Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 7)


Der folgende Teil der Geschichte der Familie Popper ist eine Gemeinschaftswerk von mir und einer künstlichen Intelligenz (KI) und das kam so: Ich wollte seit langem den wissenschaftlichen Nachlass von Julius Popper, dessen Lebensweg wir hier ausführlich dokumentiert haben, durchsehen und verstehen, und wenn es geht, auch für diesen Blog zusammenfassen – damit habe ich mich in den letzten Wochen herumgeplagt.

Als ich aber einen Text dazu fertig hatte, war zweierlei klar: Der Text war lang (12 Manuskriptseiten), und er war abgehoben und unverständlich für den mittendran-Blog; ich bin dazu an die Grenzen meines eigenen Wissens und eigentlich darüber hinaus gegangen. Deswegen habe ich diesen langen Text erst mal an ein paar Freundinnen und Experten gegeben, um ihn überprüfen zu lassen.

Quasi als Übergangslösung habe ich diesen Text in eine KI, das ChatBot Programm Chat GPT Version 5, eingegeben mit dem Auftrag, den Text wissenschaftlich neutral zu überarbeiten – heraus kamen 10 Seiten, die immer noch mein Text waren, aber sich besser lasen als zuvor; vielleicht wie nach einem Lektorieren, aber mit textlichen Eingriffen, anstatt nachzufragen, was ein*e Lektor*in üblicherweise macht. Aus schierer Neugierde habe ich dann der KI die Anweisung (das nennt man ein Prompt) gegeben, den Text auf 4 Seiten (2400 Wörter) zu kürzen und ihn allgemeinverständlicher zu machen. Der daraus resultierende Text ist am 19. Dezember 2025 auf mittendran veröffentlicht worden.

Hier nun stattdessen der volle Text, mein Text mit Überarbeitung und Korrektur durch die KI; denn wer sich auf diese Seite verirrt, hat ein größeres Interesse an jüdischer Geschichte und Philosophie, und die/den kann ein langes Manuskript nicht schrecken.

—-

JuliusJudaPopper (5.Oktober182225. November 1884)

Eine Annäherung

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem wissenschaftlichen Nachlass von Julius Popper, der im Zeitraum von etwa vierzig Jahren zwischen 1843 und seinem Tod 1884 entstand. Die Darstellung erfolgt vor dem Hintergrund seiner Familiengeschichte sowie seines beruflichen und privaten Werdegangs, die an anderer Stelle ausführlich beschrieben wurden (1).

In Kürze: Julius Popper wurde in Hildesheim geboren und legte 1841 am dortigen Gymnasium Andreanum das Abitur ab. Anschließend studierte er in Berlin von 1842 bis 1846 Philosophie, Theologie und Archäologie. Bereits während des Studiums und nach dessen Abschluss bis 1854 war er als Erzieher am Auerbach’schen Waisenhaus in Berlin tätig, danach bis 1858 als Religionslehrer in Dessau (Anhalt) und anschließend in Stolp (Pommern). Im Jahr 1862 kehrte er nach Berlin zurück und übernahm das Amt des Schuldirektors der Jüdischen Gemeinde (Abb. 1).

Bild 1: Porträt von Julius Popper, gemalt von seinem Bruder Isidor Popper um 1856. Das Bild wurde erst vor kurzem aufgefunden (aus dem Familiennachlass).

Für die Analyse seines wissenschaftlichen Werks stehen verschiedene Quellen zur Verfügung. Zunächst ist seine 1854 an der Universität Leipzig eingereichte und in lateinischer Sprache verfasste Dissertation zu nennen, die den Titel ObservationescriticaeinPentateuchide Tabernaculo Relationem trägt, was mit „Kritische Anmerkungen zum Bericht des Pentateuchs über die Stiftshütte“ übersetzt werden kann (2). Die Inhalte dieser Arbeit flossen später (1862) in ein Buchprojekt ein (3).

Ein zweites, bedeutsames Werk ist die IsraelitischeSchulbibel, deren erste Auflage 1854 und zweite 1873 erschien (4). Sie wird auch heute noch in wissenschaftlichen und religionsgeschichtlichen Publikationen zitiert (5).

Das dritte, unvollendete wissenschaftliche Projekt Poppers steht im Zusammenhang mit seiner 1879 veröffentlichten Monografie Der Ursprung desMonotheismus (6) sowie seiner Korrespondenz mit zeitgenössischen Gelehrten. Möglicherweise gehörte hierzu auch ein Antrag auf eine Studienreise nach Palästina, den er 1869 an das preußische Kultusministerium, dem “Ministerium der Geistlichen,Unterrichts undMedizinal-Angelegenheiten„, richtete (7).

Abschließend werden zwei weitere Dokumente vorgestellt, die seine öffentliche Tätigkeit ergänzen: die 1855 in Dessau gehaltene Traurede anlässlich der Heirat seiner Schwester (8) sowie eine Widmung in der Dissertationsschrift des Historikers Harry Bresslau (1848–1926) (9).

Ziel dieser Arbeit ist eine Annäherung an das wissenschaftliche Wirken Julius Poppers. Eine umfassende Interpretation seiner Position ist nicht intendiert, da hierfür die erforderlichen Spezialkenntnisse in Sprache, Geschichte und philologisch‑wissenschaftlicher Methodik über den Rahmen dieser Darstellung hinausgehen.

Projekt1: Dissertation und Buchpublikation 

Um den übersetzten Titel von Julius Poppers Dissertation (Observationes criticaeinPentateuchideTabernaculoRelationem, Abb. 2) verstehen zu können, ist es notwendig, die Begriffe Pentateuch und Stiftshütte kurz zu erläutern. Diese sind außerhalb der theologischen Fachsprache heute kaum noch bekannt.

Bild 2: Titelblatt und Seite 1 der Dissertation von Julius Popper. (Quelle: (2)).

Der Pentateuch bezeichnet die fünf Bücher Moses, die den Kern des Alten Testaments bilden. Sie erzählen die Geschichte des jüdischen Volkes von der Schöpfung – beginnend mit Adam und Eva im Buch Genesis – bis zum Tod Moses. In der jüdischen Tradition wird dieser Text, auch Tora genannt, in hebräischer oder aramäischer Sprache überliefert, da Hebräisch sowohl Alltags‑ als auch Kultsprache war. Die Stiftshütte (auch Tabernakel) wird im zweiten Buch Moses, Exodus25–31, detailliert beschrieben (Abb. 3). Sie war das mobile Heiligtum der Israeliten während der Wüstenwanderung nach der Rückkehr als dem ägyptischen Exil. Poppers Dissertation befasst sich mit der im Alten Testament überlieferten Beschreibung der Stiftshütte und untersucht deren historische, religiöse und mythologische Bedeutung für das Judentum.

Bild 3: Eine KI-Erläuterung des Begriffs Stiftshütte (Quelle: KI des Internet-Browsers ECOSIA, abgerufen am 2. Dezember 2025).

