Rosalie, geborene Silberstein gewesen. Leider haben wir keinerlei Informationen, dies zu entscheiden. In Berlin zu suchen, macht demgegenüber wenig Sinn: 1890 gab es in Berlin allein 40 Kaufleute mit den Nachnamen Heymann – ohne die Variante Heimann -, Vornamen wurden meist abgekürzt, und die Schreibweise des Nachnamens war nicht verbindlich, da auch Hermann Heymann gelegentlich Hermann Heimann geschrieben wurde.

Hermann Heymann muss spätestens zu der Zeit, als er volljährig wurde, also um 1882 Rogasen in Richtung Berlin verlassen haben – vielleicht war seine Familie auch schon vorher aus der preußischen Provinz Posen nach Brandenburg gezogen, einem allgemeinen Trend folgend. 

Die Situation der Juden in Posen

Denn obwohl um 1840 nahezu 40% der Rogasener Gesamtbevölkerung jüdischen Ursprungs war, d.h. es etwa 1500 jüdische (erwachsene) Einwohner gab, hatten nur 55 Personen in den Jahren 1834 und 1835, als Preußen den Juden die rechtliche Gleichstellung versprach, auch ein Naturalisierungspatent erhalten (4), und darunter war kein Mitglied einer Familie Heymann – die anderen blieben bestenfalls geduldete Juden. Das gleiche galt auch für andere Gemeinden im Regierungsbezirk Posen: Nur 7 bis 10% der jüdischen Einwohner wurden naturalisiert (5).

Hinzu kam, dass Juden von der mehrheitlich polnischen, katholischen Bevölkerung nicht nur gemieden wurden, sondern – wie die preußischen Besatzer selbst – zum Teufel gewünscht wurden. Davon zeugen Zeitungsberichte wie der folgende im Landboten von 1848: „In dem Landstädtchen Rogasen in der Provinz Posen ist es am 7. April zu einem Aufstand gekommen. Die Polen durchzogen mit Sensen, Heugabeln und Feuerhaken bewaffnet die Stadt und drohten, die Deutschen und Juden niederzumetzeln, sie legten sogar Feuer an. Den vereinten Kräften der Bürgerschaft gelang es jedoch, die Meuterer zu Paaren zu treiben“ (6) (Bild 2). Und auch wenn die Vertreibung (noch) verhindert werden konnte, so war auch die rechtliche Gleichstellung der Juden ein hohles Versprechen der Preußen, dass in Kriegs- und Kriegszeiten (1848, 1864, 1866, 1870, 1914) gern wiederholt, aber danach auch schnell wieder vergessen wurde: „Die Juden in der Provinz Posen … wissen, daß die ihnen von den Polen vorgeworfene Undankbarkeit eine Legende ist, sie wissen aber auch, daß die Begeisterung ihrer deutschen Behörden für die Gleichberechtigung der Religionen nur in den Zeiten der Not zu Tage trat, und daß sie alle Rechte, die sie in Wirklichkeit errungen haben, ihrer eigenen zähen Arbeit verdanken“  (7). So kam es, dass die große Auswanderung aus dem Großherzogtum Posen bereits mit der versprochenen Gleichstellung um 1840 begann und nach der Reichsgründung 1871 seinen Höhepunkt fand. Lebten 1858 noch 1500 Juden in Rogasen, waren es 1887 noch 1318, 1895 noch 834, 1905 nur noch 666 und 1913 noch 516 Personen, d.h. 9% der Bevölkerung. Diese massenhafte Auswanderung betraf nicht nur Rogasen, sondern nahezu alle Gemeinden in Posen (7), denn davon versprachen sich die Juden bessere Chancen für Beruf und Leben, sei es in Berlin, in Brandenburg oder im europäischen und überseeischen Ausland.

