Jüdische Gewerbebetriebe (1): Hermann Heymann Hutfabrik (Teil 1)

Aufmerksame Leser werden sich erinnern, dass wir einen Artikel zur „Hermann Heymann Hutfabrik“ in mittendran schon einmal hatten, danach auch im Blog „Jüdisches Leben und Widerstand im Tiergarten“: Im Dezember 2022 und im Januar 2023 hatte Bethan Griffiths im Rahmen einer Serie von drei Artikeln zu „Jüdisches Gewerbe rund um die Potsdamer Straße“ über die Arisierung der Firmen Hermann Heymann HutfabrikA. Blumenreich GmbH und die Ultrazell GmbH und die entsprechenden Wiedergutmachungsverfahren nach dem 2. Weltkrieg berichtet. Diese Leser werden aber auch festgestellt haben, dass in diesen Berichten die Familien selbst und deren Herkunftsgeschichten eher kurz geschildert worden waren – das war der Autorin in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Dies soll in den nächsten Wochen für die jüdischen Familien hinter diesen drei Firmen nachgeholt werden. Heute also für die Hutfabrik Hermann Heymann und deren Inhaber Theodor Heymann (Bild 1).

Bild 1. Anzeige im HRA 1931

Rogasen, Kreis Obornik, Provinz Posen

Die Herkunft der Familie Heymann bleibt trotz intensiven Suchens weitgehend im Dunkel, aus vielerlei Gründen: Heymann (manchmal Heimann geschrieben) ist ein nicht seltener Name, auch unter Juden, und der sehr gebräuchliche Vorname Hermann macht die Suche nicht leichter. Aus der Sterbeurkunde des Herrmann Heymann wissen wir, dass er in Rogasen (nach 1815 der preußischen Provinz Posen; heute: Rogoszno, Polen) geboren wurde (s. unten), und dass auch seine Frau aus diesem kleinen Ort 30 km nördlich der Stadt Posen stammte. Aber das hilft nicht viel weiter, weil komplette Einwohnerlisten fehlen, nicht zuletzt durch schwere Stadtbrände im Jahr 1794 (1), bei denen Dokumente vernichtet worden sind. Selbst ausgewiesene jüdische Genealogen wie Jacob Jacobson (2) und David Luft (3) haben sich mit diesen Schwierigkeiten abgemüht. Wir beginnen also die Familiengeschichte der Heymanns mit der Geburt von Herrmann am 8. Oktober 1858 – zu diesem Zeitpunkt und noch für viele Jahre später wird sein Vorname mit doppeltem „r“ geschrieben, eine von ihm selbst später veranlasste Korrektur auf die gebräuchliche (und korrekte) Schreibweise mit einem „r“ werden wir von hier ab übernehmen.

Wenn ein wenige Jahre später (1863) ebenfalls in Rogasen geborenen Gustav Heymann (verstorben 1905) der Bruder von Hermann Heymann gewesen wäre, wüssten wir auch noch die Namen seiner Eltern: Kaufmann Josef Heymann (verstorben vor 1884) und seine Frau Karoline, geborenen Krause (1834-1917), aber das ist nicht gesichert, sondern Spekulation, hervorgerufen durch die drei doch sehr traditionellen deutschen Vornamen. Aber Hermann Heymann könnte auch der Bruder von Abraham Heymann gewesen sein, der am 22. Dezember 1861 in Rogasen geboren wurde und der um 1905 in Berlin starb – dann wäre die gemeinsamen Eltern David Heymann und seine Frau Rosalie, geborene Silberstein gewesen. Leider haben wir keinerlei Informationen, dies zu entscheiden. In Berlin zu suchen, macht demgegenüber wenig Sinn: 1890 gab es in Berlin allein 40 Kaufleute mit den Nachnamen Heymann – ohne die Variante Heimann -, Vornamen wurden meist abgekürzt, und die Schreibweise des Nachnamens war nicht verbindlich, da auch Hermann Heymann gelegentlich Hermann Heimann geschrieben wurde.

Hermann Heymann muss spätestens zu der Zeit, als er volljährig wurde, also um 1882 Rogasen in Richtung Berlin verlassen haben – vielleicht war seine Familie auch schon vorher aus der preußischen Provinz Posen nach Brandenburg gezogen, einem allgemeinen Trend folgend. 

Die Situation der Juden in Posen

Denn obwohl um 1840 nahezu 40% der Rogasener Gesamtbevölkerung jüdischen Ursprungs war, d.h. es etwa 1500 jüdische (erwachsene) Einwohner gab, hatten nur 55 Personen in den Jahren 1834 und 1835, als Preußen den Juden die rechtliche Gleichstellung versprach, auch ein Naturalisierungspatent erhalten (4), und darunter war kein Mitglied einer Familie Heymann – die anderen blieben bestenfalls geduldete Juden. Das gleiche galt auch für andere Gemeinden im Regierungsbezirk Posen: Nur 7 bis 10% der jüdischen Einwohner wurden naturalisiert (5).