Ohne vertiefte Kenntnisse des Lateinischen und Hebräischen ist diese Schrift kaum verständlich, da der lateinische Text zahlreiche hebräische Satzfragmente enthält, die auf die Originalstellen im Pentateuch verweisen. Latein war zu dieser Zeit, um 1850, im akademischen Kontext der Theologie und Philosophie noch obligatorische Wissenschaftssprache.

Das Gutachten des Leipziger Dozenten Cuck zur Dissertation war dagegen in deutscherSprache verfasst. Trotz inhaltlicher Vorbehalte bewertete er die Arbeit positiv:

„Mit dem eigentlichen Endergebniß derAbhandlung kannichmich hiernach nicht einverstanden erklären. DennochhatdieAbhandlung selbstmirein großes Interesse abgewonnen,schondadurch, daßderVerfasserdiejüdische Einseitigkeit überwundenhat undim GebietederwahrenWissenschaft heimisch geworden ist. Derwissenschaftliche Standpunct desMannes verdient ebensowie seineGelehrsamkeitdiegerechteste Anerkennung. DieWürdigkeit,diephilosophischeDoctorwürdeerhaltenzukönnen,dürftewohlunbezweifeltsein.“(2)

Acht Jahre nach seiner Promotion veröffentlichte Popper unter dem Titel  Der biblischeBerichtüberdieStiftshütte.EinBeitragzurGeschichte der CompositionundDiaskeuedesPentateuch (1862) eine deutsche  Fassung seiner Untersuchung. Der Begriff Diaskeue bedeutet „Absicht“ oder  „Gestaltungsidee“ im Sinn einer textlichen Komposition (10).

Nach Poppers Angaben lag der Text bereits seit 1843 vor und wurde vermutlich als Anhangseiner Dissertation beigefügt, was auch das Gutachten nahelegt. Daher konnte die eigentlicheDissertationsschrift nur etwa 15 Seiten umfassen. Im Familiennachlass (11) findet sich eine Abhandlung mit dem Titel DeHebraeorumMythologia, die diesem Manuskript entsprechen dürfte. Bereits während seiner Berliner Studienzeit erhielt Popper dafür eine Belobigung und einen Preis, wie er in einem Brief an Heinrich Ewald vom 18. September 1861 erwähnt.

Im Vorwort seiner Publikation von 1862 erläutert Popper den Plan eines  zwei-bändigen Werksmit dem Titel DieGeschichtedeslebendigen Gottes (Abb. 4).  Band 1 mit dem Untertitel MoriahoderdieGeschichteder Patriarchen sollte die Erzählungen um Abraham, Isaak und Jakob behandeln. Moriah bezeichnet den in der Bibel erwähnten Berg, auf dem Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte (Genesis 22). Band 2 mit dem Titel Sinai oderdiemosaische Geschichte sollte   die Ereignisse rund um die Übergabe der Zehn Gebote und die Gesetzgebung am Berg Sinai darstellen.

Bild 3: Ankündigung einer weiteren Buchpublikation durch Julius Popper in seinem Buch zur Stiftshütte 1862 (3).

Poppers Ziel war es, mithilfe vergleichender Sprachwissenschaft – einer klassisch philologischen Disziplin – die Texte des Alten Testaments auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Sein Ansatz stand im Einklang, aber nicht in Übereinstimmung mitkonservativ‑jüdischen Interpretationstraditionen, die eine wörtliche Auslegung bevorzugten.

Als Beispiel analysierte Popper in seiner Arbeit die zweifache Darstellung  der Errichtung der Stiftshütte im Buch Exodus (Kapitel 25-30 und 35-40) und unterzog die sprachlichen Parallelen einer Textanalyse. Der Gutachter verwarf diese Schlussfolgerung mit dem Hinweis, dass die beiden Textpassagen – wie weite Teile des Alten Testaments –unterschiedlichen historischen Kontexten entstammten und daher nicht ohne Berücksichtigung der Entstehungssituation verglichen werden könnten.

Hier tritt ein grundlegender methodischer Unterschied zutage: Während Popper philologisch‑sprachlich argumentierte, orientierte sich die zeitgenössische historische Forschungin der Tradition Theodor Mommsens (1817–1903) zunehmend an empirisch-hermeneutischen Prinzipien.

Poppers Arbeiten fanden sowohl Zustimmung als auch Kritik. Ran HaCohen analysiert die  in DieEntdeckungdesChristentumsinderWissenschaftdes Judentums (S. 63–100): Seine Thesen wurden vor allem von nichtjüdischen Gelehrten rezipiert, während die jüdische Fachpresse weitgehend schwieg. Popper selbst klagte darüber: „Sie wurdevon 10Gelehrtenfreudig begrüßt und gebührend anerkannt, aberdas warAlles;dasGros desgelehrten Publikums, fürdassieeigentlich bestimmtwar, hatsieignorirtundsozusagen totgeschwiegen.“(BriefanBachofenvom28. Dezember1878, siehe unten)

Projekt2: Die jüdische Schulbibel

Die jüdische Übersetzung der Bibel – genauer: des Alten Testaments beziehungsweise des Pentateuchs (der fünf Bücher Moses) – bedeutet im Kern die Übertragung des hebräischen Textes in die deutsche Sprache. Bereits ab etwa 250 v. Chr. war der ursprünglich hebräische und später aramäische Bibeltext in verschiedene griechische Varianten übersetzt worden, da Griechisch zur damaligen Zeit die Verkehrssprache des östlichen Mittelmeerraums war. Diese Übersetzungen flossen bis etwa 500 n. Chr. in rabbinischen Bearbeitungen in den Talmud ein (12).

Obwohl Hebräisch weiterhin als Sprache der Liturgie und des Religionsunterrichts galt, erschienen im deutschsprachigen Raum nach Luthers Bibelübersetzung des Alten und Neuen Testamentes (um 1532) in die neuhochdeutsche Sprache zunehmend Bibelübersetzungen in der jeweiligen Landessprache. Diese richteten sich meist an christliche Leserinnen und Leser und unterschieden sich häufig stark vom hebräischen Ausgangstext.

Die erste umfassende jüdische Bibelübersetzung ins Deutsche stammt von Moses Mendelssohn (1729–1786) (13) (Abb. 5). Mendelssohn kombinierte in seiner Ausgabe den hebräischen Text mit einer parallelen Wiedergabe des deutschen Textes in hebräischen Buchstaben. Diese Entscheidung trug der damals gängigen Sprachpraxis vieler deutscher Juden Rechnung, die das sogenannte Jüdischdeutsche (Jiddisch) in hebräischen Lettern schrieben und die gotische Frakturschrift kaum beherrschten. Bechtoldt (5, S. 20) fasst dies treffend zusammen: „Die meisten deutschen Juden verstanden und schrieben das Jüdischdeutsche mit hebräischen Buchstaben. Nur die wenigsten beherrschten die ›christliche‹ Frakturschrift. Das Verstehen des Hochdeutschen war eher gewährleistet als dessen aktives Sprechen. “Mendelssohns Vorgehen verband somit kulturelle Vertrautheit mit sprachlicher Bildung: Der Text blieb dem Original nahe, ermöglichte gleichzeitig das Erlernen der deutschen Sprache und stärkte den Zugang zu religiöser Bildung. Zwischen 1780 und 1783 erschien diese Übersetzung in mehreren Bänden.