Bild 2. Artikel aus Der Landbote (5)

Familiengründung

Wir wissen daher nicht, wann und wo Hermann Heymann seine Frau Reisal (Rosalie), geborene Rummelsburg getroffen und geheiratet hat, möglicherweise noch in Rogasen – sie war ebenfalls dort geboren worden, um 1861, und war daher volljährig nach 1885. In den Namenslisten der Juden in Posen taucht der Name Rummelsburg überhaupt nicht auf, daher ist es möglich, dass dieser Nachname erst mit dem Umzug nach Brandenburg angenommen wurde – alternativ kann die Familie allerdings auch aus der Stadt oder dem Landkreis Rummelsburg in Pommern (heute: Miastko, Polen) stammen, einer Kleinstadt 250 km östlich von Stettin von etwa 4000 Einwohner (um 1850), von denen 3% jüdischen Glaubens waren.

Zu dieser Zeit (ab 1890) gab es in Berlin nur eine Familie Rummelsburg, ein Kaufmann Siegfried Rummelsburg in der Alexanderstraße 37a, Mitinhaber der Firma Gottheim & Co., die er später allein weiterführte. Nach 1893 findet sich außerdem ein Moses Rummelsburg im Osten von Berlin (Blankenfelderstraße 6), der Miteigner des Herrengarderobegeschäftes Salomon Kurzweg & Co. (Inhaber: Leopold Kurzweg, Königstraße 30). Er war möglicherweise ein Sohn des Siegfried Rummelsburg; Rosalie Rummelsburg könnte seine Schwester gewesen sein.

Hermann Heymann und seine Frau Rosalie wohnten 1890 bis 1893 zunächst in der Schlegelstraße 27 in der Oranienburger Vorstadt, bevor sie (ab 1893) an die Potsdamer Straße 61 zogen. Sie bekamen zwischen 1891 und 1898 fünf Kinder: 

– Alfred, geboren am 11. Dezember 1891. Er starb im ersten Weltkrieg am 5. Oktober 1915 (im Grenadier-Regiment No. 12) (8) (Bild 3).

– David, geboren am 24. Januar 1893, verstarb wenige Tage später (2. Februar 93).

– Frieda Flora, geboren am 29. November 1893. Sie heiratete 1921 Isidor Isaak Barkowsky, der, wie sie und ihre beiden Kinder, Margot Lilly (* 2. März 1922) und Alfred (* 14. März 1924), 1942 deportiert und in Auschwitz am 27. Februar 1943 ermordet wurde.

– Helene, geboren 18. Februar 1896. Sie heiratete 1922 Julius Barkowsky, den Schwager ihrer Schwester Frieda, und hatte mit ihm einen Sohn Adolf (* 20. Dezember 1923). Helene, ihr Sohn Adolf und ihr Ehemann Julius wurden 1941 deportiert und starben im Konzentrationslager Kauen in Kaunas (Litauen) am 25.11.1941.

– Theodor David schließlich wurde am 30. April 1898 geboren. Er übernahm nach dem Tod des Vaters 1928 das Hutgeschäft in der Potsdamer Straße 61.

Bild 3. Traueranzeige für Alfred Heymann (aus: (8))

Firmengründung

Das Haus Nummer 61 in der Potsdamer Straße (heute: Nr. 146, zwischen Bülow- und Winterfeldstraße) war 1890 neu gebaut worden (es gab schon vorher ein Mietshaus, nur kleiner) und gehörte ab 1892 einem königlichen Kammerherrn und Zeremonienmeister Werner Hesse Edler von Hessenthal (1845-1914), der in der Villa Genthinerstraße 13D (heute: 30D, im sogenannten Begaswinkel) wohnte. Nach 1894 war der Fabrikant (Hutfabrikant) Heimann (später Heymann) hier nachweisbar, auch wenn er seine Firma erst am 8. Januar 1908 in das Handelsregister hat eintragen lassen (9): HR A 31717: Der Gewerbebetrieb ist eine „Schirm- und Huthandlung“ mit einem jährlichen Einkommen und Umsatz oberhalb eines Kleingewerbes. Anlässlich der Registrierung musste Heymann einen Fragebogen (Bild 4) ausfüllen, der weitere Informationen über sein Gewerbe hergibt: Jährlicher Umsatz ca. 47.000 RM, Betriebskapital ca. 15.000 RM, Betriebsertrag 3.000 RM, Mietbedarf 4.700 RM für 2 Läden (1 großer, 1 kleiner), 2 Verkaufsräume, Kreditbelastung 9.000 bis 10.000 RM, ca. 20 Lieferanten. Auf der Basis dieser Daten wurde der Betrieb der Steuerklasse III zugeordnet und musste 72 RM an Steuern im Jahr zu zahlen. Auch wenn Heymann das Formular zur Eintragung seiner Firma mit „Herrmann Heymann“ unterzeichnete, wurde die Firma als „Hermann Heymann Hutfabrik“ auch für die amtlichen Eintragungen in den Zeitungen registriert.