Hinzu kam, dass Juden von der mehrheitlich polnischen, katholischen Bevölkerung nicht nur gemieden wurden, sondern – wie die preußischen Besatzer selbst – zum Teufel gewünscht wurden. Davon zeugen Zeitungsberichte wie der folgende im Landboten von 1848: „In dem Landstädtchen Rogasen in der Provinz Posen ist es am 7. April zu einem Aufstand gekommen. Die Polen durchzogen mit Sensen, Heugabeln und Feuerhaken bewaffnet die Stadt und drohten, die Deutschen und Juden niederzumetzeln, sie legten sogar Feuer an. Den vereinten Kräften der Bürgerschaft gelang es jedoch, die Meuterer zu Paaren zu treiben“ (6) (Bild 2). Und auch wenn die Vertreibung (noch) verhindert werden konnte, so war auch die rechtliche Gleichstellung der Juden ein hohles Versprechen der Preußen, dass in Kriegs- und Kriegszeiten (1848, 1864, 1866, 1870, 1914) gern wiederholt, aber danach auch schnell wieder vergessen wurde: „Die Juden in der Provinz Posen … wissen, daß die ihnen von den Polen vorgeworfene Undankbarkeit eine Legende ist, sie wissen aber auch, daß die Begeisterung ihrer deutschen Behörden für die Gleichberechtigung der Religionen nur in den Zeiten der Not zu Tage trat, und daß sie alle Rechte, die sie in Wirklichkeit errungen haben, ihrer eigenen zähen Arbeit verdanken“  (7). So kam es, dass die große Auswanderung aus dem Großherzogtum Posen bereits mit der versprochenen Gleichstellung um 1840 begann und nach der Reichsgründung 1871 seinen Höhepunkt fand. Lebten 1858 noch 1500 Juden in Rogasen, waren es 1887 noch 1318, 1895 noch 834, 1905 nur noch 666 und 1913 noch 516 Personen, d.h. 9% der Bevölkerung. Diese massenhafte Auswanderung betraf nicht nur Rogasen, sondern nahezu alle Gemeinden in Posen (7), denn davon versprachen sich die Juden bessere Chancen für Beruf und Leben, sei es in Berlin, in Brandenburg oder im europäischen und überseeischen Ausland.

Bild 2. Artikel aus Der Landbote (5)

Familiengründung

Wir wissen daher nicht, wann und wo Hermann Heymann seine Frau Reisal (Rosalie), geborene Rummelsburg getroffen und geheiratet hat, möglicherweise noch in Rogasen – sie war ebenfalls dort geboren worden, um 1861, und war daher volljährig nach 1885. In den Namenslisten der Juden in Posen taucht der Name Rummelsburg überhaupt nicht auf, daher ist es möglich, dass dieser Nachname erst mit dem Umzug nach Brandenburg angenommen wurde – alternativ kann die Familie allerdings auch aus der Stadt oder dem Landkreis Rummelsburg in Pommern (heute: Miastko, Polen) stammen, einer Kleinstadt 250 km östlich von Stettin von etwa 4000 Einwohner (um 1850), von denen 3% jüdischen Glaubens waren.

Zu dieser Zeit (ab 1890) gab es in Berlin nur eine Familie Rummelsburg, ein Kaufmann Siegfried Rummelsburg in der Alexanderstraße 37a, Mitinhaber der Firma Gottheim & Co., die er später allein weiterführte. Nach 1893 findet sich außerdem ein Moses Rummelsburg im Osten von Berlin (Blankenfelderstraße 6), der Miteigner des Herrengarderobegeschäftes Salomon Kurzweg & Co. (Inhaber: Leopold Kurzweg, Königstraße 30). Er war möglicherweise ein Sohn des Siegfried Rummelsburg; Rosalie Rummelsburg könnte seine Schwester gewesen sein.

Hermann Heymann und seine Frau Rosalie wohnten 1890 bis 1893 zunächst in der Schlegelstraße 27 in der Oranienburger Vorstadt, bevor sie (ab 1893) an die Potsdamer Straße 61 zogen. Sie bekamen zwischen 1891 und 1898 fünf Kinder: 

– Alfred, geboren am 11. Dezember 1891. Er starb im ersten Weltkrieg am 5. Oktober 1915 (im Grenadier-Regiment No. 12) (8) (Bild 3).