Bild 4: Moses Mendelssohn (1771), Porträt von Anton Graff, Kunstbesitz der Universität Leipzig) (aus: WIkipedia, gemeinfrei).

Julius Popper knüpfte mit seiner IsraelitischenSchulbibel von 1854 an Mendelssohns Idee an, wählte jedoch einen anderen methodischen Weg. Er verzichtete auf den Gebrauch des hebräischen Bibeltextes und erstellte stattdessen eine inhaltlich verdichtete, sprachlich klare und pädagogisch orientierte Kurzfassung des Alten Testaments in deutscher Spache und Schrift, insbesondere des Pentateuchs. Diese Fassung war für den Religionsunterricht von Kindern und Jugendlichen bestimmt: „Mancher wird das hebräische Element in dem Buche vermissen; ich habe absichtlich den hebräischen Unterricht und den Religionsunterricht hier auseinanderzuhalten gesucht.“

Poppers Schulbibel umfasst etwa 300 Druckseiten; zum Vergleich: die Mendelssohn’sche Übersetzung in heutiger Fassung ist etwa doppelt so umfangreich (14). Neben dem eigentlichen Bibeltext enthält das Werk mehrere Anhänge: eine kurze Darstellung der Geschichte der Juden von der Zerstörung des Tempels in Jerusalem (70 n. Chr.) bis in die Gegenwart, religiöse Gedichte und Lieder, ein Spruchbuch mit den „Grundzügen der israelitischen Religionslehre“ sowie eine Liste von 960 Lebensregeln.

Bechtoldt (5, S. 346) ordnet das Werk wie folgt ein:„PoppersSchulbibelist ein biblisches, historisches und dogmatisches Werk ohne hebräische Elemente, konzipiert von einem Autor, der jahrzehntelang im Umgang mit ›weltlich gebildeten‹ Schülerinnen und Schülern stand. Ziel war es, biblische Geschichte, jüdische Religion und grundlegendes Wissen in einem kostengünstigen Lehrbuch zu vereinen.“

Bild 5: Ankündigung der Publikation der Schulbibel durch den Verlag August E. Stange in Dessau (aus: Allgemeine Zeitung des Judenthums Heft 26 (25.6.1855) Seite 338).

Die erste Auflage von 1854 mit einer geplanten Stückzahl von 2 000 Exemplaren erschien im Verlag C. Aug. Stange in Dessau; Popper erhielt dafür kein Honorar. Das Buch wurde in der jüdischen Presse nicht nur angekündigt (Abb. 6), sondern auch positiv besprochen (15, Abb. 7). Über die tatsächlichen Verkaufszahlen liegen keine Angaben vor. Die zweite Auflage erschien 1872 ebenfalls in Dessau, wiederum mit 2 000 Exemplaren. Diesmal erhielt Popper ein Honorar von 100 Goldtalern, entsprechend etwa 6 000 € heutiger Kaufkraft (16).

Bild 6: Besprechung der Schulbibel in der Allgemeine Zeitung des Judenthums (Heft 39 (25.9.1854) S 498f).

In seinen pädagogischen Tätigkeiten verzichtete Popper bewusst auf den Gebrauch des Hebräischen. Ein Jahrhundert nach Mendelssohn hatten Integrations- und Assimilationsprozesse Deutsch neben Jiddisch zur Alltagssprache vieler jüdischer Gemeinden gemacht. Der steigende Anteil jüdischer Kinder an staatlichen und höheren Schulen trug wesentlich dazu bei. In der reformorientierten Berliner Gemeinde, in der Popper am Auerbach’schen Waisenhaus lehrte, war dieser Ansatz akzeptiert. In konservativeren Gemeinden hingegen wurde die Abkehr von der hebräischen Sprachlehre als Verlust wahrgenommen. Ein Beschwerdebrief des Gemeindevorstands von Dessau gegen Julius Popper von 1859  kritisiert:

„Es ist kaum glaublich – aber es ist wahr: In diesem ganzen langen Zeitraum ist unseres Wissens nicht ein einziger Schüler unter der Leitung des Dr.Popper so weit fortgeschritten, dass er die täglichen Gebete beim öffentlichen Gottesdienst hätte verstehen könneneine Stufe des Wissens, die früher bereits zehn- bis elfjährige Schüler erreicht hatten.“(18)

Poppers Schulbibel markiert damit eine Übergangsphase zwischen traditioneller religiöser Unterweisung und der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden modernen jüdischen Bildungsbewegung, die religiöse Inhalte stärker mit sprachlicher, historischer und kultureller Bildung verband.

Projekt3: Das unvollendete Gesamtwerk 

Wäre Julius Popper bewusst gewesen, dass seine wissenschaftliche Korrespondenz mehr als 150 Jahre später überliefert würde, hätte er vermutlich Abschriften seiner Briefe angefertigt und eingehende Schreiben ebenso sorgfältig aufbewahrt wie seine Manuskripte. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht.

Nachweise seiner Korrespondenz finden sich in den Nachlässen mehrerer Gelehrter:
– HeinrichEwald (1803–1875) und PauldeLagarde (1827–1891) im Universitätsarchiv Göttingen,
– JohannJakobBachofen (1815–1887) im Universitätsarchiv Basel.
Im eigenen Nachlass Poppers blieb lediglich ein Kondolenzschreiben von EduardvonHartmann (1842–1906) erhalten.

Korrespondenzpartner und wissenschaftlicher Kontext

Heinrich Ewald war einer der wichtigsten deutschen Orientalisten und Theologen seiner Zeit, Mitglied der „Göttinger Sieben“ (19) und später Professor in Tübingen. Er leistete grundlegende Arbeiten zur hebräischen und arabischen Philologie sowie zur Geschichte Israels.

Paul de Lagarde war ein weiterer Orientalist und Theologe in Göttingen, bekannt durch seine Forschungen zur Septuaginta, der griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Seine konservativ‑nationalistische und antisemitische Haltung hatte später Einfluss auf den völkischen Diskurs.

Johann Jakob Bachofen, Rechtshistoriker und Altertumsforscher in Basel, gilt als Begründer moderner Matriarchatstheorien.

Eduard von Hartmann schließlich, Philosoph an der Universität Berlin, erlangte mit seiner Philosophie des Unbewussten (1869) bedeutenden Einfluss auf die Tiefenpsychologie (S. Freud, C. G. Jung).

Die erhaltenen Briefe Poppers beziehen sich meist auf fachliche Fragen, Literaturhinweise und Diskussionen seiner eigenen Arbeiten. Hartmann erwähnt in einem Schreiben von 1884 aber, „dass der nunmehr Verewigte nicht mehr dazu gelangt ist, sein Werk bis zu Ende zu führen“ (11).