Bild 4. Fragebogen zur Gewerbe des Hermann Heymann (aus: (9)).

Rosalie Heymann geborene Rummelsburg starb am 18. März 1926 in ihrem Heim in der Potsdamer Straße 61 – sie wurde 65 Jahre alt. Ihre beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt verheiratet und lebten in zuletzt Berlin-Wedding (Reinickendorfer Straße 77), Sohn Theodor wohnte bei seinen Eltern. Ein Jahr nach dem Tod seiner Ehefrau, am 21. März 1927 heiratete Herrmann Heymann erneut: Betty Winterfeld, geboren am 1. Januar 1896 in Lauenburg (Pommern).

Am 1. Oktober 1926 wurde Sohn Theodor Heymann Mitinhaber und persönlich haftender Gesellschafter der Firma Hermann Heymann Hutfabrik (10) (Bild 5). Am 3. November 1927, ein Jahr vor seinem Tod, schloss Hermann Heymann einen Erbvertrag (9), in dem er die Übernahme der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ an seine Erben im Falle seines Todes regelte: Den gesamten Haushalt erbe seine Ehefrau, das Geschäft solle seinem Sohn Theodor und seiner Ehefrau je zur Hälfte zufallen, seine Ehefrau und seine drei Kinder sollen den übrigen Nachlass zu je einem Viertel erhalten. Falls seine Ehefrau sich wieder verheirate, solle sein Sohn sie auszahlen, ebenso, falls sie entscheide, aus dem Geschäft auszusteigen. Falls seine Töchter die Regelung anfechten, sollen sie unter Anrechnung der erhaltenen Aussteuer auf den gesetzlichen Pflichtteil gesetzt werden. Der Wert des Nachlasses wurde auf 10.000 Mark geschätzt.

Bild 5. Anzeigen im Reichsanzeiger (10) und in der Handeslregister-Akte (9).

Hermann Heymann starb am 29. April 1928 in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße 61. Das Testament (Erbvertrag) wurde am 15. Mai 1928 im Beisein aller Erben sowie der Ehemänner der beiden Töchter eröffnet (9). Danach übertrugen die Ehefrau und die beiden Töchter des Heymann ihren Erbteil an Theodor, der sich seinerseits verpflichtet, seiner Stiefmutter 10.000 Mark und seinen beiden Schwestern je 4000 Mark auszuzahlen mit Stundung und Verzinsung bis 1931.

Im Testamentseröffnungsprotokoll 1928 werden zwei Geschäftsräume (Läden) erwähnt, die Hermann Heymann auch in seinem Anmeldeformular von 1908 notiert hatte. Im Jahr 1928 handelte es sich um die Potsdamer Straße 61 einerseits, um die Frankfurter Allee 70 andererseits: hier hatte Theodor Heymann 1927 ein eigenes Geschäftslokal mit Herrenartikeln eröffnet, das noch 1928 bestand, danach jedoch nicht mehr. Ob auch sein Vater Hermann Heymann in den Jahren vor seinem Tod ein zweites Geschäftslokal unter seinem Namen an anderer Stelle in Berlin betrieb, erschließt sich aus den Unterlagen nicht.