– David, geboren am 24. Januar 1893, verstarb wenige Tage später (2. Februar 93).

– Frieda Flora, geboren am 29. November 1893. Sie heiratete 1921 Isidor Isaak Barkowsky, der, wie sie und ihre beiden Kinder, Margot Lilly (* 2. März 1922) und Alfred (* 14. März 1924), 1942 deportiert und in Auschwitz am 27. Februar 1943 ermordet wurde.

– Helene, geboren 18. Februar 1896. Sie heiratete 1922 Julius Barkowsky, den Schwager ihrer Schwester Frieda, und hatte mit ihm einen Sohn Adolf (* 20. Dezember 1923). Helene, ihr Sohn Adolf und ihr Ehemann Julius wurden 1941 deportiert und starben im Konzentrationslager Kauen in Kaunas (Litauen) am 25.11.1941.

– Theodor David schließlich wurde am 30. April 1898 geboren. Er übernahm nach dem Tod des Vaters 1928 das Hutgeschäft in der Potsdamer Straße 61.

Bild 3. Traueranzeige für Alfred Heymann (aus: (8))

Firmengründung

Das Haus Nummer 61 in der Potsdamer Straße (heute: Nr. 146, zwischen Bülow- und Winterfeldstraße) war 1890 neu gebaut worden (es gab schon vorher ein Mietshaus, nur kleiner) und gehörte ab 1892 einem königlichen Kammerherrn und Zeremonienmeister Werner Hesse Edler von Hessenthal (1845-1914), der in der Villa Genthinerstraße 13D (heute: 30D, im sogenannten Begaswinkel) wohnte. Nach 1894 war der Fabrikant (Hutfabrikant) Heimann (später Heymann) hier nachweisbar, auch wenn er seine Firma erst am 8. Januar 1908 in das Handelsregister hat eintragen lassen (9): HR A 31717: Der Gewerbebetrieb ist eine „Schirm- und Huthandlung“ mit einem jährlichen Einkommen und Umsatz oberhalb eines Kleingewerbes. Anlässlich der Registrierung musste Heymann einen Fragebogen (Bild 4) ausfüllen, der weitere Informationen über sein Gewerbe hergibt: Jährlicher Umsatz ca. 47.000 RM, Betriebskapital ca. 15.000 RM, Betriebsertrag 3.000 RM, Mietbedarf 4.700 RM für 2 Läden (1 großer, 1 kleiner), 2 Verkaufsräume, Kreditbelastung 9.000 bis 10.000 RM, ca. 20 Lieferanten. Auf der Basis dieser Daten wurde der Betrieb der Steuerklasse III zugeordnet und musste 72 RM an Steuern im Jahr zu zahlen. Auch wenn Heymann das Formular zur Eintragung seiner Firma mit „Herrmann Heymann“ unterzeichnete, wurde die Firma als „Hermann Heymann Hutfabrik“ auch für die amtlichen Eintragungen in den Zeitungen registriert.

Bild 4. Fragebogen zur Gewerbe des Hermann Heymann (aus: (9)).

Rosalie Heymann geborene Rummelsburg starb am 18. März 1926 in ihrem Heim in der Potsdamer Straße 61 – sie wurde 65 Jahre alt. Ihre beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt verheiratet und lebten in zuletzt Berlin-Wedding (Reinickendorfer Straße 77), Sohn Theodor wohnte bei seinen Eltern. Ein Jahr nach dem Tod seiner Ehefrau, am 21. März 1927 heiratete Herrmann Heymann erneut: Betty Winterfeld, geboren am 1. Januar 1896 in Lauenburg (Pommern).

Am 1. Oktober 1926 wurde Sohn Theodor Heymann Mitinhaber und persönlich haftender Gesellschafter der Firma Hermann Heymann Hutfabrik (10) (Bild 5). Am 3. November 1927, ein Jahr vor seinem Tod, schloss Hermann Heymann einen Erbvertrag (9), in dem er die Übernahme der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ an seine Erben im Falle seines Todes regelte: Den gesamten Haushalt erbe seine Ehefrau, das Geschäft solle seinem Sohn Theodor und seiner Ehefrau je zur Hälfte zufallen, seine Ehefrau und seine drei Kinder sollen den übrigen Nachlass zu je einem Viertel erhalten. Falls seine Ehefrau sich wieder verheirate, solle sein Sohn sie auszahlen, ebenso, falls sie entscheide, aus dem Geschäft auszusteigen. Falls seine Töchter die Regelung anfechten, sollen sie unter Anrechnung der erhaltenen Aussteuer auf den gesetzlichen Pflichtteil gesetzt werden. Der Wert des Nachlasses wurde auf 10.000 Mark geschätzt.