Das Werk „DerUrsprungdesMonotheismus“

In Dasreligiöse Bewusstsein der Menschheit (1888) (20) verweist Hartmann explizit auf Poppers 1879 veröffentlichtes Werk DerUrsprungdes Monotheismus. Darin beschreibt Popper den Übergang von polytheistischen Naturreligionen – einschließlich der altisraelitischen Glaubensformen zur Zeit des Aufenthalts in Ägypten – zum Monotheismus, der mit dem im Alten Testament geschilderten Bau der Stiftshütte beginnt: dem Glauben an einen einzigen Gott (Jahwe), der inmitten seines Volkes wohnt.

Hartmann bezeichnet Popper als „vergleichenden Mythologen“ und würdigt seinen Ansatz als originell, wenn auch noch nicht abschließend begründet. Aus der Analyse ergibt sich, dass Poppers Buch als erster Band einer geplanten Reihe (KritikderPatriarchengeschichte) gedacht war, deren Fortsetzung unvollendet blieb.

Von der „Geschichte der Patriarchen“ zur „Kritik der Patriarchen“

Die zunächst angekündigte zweibändige Schrift DieGeschichtedes lebendigen Gottes (Abb. 4) entwickelte sich konzeptionell zu Kritikder Patriarchengeschichte (Abb. 8). Popper vertrat darin die Auffassung, die biblischen Gestalten Abraham, Isaak und Jakob seien keine historischen Einzelpersonen, sondern symbolische Repräsentationen älterer religiöser Vorstellungen. In seinem Brief an Ewald vom 18. September 1861 (21) heißt es:

„Ich halte weder die dreiPatriarchennochMosefürgeschichtlicheIndividuen im gewöhnlichenSinneIchzweiflenichtdaran,daßdieIsraelitenaus OberasiennachCanaaneingewandertoderihreAbstammungdaherleiten, ferner,daßsieinAegyptenwaren,aberichbestreite,daßdiesejetztals geschichtlichePersönlichkeitenauftretenden Gestaltendaswirklichsind.“

Bild 7: Titelblatt des Buches zum Ursprung des Monotheismus, Band 1: Kritik der Patriarchen (6).

Die spätere, 450 Seiten umfassende Monografie DerUrsprungdes Monotheismus (1879) setzt sich kritisch mit den wissenschaftlichen Positionen seiner Zeit auseinander und bestätigt Poppers breit gefächerte Gelehrsamkeit. Das Werk wurde in Fachkreisen, wenngleich nicht einhellig, positiv aufgenommen (22). Popper resümiert: „Wir haben inAbraham,Isaak und Jakob nicht geschichtliche,persönliche Wesenkennengelernt Wir erkannten inihnenvielmehrdiealtenSternewieder, dieamHimmelder asiatischen Glaubenswelt vonjeher geleuchtethaben.“

Im Brief an Bachofen vom 2. Januar 1879 (23) kündigt Popper die Veröffentlichung des erstenBandes an und verweist zugleich auf die Bedeutung von Bachofens Mutterrecht für sein eigenes Werk, das „fast auf jeder Seite“ zitiert werde. Dies deutet auf sein Interesse an den weiblichen Gegenstücken der Patriarchen hin.

Popper sah offensichtlich Verbindungen zwischen den biblischen Frauenfiguren (Sara, Hagar, Rebekka, Judit, Ester u. a.) und älteren vorderasiatischen Mythen, die auch weibliche Göttinnen einbezogen (24). Es ist daher plausibel, dass der nicht vollendete zweite Band eine „matriarchale“ Ergänzung zur Kritik der Patriarchengeschichte darstellen sollte – eine Idee, die ihrer Zeit weit voraus gewesen wäre, auch wenn dies spekulativ bleibt.

Der Reiseantrag nach Palästina

Am 22. Februar 1869 beantragte Popper beim preußischen Kultusministerium Mittel für eine Forschungsreise nach Palästina in Höhe von 500 Talern, was heutiger Kaufkraft von etwa12 500 Euro entspricht (17). Er begründete den Antrag damit, eine „persönlicheAnschauungderbetreffenden Lokalitäten“ gewinnen zu wollen, da „auchdiesorgfältigste Beschreibung Andererin solchemFallenichtdieeigeneAnschauungzuersetzen  vermag“ (7).

Obwohl dies aus heutiger Sicht wie ein touristisch‑motiviertes Vorhaben erscheinen mag,zeigt der Antrag Poppers Interesse an einer empirisch fundierten Textinterpretation. Der Ansatzverdeutlicht sein Bestreben, philologische Methodik durch topografische und kulturelle Beobachtungen zu ergänzen. Der Antrag wurde mit dem Hinweis auf fehlende Mittel abgelehnt.

Bemerkenswert ist jedoch ein inhaltlicher Aspekt des Antrags: Popper erwähnt die „bisher wenigbeachteteGestaltderBibel,dasKebsweibSauls, Kispabath Aja,inderselbstderUneingeweihteleichtdasUrbildderNiobe wiedererkennen kann“. Dieser Verweis aufeine mythisch‑weibliche Parallelfigur unterstreicht Poppers Interesse an den symbolischenund mythologischen Rollen von Frauen in der biblischen Überlieferung – ein Thema, das im geplanten zweiten Band seines Monotheismus Projekts eine zentrale Rolle gespielt haben könnte.

DieTraurede

Während Julius Poppers wissenschaftliche Arbeiten eine kritische Auseinandersetzung mit der traditionellen religiösen Auslegung der Tora darstellen, dokumentiert seine Traurede anlässlich der Eheschließung seiner Schwester Theresa mit dem Buchdrucker Hermann Neubürger am 4. November 1855 (8) eine andere Facette seines Denkens: Sie belegt eindrucksvoll seine religiöse Verwurzelung und persönliche Frömmigkeit.

Theresa Popper lebte bis zu ihrem 34. Lebensjahr im elterlichen Haus in Hildesheim und pflegte nach dem Tod der Mutter (1854) jahrelang die Familie. Erst danach konnte sie eine eigene Ehe in Betracht ziehen. Julius Popper arrangierte die Verbindung mit Hermann Neubürger (1806–1886), der im Jahr 1854 seine erste Frau Minna verloren hatte und mit sieben Kindern im Alter von sechs bis neunzehn Jahren zurückblieb. In den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit war eine solche Heirat durchaus üblich: Sie bot beiden Partnern ökonomische Sicherheit und familiäre Stabilität.

Die Traurede, die Popper als Prediger der israelitischen Kultusgemeinde in Dessau hielt, zeigt ihn als religiösen Humanisten, dessen rational‑kritische Gelehrsamkeit mit einem tiefen ethischen Glauben verbunden war. Sie verdeutlicht, dass sein wissenschaftlicher Zugang zu religiösen Texten nicht im Widerspruch zu seiner persönlichen Spiritualität stand, sondern diese auf einer reflektierten Ebene ergänzte.