Mit dem Tod des Vaters schied dieser aus der Firma aus und wurde gelöscht, und Theodor Heymann wurde als alleiniger Inhaber eingetragen; der Name der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ blieb jedoch zunächst bestehen. Erst im April 1938 wurde die Firma umbenannt in „Theodor Heymann Herrenartikel“ (10) (s. Bild 5); zu diesem Zeitpunkt war die Nummerierung der Potsdamer Straße geändert worden, die Nr. 61 war jetzt die Nr. 146. 

Im zweiten Teil der Geschichte werden wir uns mit dem Verbleib der Firma unter der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen, der Flucht Heymanns nach Shanghai 1939, der Auswanderung in die USA 1947, und dem Wiedergutmachungsprozeß nach dem Krieg. 

Literatur

1. https://jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/p-r/1679-rogasen-posen

2. Jacob Jacobson. Zur Geschichte der Juden in Rogasen. Unveröffentlichtes Manuskript von 1935, einsehbar im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Signatur: II. HA GD, Abt. 10, VI Nr. 2680.

3. Edvard David Luft. The naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Scholars Press, Atlanta, Georgia 1987.

4. Edvard David Luft. The Jews of Posen Province in the Nineteenth Century. A Selective Source Book, Research Guide, and Supplement to The Naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Washington 2015, einsehbar im Archiv des Leo-Baeck-Instituts, New York. 

5. Sophia Kemlein. Die Posener Juden 1815 – 1848. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997.

6. Der Landbote. Ein Blatt zur Belehrung und Unterhaltung. Nr. 33 von Donnerstag, den 23. April 1846, Seite 1.

7. Bernhard Breslauer. Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. Denkschrift im Auftrag des Verbandes der Deutschen Juden. Druck Berthold Levy, Berlin 1909.

8. Berliner Tagblatt und Handelszeitung vom 28. Oktober 1915, Seite 14.

9. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): Handelsregister A. Herrmann Heymann Hutfabrik, Akte Nr. A Rep. 342-02 Nr. 35400 (Amtsgericht Charlottenburg HRA 94940)

10. Deutscher Reichsanzeiger, 31. März 1927, Seite 34 und 19. April 1938, Seite 1. 

Denk Mal Am Ort in Berlin am 4. und 5. Mai 2024

Kennen Sie die Geschichte Ihres Hauses?

27 Erinnerungen an in der NS-Zeit verfolgte Berliner:innen

Ausstellungen, Erzählungen, Vorträge, Gedenkspaziergänge, Rundgänge, Lesungen, eine Performance, akustische Stolpersteine sowie zwei
Zeitzeug:innengespräche:
Am Samstag, den 4. und Sonntag, den 5.5.2024 gedenken engagierte Bewohnerinnen Berlins im Rahmen der Initiative „Denk Mal Am Ort“ durch 27 Veranstaltungen an den einstigen Wohn- und Wirkungsstätten Berlinerinnen, die während der NS-Zeit verfolgt wurden oder Widerstand leisteten.
14 Nachkommen reisen aus Amerika, Großbritannien, Argentinien, Spanien, den Niederlanden, Frankreich und Israel an. Der Eintritt ist frei.

Sylvia Paskin kommt aus London nach Berlin, um am Samstag um 17 Uhr in Berlin-Charlottenburg vor deren letzten Wohnung in der Wielandstraße 30 an ihre Großmutter Lily Knips zu erinnern. Liliy Knips Geschichte hört sich an wie aus einem Krimi: Aus Angst vor den Nationalsozialisten sendete sie ihren Sohn Lothar, Sylvia Paskins Vater, 1933 nach London. Ihr selbst gelang keine Ausreise. Dann traf sie Josef Jakobs, einen weit jüngeren „arischen“ Mann, der gefälschte Pässe verkaufte und verliebte sich. Mit einem seiner Pässe flüchtete Lily nach London.
Josef Jakobs wurde erwischt und kam ins KZ. Unter der Auflage für die Nazis zu spionieren, landete er per Fallschirmsprung in England, in der Tasche Lilys Adresse. Um 17 Uhr erzählt die 96-jährige Ruth Winkelmann in der Turnhalle ihrer einstigen Schule in der Auguststraße im Restaurant House of Small Wonder von ihrem Überleben. Michaela Maria Müller liest Passagen aus Winkelmanns Buch „Plötzlich hieß ich Sara“. Die 96-jährige erzählt und beantwortet Fragen.