Bild 5. Anzeigen im Reichsanzeiger (10) und in der Handeslregister-Akte (9).

Hermann Heymann starb am 29. April 1928 in seiner Wohnung in der Potsdamer Straße 61. Das Testament (Erbvertrag) wurde am 15. Mai 1928 im Beisein aller Erben sowie der Ehemänner der beiden Töchter eröffnet (9). Danach übertrugen die Ehefrau und die beiden Töchter des Heymann ihren Erbteil an Theodor, der sich seinerseits verpflichtet, seiner Stiefmutter 10.000 Mark und seinen beiden Schwestern je 4000 Mark auszuzahlen mit Stundung und Verzinsung bis 1931.

Im Testamentseröffnungsprotokoll 1928 werden zwei Geschäftsräume (Läden) erwähnt, die Hermann Heymann auch in seinem Anmeldeformular von 1908 notiert hatte. Im Jahr 1928 handelte es sich um die Potsdamer Straße 61 einerseits, um die Frankfurter Allee 70 andererseits: hier hatte Theodor Heymann 1927 ein eigenes Geschäftslokal mit Herrenartikeln eröffnet, das noch 1928 bestand, danach jedoch nicht mehr. Ob auch sein Vater Hermann Heymann in den Jahren vor seinem Tod ein zweites Geschäftslokal unter seinem Namen an anderer Stelle in Berlin betrieb, erschließt sich aus den Unterlagen nicht.

Mit dem Tod des Vaters schied dieser aus der Firma aus und wurde gelöscht, und Theodor Heymann wurde als alleiniger Inhaber eingetragen; der Name der Firma „Hermann Heymann Hutfabrik“ blieb jedoch zunächst bestehen. Erst im April 1938 wurde die Firma umbenannt in „Theodor Heymann Herrenartikel“ (10) (s. Bild 5); zu diesem Zeitpunkt war die Nummerierung der Potsdamer Straße geändert worden, die Nr. 61 war jetzt die Nr. 146. 

Im zweiten Teil der Geschichte werden wir uns mit dem Verbleib der Firma unter der nationalsozialistischen Herrschaft beschäftigen, der Flucht Heymanns nach Shanghai 1939, der Auswanderung in die USA 1947, und dem Wiedergutmachungsprozeß nach dem Krieg. 

Literatur

1. https://jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/p-r/1679-rogasen-posen

2. Jacob Jacobson. Zur Geschichte der Juden in Rogasen. Unveröffentlichtes Manuskript von 1935, einsehbar im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Signatur: II. HA GD, Abt. 10, VI Nr. 2680.

3. Edvard David Luft. The naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Scholars Press, Atlanta, Georgia 1987.

4. Edvard David Luft. The Jews of Posen Province in the Nineteenth Century. A Selective Source Book, Research Guide, and Supplement to The Naturalized Jews of the Grand Duchy of Posen in 1834 and 1835. Washington 2015, einsehbar im Archiv des Leo-Baeck-Instituts, New York. 

5. Sophia Kemlein. Die Posener Juden 1815 – 1848. Entwicklungsprozesse einer polnischen Judenheit unter preußischer Herrschaft. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997.

6. Der Landbote. Ein Blatt zur Belehrung und Unterhaltung. Nr. 33 von Donnerstag, den 23. April 1846, Seite 1.

7. Bernhard Breslauer. Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. Denkschrift im Auftrag des Verbandes der Deutschen Juden. Druck Berthold Levy, Berlin 1909.

8. Berliner Tagblatt und Handelszeitung vom 28. Oktober 1915, Seite 14.

9. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): Handelsregister A. Herrmann Heymann Hutfabrik, Akte Nr. A Rep. 342-02 Nr. 35400 (Amtsgericht Charlottenburg HRA 94940)

10. Deutscher Reichsanzeiger, 31. März 1927, Seite 34 und 19. April 1938, Seite 1. 

Denk Mal Am Ort in Berlin am 4. und 5. Mai 2024

Kennen Sie die Geschichte Ihres Hauses?

27 Erinnerungen an in der NS-Zeit verfolgte Berliner:innen

Ausstellungen, Erzählungen, Vorträge, Gedenkspaziergänge, Rundgänge, Lesungen, eine Performance, akustische Stolpersteine sowie zwei
Zeitzeug:innengespräche:
Am Samstag, den 4. und Sonntag, den 5.5.2024 gedenken engagierte Bewohnerinnen Berlins im Rahmen der Initiative „Denk Mal Am Ort“ durch 27 Veranstaltungen an den einstigen Wohn- und Wirkungsstätten Berlinerinnen, die während der NS-Zeit verfolgt wurden oder Widerstand leisteten.
14 Nachkommen reisen aus Amerika, Großbritannien, Argentinien, Spanien, den Niederlanden, Frankreich und Israel an. Der Eintritt ist frei.