DieWidmungvonHarryBresslau 

Ein bemerkenswertes Zeugnis für Poppers Einfluss auf jüngere Gelehrte findet sich in einer Widmung des Historikers Harry Bresslau (1848–1926). In seiner Promotionsschrift DieKanzleiKaiserKonradsII. (1869) schreibt Bresslau:

„DemPredigerDr.JuliusPopperinBerlindankbarstzugeeignet.“(Abb. 9)(9)

Bild 8: Titelblatt und Widmung der Dissertation von Harry Bresslau (9).

Diese Widmung, auch in späteren biografischen Arbeiten über Bresslau erwähnt (26), verweist auf eine persönliche Beziehung zwischen beiden.

Harry Bresslau, geboren in Dannenberg an der Elbe, war Historiker und Mediävist. Nach Studien der Rechts‑ und Geschichtswissenschaft wurde er 1869 in Göttingen promoviert, 1872 habilitiert und 1877 zum Professor berufen. Er engagierte sich Jahre später entschieden gegen Antisemitismus in dem von Heinrich von Treitschke (1834–1896) ausgelösten Antisemitismusstreit und trat öffentlich für eine liberale Position im deutsch‑jüdischen Bildungsbürgertum ein (27).

Der Altersunterschied von 26 Jahren schließt eine kollegiale Zusammenarbeit aus, deutet jedoch auf ein Lehrer‑Schüler‑Verhältnis oder eine mentorale Verbindung. Beide waren, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, mit dem Auerbach’schen Waisenhaus in Berlin verbunden – Popper als Lehrer (1841–1853) in seiner Studienzeit und danach, ebenso wie Bresslau als Student (1867–1869). Es ist wahrscheinlich, dass Popper dem jüngeren Wissenschaftler nicht nur diese Lehrposition vermittelte, sondern ihm auch fachlich‑pädagogisch zur Seite stand.

Die Widmung weist über ein reines berufliches Verhältnis hinaus: Sie lässt auf gegenseitige Achtung und intellektuelle Nähe schließen. Popper könnte Bresslau während dessen Studienzeit in Berlin unterstützt und gefördert haben, womöglich als eine Art Mentoroder väterlicher Freund. Da keine eigene Korrespondenz erhalten ist, müsste eine weiterführende Untersuchung auf den Nachlass Bresslaus zurückgreifen, um diese Beziehung präziser zu belegen.

Zusammenfassung

Die vorliegende Untersuchung versucht, das wissenschaftliche Wirken Julius Poppers in seiner Breite und Bedeutung zu würdigen. Trotz der Vielzahl an verfügbaren Quellen bleibt der Zugang zu seinem Werk aufgrund sprachlicher und theologischer Voraussetzungen begrenzt. Ein vertieftes Verständnis seiner altphilologischen Arbeiten setzt Kenntnisse des Hebräischen und Lateinischen voraus, da beide Sprachen für seine Textanalysen zentral.

Die Auswertung sekundärer Dokumente und zeitgenössischer Rezensionen erlaubt dennoch eine differenzierte Annäherung. Julius Popper leistete wesentliche Beiträge zu einer liberalen, sprachwissenschaftlich fundierten Form der Bibelkritik im 19. Jahrhundert. Er verband philologische Genauigkeit mit dem Bestreben, religiöse Texte in ihren historischen, sprachlichen und kulturellen Zusammenhängen zu verstehen.

Seine Werke – die lateinische Dissertation (1854), die Israelitische Schulbibel (1854/1873) und das unvollendete Monotheismus-Projekt (1879) – zeigen die Spannweite seines Denkens: von der exegetisch‑ philologischen Untersuchung über pädagogische Vermittlung bis zur religionsphilosophischen Reflexion.

In der geistesgeschichtlichen Entwicklung des deutschen Judentums des 19. Jahrhunderts nimmt Popper eine Vermittlerrolle zwischen Tradition und Moderne ein. Seine Bestrebungen stehen exemplarisch für die intellektuelle Öffnung des Judentums hin zu einer wissenschaftlich reflektierten Religionsauffassung. Auch wenn sein Leben 1884 vorzeitig endete, hinterließ er ein Werk, das den Übergang von der orthodoxen Gelehrsamkeit zur modernen jüdischen Wissenschaft markiert und ihn als einen Pionier dieser Bewegung ausweist.

Literatur

1. Die Familien-, Ausbildungs- und Berufsgeschichte Julius Poppers findet sich in mehreren Teilen bei www.mittendran.de und bei und in diesem Blog.

2. Die Dissertationsschrift fand sich im Universitätsarchiv von Leipzig in den Promotionsakte unter der Archiv-Nr. Phil.Fak.Prom. 00197. Sie enthielt die Dissertationsschrift und die Gutachten zur Arbeit, nicht allerdings das im Gutachten erwähnte Manuskript von 1843, das Popper auch in seiner Korrespondenz mit Heinrich Ewald nennt.

3. Julius Popper: Der biblische Bericht über die Stiftshütte. Ein Beitrag zur Geschichte der Composition und Diaskeue des Pentateuch. Leipzig, Verlag von Heinrich Hunger 1862.

4. Israelitische Schulbibel und Spruchbuch zum Gebrauch beim israelitischen Religionsunterrichte nebst einem kurzen Abriß der Geschichte der Juden bis auf die heutige Zeit von Dr. Julius Popper. Dessau, Verlag der Hofbuchhandlung von C. Aug. Stange 1854.

5. Hans-Joachim Bechtoldt: Jüdische deutsche Bibelübersetzungen vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Stuttgart, W. Kohlhammer Verlag 2005.

6. Julius Popper: Der Ursprung des Monotheismus. Eine historische Kritik des Hebräischen Alterthums, insbesondere der Offenbarungsgeschichte. Band 1: Kritik der Patriarchengeschichte. Berlin, Carl Heymann´s Verlag 1879.

7. Der Antrag zur Unterstützung einer Forschungsreise nach Palästina befindet sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA) unter der Archiv-Nr. I. HA Rep. 76, Vc Sekt. 2 Tit. XXIII Litt. A, Nr. 2 Bd. 2. 

8. Trau-Rede bei der Vermählung des Herrn Hermann Neubürger mit Fräulein Therese Popper am 4. November 1855, gehalten von Dr. Julius Popper, Prediger und Religionslehrer der israelitischen Cultus-Gemeinde zu Dessau. Dessau, gedruckt von Hermann Neubürger 1955.

9. Harry Bresslau: Die Kanzlei Kaiser Konrads II. Berlin, Verlag von W. Adolf & Comp. 1869 (Dissertationsschrift).

10. Jacob Heinrich Kaltschmidt: Vollständiges stamm- und sinnverwandtschaftliches Gesammt-Wörterbuch der deutschen Sprache aus allen ihren Mundarten und mit allen Fremdwörtern. Nördlingen 1854 – digital in der ETH-Bibliothek Zürich, www.e-rara.ch.