Am Sonntag erzählt Frauengeschichtsforscherin Sabine Krusen um 11 Uhr die Geschichte des Gartenhaus in der Brunnenstraße 41. Minna Schwarz ließ das Gartenhaus 1913 als Mütter- und Säuglingsheim errichten. Damals befanden sich hier bereits verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen des jüdischen Frauenvereins der Berliner Logen U.O.B.B. Mit Beginn der NS-Herrschaft mussten sie schließen. Bis auf ein Altenheim, das schließlich als Deportationssammellager missbraucht wurde.

Krusen hat die Geschichte des Ortes und der Menschen, die hier arbeiteten oder wohnten über 30 Jahre erforscht. In der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 erinnert eine stumme Klingeltafel an 83 jüdische Menschen, die hier lebten. Einer von ihnen war Georg Jacobsohn – als Schauspieler unter dem Künstlernamen Georg John bekannt. Der heutige Hausbewohner Simon Lütgemeyer einnert um 12 Uhr durch Filmbeispiele und Recherchen an den Charakterdarsteller, der den deutschen Film zwischen 1916 und 1933 durch Nebenrollen prägte, ehe er vom Kulturbetrieb ausgeschlossen und ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert wurde.

Um 14 Uhr erinnert das „Netzwerk Ottilie Pohl“ in Moabit bei einem historischen Spaziergang mit Lesung und Gespräch an die kommunistische und jüdische Widerstandskämpferin Ottilie Pohl.

Ebenso um 14 Uhr wird in Berlin-Schöneberg in der Kirche zum Heilsbronn die radikale und vielfältige Stimme der Dichterin Gertrud Kolmar durch eine Performance der Schauspielerin Lisa Schell erfahrbar.
Kolmar gilt als eine der bedeutendsten jüdischen Dichterinnen. Doch der Großteil ihres Werks wurde posthum publiziert. Die Cousine Walter Benjamins musste Zwangsarbeit leisten und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Davor war es ihr gerade noch gelungen, ihre Manuskripte in die Schweiz zu schicken.

https://www.denkmalamort.de/deutsch/berlin-4-5-mai-2024/

www.denkmalamort.de

Vergessene Orte; Blumeshof

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,
viele von Ihnen werden Prof. Dr. Paul Enck schon kennen.
Er beschäftigt sich mit der Geschichte unseres Kiezes und gibt sein Wissen in Vorträgen weiter.

Am Mittwoch, 24.1.2024 wird Paul Enck über eine heute vergessene Straße erzählen. Die Straße „Blumeshof“ verband die Lützowstraße mit dem Schöneberger Ufer und war eine Parallelstraße zur Kluckstraße. Dort, wo heute die Stadtteilbibliothek, der Nachbarschaftstreff, das Kiezzentrum Villa Lützow, die Jugendherberge, das Gebäude des Familienministeriums stehen, wurde vor 100 Jahren großbürgerlich gewohnt.

Das Gebäude Blumeshof Nr. 15 wurde von den Nationalsozialisten zu einem „Judenhaus“ erklärt, in dem jüdische Nachbarn zwangsweise zusammengepfercht wurden.
Die Straße wurde im 2. Weltkrieg zerstört und auf Beschluss des Senates zurück gebaut.
Paul Enck präsentiert anhand alter Fotos und Pläne Wissenswertes zur Geschichte der Straße und seinen BewohnerInnen.

Mi 24.1.2024, um 19 Uhr
im Projektraum des Nachbarschaftstreffs Lützowstr. 27,
„Vergessene Orte: Blumeshof“