Sylvia Paskin kommt aus London nach Berlin, um am Samstag um 17 Uhr in Berlin-Charlottenburg vor deren letzten Wohnung in der Wielandstraße 30 an ihre Großmutter Lily Knips zu erinnern. Liliy Knips Geschichte hört sich an wie aus einem Krimi: Aus Angst vor den Nationalsozialisten sendete sie ihren Sohn Lothar, Sylvia Paskins Vater, 1933 nach London. Ihr selbst gelang keine Ausreise. Dann traf sie Josef Jakobs, einen weit jüngeren „arischen“ Mann, der gefälschte Pässe verkaufte und verliebte sich. Mit einem seiner Pässe flüchtete Lily nach London.
Josef Jakobs wurde erwischt und kam ins KZ. Unter der Auflage für die Nazis zu spionieren, landete er per Fallschirmsprung in England, in der Tasche Lilys Adresse. Um 17 Uhr erzählt die 96-jährige Ruth Winkelmann in der Turnhalle ihrer einstigen Schule in der Auguststraße im Restaurant House of Small Wonder von ihrem Überleben. Michaela Maria Müller liest Passagen aus Winkelmanns Buch „Plötzlich hieß ich Sara“. Die 96-jährige erzählt und beantwortet Fragen.

Am Sonntag erzählt Frauengeschichtsforscherin Sabine Krusen um 11 Uhr die Geschichte des Gartenhaus in der Brunnenstraße 41. Minna Schwarz ließ das Gartenhaus 1913 als Mütter- und Säuglingsheim errichten. Damals befanden sich hier bereits verschiedene Wohlfahrtseinrichtungen des jüdischen Frauenvereins der Berliner Logen U.O.B.B. Mit Beginn der NS-Herrschaft mussten sie schließen. Bis auf ein Altenheim, das schließlich als Deportationssammellager missbraucht wurde.

Krusen hat die Geschichte des Ortes und der Menschen, die hier arbeiteten oder wohnten über 30 Jahre erforscht. In der Käthe-Niederkirchner-Straße 35 erinnert eine stumme Klingeltafel an 83 jüdische Menschen, die hier lebten. Einer von ihnen war Georg Jacobsohn – als Schauspieler unter dem Künstlernamen Georg John bekannt. Der heutige Hausbewohner Simon Lütgemeyer einnert um 12 Uhr durch Filmbeispiele und Recherchen an den Charakterdarsteller, der den deutschen Film zwischen 1916 und 1933 durch Nebenrollen prägte, ehe er vom Kulturbetrieb ausgeschlossen und ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert wurde.

Um 14 Uhr erinnert das „Netzwerk Ottilie Pohl“ in Moabit bei einem historischen Spaziergang mit Lesung und Gespräch an die kommunistische und jüdische Widerstandskämpferin Ottilie Pohl.

Ebenso um 14 Uhr wird in Berlin-Schöneberg in der Kirche zum Heilsbronn die radikale und vielfältige Stimme der Dichterin Gertrud Kolmar durch eine Performance der Schauspielerin Lisa Schell erfahrbar.
Kolmar gilt als eine der bedeutendsten jüdischen Dichterinnen. Doch der Großteil ihres Werks wurde posthum publiziert. Die Cousine Walter Benjamins musste Zwangsarbeit leisten und wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Davor war es ihr gerade noch gelungen, ihre Manuskripte in die Schweiz zu schicken.

https://www.denkmalamort.de/deutsch/berlin-4-5-mai-2024/

www.denkmalamort.de

Vergessene Orte; Blumeshof

Liebe Nachbarinnen und Nachbarn,
viele von Ihnen werden Prof. Dr. Paul Enck schon kennen.
Er beschäftigt sich mit der Geschichte unseres Kiezes und gibt sein Wissen in Vorträgen weiter.

Am Mittwoch, 24.1.2024 wird Paul Enck über eine heute vergessene Straße erzählen. Die Straße „Blumeshof“ verband die Lützowstraße mit dem Schöneberger Ufer und war eine Parallelstraße zur Kluckstraße. Dort, wo heute die Stadtteilbibliothek, der Nachbarschaftstreff, das Kiezzentrum Villa Lützow, die Jugendherberge, das Gebäude des Familienministeriums stehen, wurde vor 100 Jahren großbürgerlich gewohnt.