11. Lore Armaleo: Lebenserinnerungen 1913-1933 (unveröffentlichtes Manuskript, Rom 1990, Seite 4).

12. Die fünf Bücher Moses, die Tora, ist ein Teil der jüdischen Bibel (Tanach), aber der Zusammenhang ist komplex und ohne Kenntnis der jüdischen Theologie kaum zu verstehen. Zu den groben Umrissenn siehe die Wikipedia-Definitionen von Tora und Tanach: https://de.wikipedia.org/wiki/Tora bzw. https://de.wikipedia.org/wiki/Tanach.

13. Heinz Knobloch: Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes. Berlin, Jaron Verlag 2005. 

14. Annette M. Böckler, Hrsg: Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn und die Haftarot angelehnt an die Übersetzungen von Simon Bernfeld, Joel Brill, A. Benesch, Schlomo Salman Lipman, Wolff Meir und Josef Weiss. Jüdischer Verlag für Gemeindeliteratur, Books on Demand, Revision 2015.

15. Allgemeine Zeitung des Judenthums, 18. Jahrgang, Nr. 31 vom 31. Juli 1854, Seite 396 und Nr. 39 vom 25. September 1854, Seite 498f.

16. Die Kaufkraft eines Silbertalers (Thaler courant) betrug etwa einem 30-fachen Wert heute, ein Goldtaler war 5 Silbertaler wert. Die Kaufkraft historischer Währungen (Taler, Gulden, Reichsmark, D-Mark) lässt sich über Tabellen des Bundesbank bestimmen. 

17. Die Berichte Baruch Auerbachs über sein Waisenhaus zwischen 1836 und 1860 sind digital zugänglich in der Universitätsbibliothek Frankfurt (Compact Memory), darüber hinaus als Druckerzeugnisse im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin Dahlem (Archiv Nr. I. HA Rep. 76, VII neu Sekt. 14A Teil IV, Nr. 12, Band 1 und 2).

18. Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA), Archiv Nr.  XIC Nr. 7: Brief der Israelitischen Kulturgemeine an das Konsistorium vom 29. November 1859.

19. Zu den sogenannten Göttinger Sieben, die 1837 gegen die Aufhebung der 1833 eingeführten liberalen Verfassung im Königreich Hannover protestierten, gehörten neben den Gebrüdern Grimm auch Heinrich Ewald: https://de.wikipedia.org/wiki/Göttinger_Sieben

20. Eduard von Hartmann: Ausgewählte Werke, Band V:  Religionsphilosophie. Das religiöse Bewusstsein der Menschheit. Leipzig, Verlag von Wilhelm Friedrich 1888 (Zweite Auflage).

21. Die Briefe an Briefe an Heinrich Ewald und Paul de Lagarde befinden sich im Universitätsarchiv Göttingen unter den Archiv-Nummern COD. Ms. Ewald 41: 2, BI. 1145-6 bzw. COD. Ms. Lagarde 150: 929.

22. In den digitalisierten Beständen der Bayrischen Staatsbibliothek (Münchner Digitalisierungszentrum, MDZ) und der Judaica-Abteilung der Frankfurter Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg allein finden sich zahlreiche zeitgenössische Reviews und Verweise auf die Publikationen Poppers.

23. Die Briefe an Eduard Bachofen fanden sich in der Universitätsbibliothek Basel unter der Signatur NL 3 272.228, 229 und 230, als  Digitalisate: https://doi.org/10.7891/e-manuscripta-774967754877549.

24. Zur Geschichte der Matriarchatstheorien einst und heute siehe: Wikipedia. Es gibt eine aktuelle Diskussion über matriarchale Wurzeln des Judentum (z.B. Doris Wolf: Vom Ur-Matriarchat zur Diktatur des Patriarchats; Marie-Theres Wacker: Matriarchale Bibelkritik – ein antijudaistisches Konzept? Manes Kartagener: Über Spuren und Reste des Matriarchats im Judentum; Rachel Monika Herweg: Die jüdische Mutter – Das verborgene Matriarchat), aber das führt hier zu weit.

25. Zur Geschichte des Druckers Hermann Neubürger und dessen Familie siehe Teil 3 der Familiengeschichte Popper im Blog von www.mittendran.de und in diesem Blog.

26. Peter Rück, Erika Eisenlohr, Peter Worm, Hrsg.: Abraham Bresslau (1813-1884): Briefe aus Dannenberg, 1835-1939. Mit einer Einleitung zur Familiengeschichte des Historikers Harry Bresslau (1848-1926) und zur Geschichte der Juden in Dannenberg. Witten-Annen, DIP Digital Print 2007.

27. Walter Boehlich, Hrsg.: Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt, Insel Verlag 1965.

Zehn neue Stolpersteine

Ein Beitrag von Klaus Brenneisen

Wenige Wochen, bevor sich die Reichspogromnacht am 9. November zum 87. Mal jährt, wurden vor den Häusern Kurfürstenstr. 125 und 126 fünf Stolpersteine verlegt. Erinnert wird an die vierköpfige Familie Baumgarten, die Deutschland fluchtartig verlassen hatte. Die Eltern mit dem älteren Sohn Walter flohen 1938, im Jahr des Novemberpogroms, mit Ziel Chile via Holland. Der jüngere Sohn Herbert floh schon 1933, zunächst in die Schweiz, dann in die Niederlande, wo er 1939 den Tod fand.

Die mit vier Stolpersteinen dokumentierte Flucht der Familie Baumgarten ©KB

Ein einzelner Stein steht für Georg Goldberg, 1944 von dort deportiert und in Auschwitz ermordet.

Vor Hausnummer 125, Stolperstein für Georg Goldberg ©KB

Weitere fünf Steine hätten vor Hausnummer 124 am 29. Oktober 2025 verlegt werden sollen, für die Familien Sommerfeld und Grodka, die familiär miteinander verbunden waren. Jedoch kam es dazu nicht. Vergeblich wartete eine kleine Gruppe von acht Leuten, durch Aushänge informiert, auf den Beginn der Zeremonie. Auch der Kleinlaster mit den fünf Steinen war bereits vor Ort. Tatsächlich kam es erstmals zu einem Ausfall, durch eine „Verkettung unglücklicher Umstände“, wie auf Nachfrage aus dem Museum Tempelhof-Schöneberg zu erfahren war. Ein zeitnahes Nachholen der Aktion wurde angekündigt.
Allerdings hätte der Zeitpunkt für die beabsichtigte Verlegung nicht ungünstiger sein können. An eben diesem Morgen begannen dort laute Straßenbauarbeiten mit erheblicher Verengung des Gehsteigs.