Das Gebäude Blumeshof Nr. 15 wurde von den Nationalsozialisten zu einem „Judenhaus“ erklärt, in dem jüdische Nachbarn zwangsweise zusammengepfercht wurden.
Die Straße wurde im 2. Weltkrieg zerstört und auf Beschluss des Senates zurück gebaut.
Paul Enck präsentiert anhand alter Fotos und Pläne Wissenswertes zur Geschichte der Straße und seinen BewohnerInnen.

Mi 24.1.2024, um 19 Uhr
im Projektraum des Nachbarschaftstreffs Lützowstr. 27,
„Vergessene Orte: Blumeshof“

Das Haus Fürstenberg am Lützowplatz – 10

Mit der Zusammenfassung der Wiedergutmachungsverfahren der Fürstenberg-Söhne nach dem 2. Weltkrieg wollen wir die Geschichte der Familie beenden. Dabei stellt sich – nicht nur für die Nachkommen von Sally Fürstenberg – die Frage, ob mit den prozessualen Ergebnissen eigentlich eine Wiedergutmachung erlittenen Unrechts erreicht wurde, oder ob die finanzielle Kompensation nur dieses Unrecht verschleierte; dann wäre, wie wir oben (Teil 8) diskutiert haben, der Begriff der Restitution (der Wiederherstellung des finanziellen Status quo ante), der angemessenere Begriff. Zu unserer Überraschung hatte diese Diskussion bereits in den 1950er Jahre eingesetzt und war ihm allzeit immanent. Dazu im Folgenden ein längerer Textausschnitt von 1990 (58).

„Der unselige Begriff ´Wiedergutmachung`

In den Gründerjahren der Bundesrepublik haben gerade solche Politiker den Wiedergutmachungsbegriff hochgeschätzt, die klarer als andere erkannten, dass die Deutschen sehr viel zu ersetzen, zu bezahlen und zu sühnen hatten. Adolf Arndt oder Carlo Schmid, Franz Böhm oder Theodor Heuss sahen in diesem Sprachgebrauch ein Zeichen der Anerkennung von Schuld und Verbrechen und einen moralischen Appell, um die Selbstbezogenheit und Teilnahmslosigkeit des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung zu überwinden. Dabei schwang die Idee einer deutschen Selbstreinigung mit, die Bundespräsident Heuss auf die Formel brachte: Es gelte nicht zuletzt, „sich selber wieder gut zu machen“. 

Ein Streiter für die Sache der Verfolgten, der Unionsabgeordnete Franz Böhm, erläuterte 1954 die zeitgenössische Semantik so: ´Wen die Grausamkeiten der Hitlerzeit damals, als sie verübt wurden, entsetzten, wer mit den Opfern fühlte, wer, wenn er konnte, zu helfen suchte, dem ist heute die Wiedergutmachung Herzenssache. Wer aber damals mit Hitler sympathisierte, wer jeden, den die Gestapo abholte, für einen Feind, Übeltäter oder Schädling hielt oder wer sich auch nur beim Anblick all der Herzlosigkeit und Brutalität mit dem Satz tröstete: wo gehobelt wird, da fallen Späne, für den ist heute die Wiedergutmachung ein Ärgernis.`

In unserer Gegenwart verhält es sich gerade umgekehrt: Je stärker der Zivilisationsbruch von Auschwitz in das Zentrum deutscher Erinnerungskultur getreten ist, um so mehr ist der Wiedergutmachungsbegriff zum Ärgernis geworden. Vielen gilt er als ´unerträglich verharmlosend`. Die Abwehr ist verständlich, auch deshalb, weil es immer problematisch ist, einem Diskursbegriff der Zeitgenossen die historiografische Deutungshoheit zu überlassen. Doch sollte man sich vor dem anachronistischen Fehlschluss hüten, den frühen Protagonisten der Wiedergutmachung sei es nur um eine Art Schadensabwicklung gegangen.

Wenn heute an diesem Begriff festgehalten wird, dann primär aus pragmatischen Gründen. Wie keine andere Sammelbezeichnung rückt er einen Gesamtkomplex in den Blick, der sich in fünf Felder unterteilen lässt. Es handelt sich, erstens, um die Rückerstattung von Vermögenswerten, die den NS-Verfolgten entzogen worden sind, und, zweitens, die Entschädigung für Eingriffe in die Lebenschancen wie den Verlust an Freiheit, Gesundheit, beruflichem Fortkommen. Zu den einschlägigen Gesetzen traten, drittens, Sonderregelungen auf verschiedenen Rechtsgebieten, insbesondere in der Sozialversicherung. Die juristische Rehabilitierung, viertens, stand vor der Aufgabe, Unrechtsurteile zu beseitigen – vor allem in der Strafjustiz, aber auch Unrechtsakte wie die Ausbürgerung oder die Aberkennung akademischer Grade sind zu bedenken. Diese vier Bereiche betrafen das innerdeutsche Recht. Aber die Verfolger haben Staatsgrenzen niedergerissen, Terror nach außen getragen und Millionen von Ausländern in das Deutsche Reich deportiert. Das Thema hat somit auch, fünftens, weite internationale Dimensionen, die den Hintergrund für eine Reihe von zwischenstaatlichen Abkommen bilden“ (58).