Straßenbauarbeiten an der Kurfürstenstraße ©KB

Eine besondere Brisanz erhält die Verlegung zahlreicher Stolpersteine an diesem Ort durch die unmittelbare Nähe zur NS-Behörde, die sich 150 Meter von dort entfernt befand: Die Kurfürstenstr. 116 war Sitz des Judenreferats des Reichssicherheitshauptamts, von wo aus Adolf Eichmann die Deportation europäischer Juden in die Vernichtungslager organisierte.

Die noch zu verlegenden Stolpersteine vor der Kurfürstenstraße 124 © Museen Tempelhof-Schöneberg

Stolpersteine geben den Opfern Namen und geben ihnen einen Teil ihrer Würde zurück. Und sie helfen, die Erinnerung an diese einmaligen Verbrechen wach zu halten.

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 6)

Wir hatten früh vermutet, dass der „andere Theo“ in Simon Mays Geschichte der Familie Liedtke (1) zur gleichen Familie gehörte (mittendran vom 21. April 2025), und hatten in einer weiteren Folge (mittendran am 24. Mai 2025) dies auch belegen können. Im weiteren Verlauf der Recherche sind jetzt Unterlagen aufgetaucht zu Beiden, die eine Fortsetzung der Geschichte rechtfertigen.

Der eine Theodor Liedtke, geboren 1885 in Christburg, Westpreußen, ist ein Großonkel von Simon May, Bruder seines Großvater Ernst Liedtke; er kam 1910 nach Berlin. Der andere Theodor Liedtke, geboren am 1887 in Berlin, ist ein Urgroßonkel von Simon May, Bruder seines Urgroßvaters Meyer Liedtke aus Christburg; seine Familie kam bereits 1886 nach Berlin.

Die beiden Theodor wurden und werden in der Gedenkliteratur manchmal verwechselt (2), auch weil ihr weiteres Schicksal, die Deportation und Ermordung im Konzentrationslager in Auschwitz, ungefähr zur gleichen Zeit (Frühjahr 1942) erfolgte. Erst vor wenigen Tagen gefundene Unterlagen erlauben es uns nun, jedem der beiden Theodors eine eigene Geschichte zu widmen.

Großonkel Theodor Liedtke (1885-1943)

Theodor Liedtke kam 1910 gemeinsam mit seiner Mutter Clara Liedtke nach  Berlin, nachdem deren Ehemann in Christburg verstorben war. Theodor blieb zeitlebens Junggeselle; gelegentlich (1912, 1922) wohnte er bei seiner Mutter in Wilmersdorf (Jenaerstraße 2), und insbesondere 1934 bis 1937 nach deren Tod 1933. Ausweislich der Familiengeschichte (1) war er Angestellter beim Warenhaus Tietz an der Leipziger Straße, aber leider gibt es darüber keinerlei Personalunterlagen, so dass wir über seine eigentliche kaufmännische Berufstätigkeit nichts wissen – ob er Einkäufer oder Verkäufer war und ob er zwischenzeitlich außerhalb Berlins tätig war – es gibt einige Jahre (1913-1916, 1918, 1920, 1922), in denen er im Adressbuch nicht gelistet ist, aber es könnte sich auch um Jahre mit Umzug handeln, die in den Adressbüchern oft ungenau gelistet sind. Von 1923 bis 1934 wohnte er in Schöneberg in der Martin-Luther-Straße 43.

In der Familiengeschichte war bekannt, dass Clara Liedtke in Berlin eine Haushaltshilfe namens Hedwig Kuss beschäftigte, die dem Sohn sehr ergeben war. Über diese Hedwig Kuss hatten wir bis vor Kurzem keinerlei Informationen, und ohne ein Geburtsdatum und einen Geburtsort nützt ein Name sehr wenig in einer Recherche. Jetzt fanden wir in den Entschädigungsakten für Ernst Liedtke (3), die wir im Teil 5 der Geschichte diskutiert hatten (mittendran vom 26. Oktober 2025) einen Brief von ihr aus dem Jahr 1956, in dem sie ihre Erinnerungen an die Verhaftung von Theodor Liedtke 1942/3 schilderte und gleichzeitig ihr Geburtsdatum angab. Das erlaubte uns nicht nur, ihre Herkunft zu ermitteln, sondern auch einige Daten zum Verbleib von Theodor Liedtke zu verifizieren.

Hedwig Kuss (1883-1957) aus Cöslin

Hedwig Wilhelmine Emilie Kuss wurde am 28. Februar 1883 in Köslin (Pommern) (heute: Koszalin, Polen) als jüngstes von drei Kindern (zwei Mädchen) des Arbeiters Hermann Martin Kuss und dessen Ehefrau Therese Albertine Auguste, geborene Fritze geboren (Bild 1). Vermutlich war sie schon vor der Anstellung bei Clara Liedtke 1909 in Berlin; die Berliner Dienstmädchen kamen vorwiegend aus Schlesien und Pommern auf der Suche nach Anstellung nach Berlin, da es in ihren Heimatorten wenig Möglichkeit des Verdienstes gab, gingen aber aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeiten u nd geregelter Arbeitszeit oftmals in die Industrie (4).

Bild 1: Geburtsurkunde der Hedwig Kuss aus Cöslin 1883 (heute: Koszalin, Polen).

Hedwigs Brief vom 29. Februar 1956

Der folgende Brief ist handschriftlich von Hedwig Kuss verfasst worden (Bild 2) und hier transkribiert wiedergegeben, einschließlich der orthografischen „Eigenheiten“ und Fehler der Verfasserin. Der Brief erwähnt einige bislang unbekannte Details, wirft aber auch ein paar Fragen auf.

Vom 31. Januar 1909 war ich als Hausangestellte bei der am 21.3.1933 verstorbenen Frau Clara Liedtke (Jüdin) damals wohnhaft Berlin Wilmersdorf Jenaerstr. 2. Nach dem Tode führte ich ihrem Sohn, Theodor Liedtke, bis zum Jahre 1938 die Wirtschaft. Da dann durch die Nazis den Juden die Wohnungen genommen wurden, übernahm ich die Wohnung Kaiser Allee 24, da ich seiner Mutter versprochen hatte, ihren Sohn nicht zu verlaßen, sie ahnte damals schon, was den Juden bevorstand, behielt ich Theo Liedtke, trotz aller Schikanen des Nazis, bis zum 15.4.42 in meiner Wohnung. Sein Bankguthaben und Wertpapiere beschlagnahmte die Gestapo am 27.5.37. Wir haben davon nichts wiedergesehen. Am 15.4.42 zog er zu jüdischen Leuten, wie ja wohl noch bekannt ist, müßte von dem Tag an, der sogenannte Juden Stern an den Wohnungstüren, wo Juden wohnten, angebracht sein. Trotz meines Protestes zog er zum Viktoria Luisepl. dort wurde er am 27.5.42 abgeholt und ins Konzentrations geschleppt, dort ist er am 21.11.42 umgebracht.

Herr Rechtsanwalt Liedtke, der älteste Sohn der Frau Clara Liedtke, ist durch die Aufregungen am 17.12.33 verstorben. Mit Frau Emmi Liedtke und deren Töchter halte ich bis jetzt weiter die Verbindung aufrecht und mir ist daher bekannt, daß diese großen Schikanen ausgesetzt waren.