War die Wiedergutmachung der Fürstenbergs nur Schadensabwicklung oder mehr?

Versucht man, die verschiedenen Wiedergutmachungsprozesse der Familie Fürstenberg bezüglich ihrer Ergebnisse zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild:

1. Aus den beiden hier ausführlicher diskutierten Verfahren (Teil 8 und Teil 9) ergeben sich finanzielle Zahlungen an die Familie in der Größenordnung von 1.2 Millionen DM.

2. Von den übrigen Immobilien der Familie zum Zeitpunkt ihrer Vertreibung (1938) wurde die Lützowstraße 60 offenbar vor einer Enteignung im Frühjahr 1938 an das Finanzministerium (Abteilung Militär) verkauft. Nimmt man einen Bodenwert von 20-40€/qm an (59), kann man vermuten, dass das Grundstück nebst Wohnhaus zu diesem Zeitpunkt und mindestens zu diesem Preis verkauft wurde und dieses Geld den Fürstenbergs auch zur Verfügung stand – sonst hätten sie zu Recht dafür Wiedergutmachung verlangen können.

3. Die Immobilien Leipzigerstraße 72/73 und Niederwallstraße 13/14 lagen nach dem Krieg in Ost-Berlin, die DDR hat sich an der Wiedergutmachung nicht beteiligt – sie sahen sich nicht als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches. Für diese Immobilien wurde daher wohl kein Rückerstattungsanspruch erhoben.

4. Für die Immobilie Wassertorstraße 3 wurde am 6. Januar 1954 ein Rückerstattungsantrag von 1950 zurückgezogen (60), da das Grundstück zurückgegeben wurde. Laut Bauakten (61) war das Haus 1934 für 19.000 RM aus einer Versteigerung erstanden und hatte einen Verkehrswert von etwa 24.000 bis 26.000 RM. Es war nach dem Krieg noch nahezu vollständig bewohnbar, nur eine Werkstatt im Hof war vollständig zerstört.

5. Das gleiche galt für das Grundstück Lietzenburgerstraße 13, über das es keine Wiedergutmachungsakte gibt. Laut Räumungsakte von 1949 (62) war das Grundstück 1600qm groß und zu 26% beschädigt (nur Quergebäude, das Vorderhaus war bewohnt).

Wie hoch war der Grundwert, und wie verhielt sich dies zu den Werten um 1955?

Die Kaufkraft einer Reichsmark vor dem Krieg (1938) entspricht einer Kaufkraft von 4,7€ heute (63), aber das sagt uns wenig über den Wert der RM vor nunmehr 90 Jahren, 20 Jahre nach der Restitution, 1956, außer vielleicht einem etwa 10:1 Verhältnis von RM:DM. Dem entspricht aber sehr genau eine andere Kalkulation: Der VbK bewertete den Kaufpreis für Grund und Gebäude Lützowplatz 9 (370.000 RM) im Jahr 1956 mit 37.000 DM (37). 

Das vom Landgericht veranlasste Gutachten des Dipl.-Ing. Enderlein vom 23. Juli 1953 im Wiedergutmachungsprozess Fürstenberg gegen den VbK (59, Bl. 58-72) bezifferte den Bodenwert der etwa 1800qm, die der VbK 1938 erworben hatte, mit 58.000 RM, und das Gebäude mit 228.000 RM, zusammen also etwas mehr als die bezahlten 370.000 RM. Gegenüber dem Gebäudewert, der sich im Jahr 1953 durch die Zeit, aber auch durch das Ausmaß der Zerstörung 1943 gegenüber 1938 verringert hatte, war der Bodenwert praktisch gleichgeblieben und wurde im Gutachten mit 50.000 DM angenommen (59, Bl. 71).

Nehmen wir also der Einfachheit halber an, dass die beiden Grundstücke zu 4. und 5. im Jahr 1956 zusammen einen Grundwert von etwa 50.000 DM hatten, dann beläuft sich die Gesamtsumme der finanziellen Restitution für die Familie Fürstenberg auf etwa 1.25 Millionen DM im Jahr 1960, und dies entspricht etwa dem zehnfachen Wert (12,5 Mio. RM) im Jahr 1938.

Die Fürstenbergs (Sally, Paul und Sophie Fürstenberg) hatten im Rahmen ihrer Vermögenserklärungen 1938 (s. Teil 7) in der Größenordnung von ca. 7 Millionen RM angegeben, die im Ausland angelegten Vermögenswerte nicht mitgerechnet. Da auch das Vermögen von Fritz Fürstenberg und seiner Firma Reveillon in Amsterdam 1942 durch die Nationalsozialisten beschlagnahmt wurde, und die Firma Reveillon in London durch deutsche V2-Bomben zerstört wurde (wofür es vor Ort keine Kompensation gegeben haben dürfte), lässt sich das Vermögen der Familie 1938 auf mindestens 10 Mio. RM schätzen und entspricht somit von der Kaufkraft ungefähr der Restitutionssumme von 1.25 Mio DM im Jahr 1960. 

Es muss an dieser Stelle aber daran erinnert werden, dass Vermögenden, insbesondere mit Immobilienbesitz, im Rahmen des Lastenausgleichs (1952) (64) ebenfalls erhebliche finanzielle Abstriche ihres Vermögens hinnehmen mussten, wenngleich gestreckt auf viele Jahre, wozu auch der Entzug von Vermögen und Immobilien im Machtbereich der DDR gehörte, den auch sehr viele haben hinnehmen müssen. Und „last but not least“: Hätten die Fürstenbergs nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt, wären sie, so makaber das klingt, vermutlich wie viele weniger vermögende Juden Opfer des NS-Terrors geworden und ermordet worden.

War die Lösung der Wiedergutmachungsprozesse also gerecht?

Da wir darauf keine befriedigende Antwort finden können, sollen am Schluss die Söhne von Sally Fürstenberg selbst zu Wort kommen. In einem Zeitungsartikel im „Tagesspiegel“ vom 17. März 1954 (65) (Bild 1) berichtet der Reporter (G.L.) über ein soeben stattgefundenes Treffen mit zwei der Gebrüder Fürstenberg – bei denen es sich möglicherweise um Fritz aus den Niederlanden und Ulrich aus Ägypten handelt, von denen wir aus anderen Quellen wissen, dass sie gelegentlich in Berlin bzw. auf der Frankfurter Messe waren. Sie hatten offenbar auf der Durchreise in Berlin Station gemacht, vermutlich auch, um im Prozess auszusagen. Zum Zeitpunkt dieses Besuches aber waren die Prozesse noch keineswegs beendet, sondern noch mehr als sechs Jahre von den oben beschriebenen Ergebnissen entfernt.

Bild 43: Artikel im Tagesspiegel vom 17. März 1954

Das Treffen fand in einer Villa im Grunewald statt, und die beiden „plauderten … bei einer Tasse Tee von ihren Erlebnissen, in den letzten zwanzig Jahren: Verfolgung, Emigration, Aufbau von Geschäften in Kairo, Alexandrien, Rhodesien und Amsterdam, erneute Flucht, Internierung in der Schweiz mit Lagerleben, Gefängnismauern, gewaltsamer Trennung der Familie und schließlich wieder geschäftliche Erfolge in Europa und in Afrika. Lächelnd, mit verbindlichen Handbewegungen, geht man von diesen angedeuteten Reminiszenzen, als wolle man die Gesprächspartner damit nicht belasten, zur Gegenwart über“ und deutet an, dass sie zukünftig vielleicht auch am Kurfürstendamm in Berlin wieder ein „Haus der Geschenke“ eröffnen möchten, „wenn die gegenwärtigen Restitutionsverhandlungen günstig verlaufen„. Auch wenn sie das am Ende vielleicht gewesen sind, Jahre später waren vermutlich die Bedingungen für einen Neubeginn ungünstig, die Preise für Immobilien am Ku-Damm zu hoch, und alle Beteiligten um Jahre älter und um Erfahrungen reicher.

Literatur

58. Quelle: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/162883/wiedergutmachung-in-deutschland-1945-1990-ein-ueberblick/

59. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): B Rep. 025-05 Nr 204/49 Nr. 5725/50. 

60. LAB: B Rep. 020-02 Nr. 2138/51, Blatt 2.

61. LAB: B Rep. 206 Nr. 4619 (Bauakte Wassertorstraße 3).

62. LAB: B Rep. 207-01 Nr. 971 (Abräumakte Lietzenburger Str. 13).

63. Deutschen Bundesbank: Kaufkraftäquivalenten historischer Beträge in deutschen Währungen seit 1810 – Gulden, Taler, Mark, Reichsmark, D-Mark (Stand: Januar 2022; siehe: https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/13c8ab8e09d802ffcf2e5a8ae509829c/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf).

64. https://de.wikipedia.org/wiki/Lastenausgleichsgesetz.

65. Tagesspiegel vom 17. März 1954.