Hedwig Kuss, geboren am 28.2.83

Berlin Wilmersdorf, Bundesallee 24r

Bild 2: Handschriftliche Aussage von Hedwig Kuss zur Verhaftung von Theodor Liedtke 1942; siehe Text für die Transkription (aus: (3)).

Zunächst ein paar ergänzende Informationen: Theodor Liedtke wohnte nach dem Tod seiner Mutter 1933 bis 1937 in deren Wohnung in der Jenaerstraße 2, und von 1938 bis 1942 ist er mit der Adresse Kaiserallee 24 (heute: Bundesallee) im Adressbuch. In all diesen Jahren war Hedwig Kuss nicht im Adressbuch eingetragen, da sie offensichtlich keinen eigenen Haushalt führte, sondern bei Clara Liedtke wohnte und arbeitete. Das war durchaus üblich, Haushaltsangestellte (Dienstmädchen), die im Haushalt wohnten, hatten keine Meldepflicht, sondern führte ein Gesindebuch, in dem die Polizei bei einem Stellenwechsel die neue Adresse eintrug.

Im Adressbuch taucht Hedwig Kuss erstmals 1942 und mit der Adresse Kaiserallee 24 (heute: Bundesallee) auf, im gleichen Jahr ist dort auch Theodor Liedtke gemeldet (Bild 3). Wenn wir davon ausgehen, dass das Adressbuch jeweils Änderungen vom Vorjahr abbildete, müsste Hedwig Kuss die Wohnung im Verlauf des Jahres 1941 übernommen haben, so dass Theodor 1941 und 1942 nicht mehr als Bewohner ausgewiesen gewesen war, jedenfalls nicht mehr an der Haustür, offenbar jedoch noch im Adressbuch. Ob ihn dies geschützt hat, ist unsicher, weil er bereits im April 1942 umzog in einen jüdischen Haushalt am Viktoria-Luise-Platz; die Familiengeschichte (1) berichtet von möglicher Denunziation durch Hausbewohner. Es ist auch unklar, ob es sich bei der Wohnung am Viktoria-Luise-Platz um ein sogenanntes „Judenhaus“ handelte, in dem jüdische Familien und Einzelpersonen kaserniert wurden, bevor sie deportiert wurden – unter den mehr als 700 „Zwangsräumen“ in Berlin (5) ist keine am Viktoria-Luise-Platz, aber 85 jüdische Personen wohnten unter dieser Adresse (6), die meisten (21) am Viktoria-Luise-Platz 1. Judenhäuser gab es hingegen in unmittelbarer Nähe, in der Welserstraße 3 und 4.

Bild 3. Adressbucheinträge für die Kaiserallee 24 (heute: Bundesallee) in den Jahren 1938 bis 1943.

Von dort wurde er bereits am 27. Mai 1942 abgeholt; wohin er von dort gekommen ist, ist der Schreiberin offenbar nicht klar, sie spricht vom Konzentrationslager, in dem er dann umgebracht worden sei. Die Familie – und wohl auch Hedwig Kuss – dachte lange, er sei im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg umgekommen, aber dem war nicht so: Die Unterlagen von Sachsenhausen weisen keinen Gefangenen namens Theodor Liedtke auf, weder diesen noch den „anderen Theo“. In der Entschädigungsakte von Emmy (3) erklärt sich die Geschichte anders an: Emmy berichtete im Jahr Februar 1956, dass ihr 1942 mitgeteilt worden sei, Theo sei im Konzentrationslager Buchenwald verstorben, und sie wurde aufgefordert worden, Theos Notizbuch, Uhr und Ausweis im Polizeipräsidium am Alexanderplatz bei der Gestapo abzuholen (Bild 4). Er war also vermutlich nach seiner Verhaftung von dort aus, möglicherweise über Buchenwald, nach Auschwitz deportiert worden und dort am 1. März 1943 ermordet worden.

Bild 4: Passage aus dem Entschädigungsantrag von Emmy Liedtke (3) bezüglich der Verhaftung ihres Schwagers Theodor Liedtke.

Wie Simon May berichtet (1), hatte Hedwig nachhaltig versucht, Theo vor den Nazis in Sicherheit zu bringen, ihn zu veranlassen, das Land zu verlassen, aber vergeblich: Theo war nach dem Tod seines Bruders Ernst unschlüssig und unsicher, und er hatte wohl auch nicht die nötigen Mittel. Hedwig Kuss hielt auch nach Theos Deportation den Kontakt zur Familie Liedtke und sagte 1956 im Entschädigungsverfahren aus – sie wohnte zu diesem Zeitpunkt immer noch an der gleichen Adresse Kaiserallee 24. Sie wurde am 13. Juni 1957 tot in ihrer Wohnung aufgefunden: Tag und Stunde des Todes sind unbekannt (Bild 5).

Bild 5: Sterbeurkunde (Auszug) der Hedwig Kuss von 1957.

Literatur

1. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.

2. Christoph Kreutzmüller. Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 bis 1945. Metropol Verlag, Berlin 2012

3. Akte im Entschädigungsamt Berlin Nr. 212.762.

4. Violet Schultz: In Berlin in Stellung: Dienstmädchen in Berlin um die Jahrhundertwende. Edition Hentrich, Berlin 1989.

5. https://zwangsraeume.berlin/de/houses

6. https://www.mappingthelives.org/?language=de

Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 6)

Im Jahr 1862 war Julius Popper zurück in Berlin, das er zehn Jahre zuvor verlassen hatte, um seine erste Stelle als Prediger in der jüdischen Gemeinde von Dessau anzutreten. Er brachte seine Frau Laura und zwei kleine Kinder, Georg und Martin, mit und trat eine Stelle als „Prediger und Dirigent der Religionsschule der jüdischen Reformgemeinde Berlin“ an (Bild 1), die nicht nur erheblich besser bezahlt wurde als seine vorigen Stellen in Dessau und Stolp, sondern die auch hinsichtlich der damit verbundenen Reputation deutlich besser ausgestattet war: Im Schreiben mit der Stellenzusage vom 23. April 1862 (1) wurde ihm zugesichert, erster Prediger der hiesigen jüdischen Gemeinde zu sein, allerdings im Falle, dass die Gemeinde die hiesiger Rabbiner-Stelle besetzt würde, hinter diesem an zweiter Stelle in der Rangordnung zu stehen. Zu seiner Berufstätigkeit demnächst mehr.

Bild 1: Adressbuch-Einträge für Julius Popper 1863 bis 1870

Im Jahr 1863 hatte die Familie ihre erste Wohnung in der Oranienburger Straße 24, am Durchbruch zur neu entstehenden Krausnickstraße mit der Hausnummer 1/2; beide Eckhäuser waren gerade erst fertiggestellt worden. Zwei Jahre später waren sie umgezogen in die Krausnickstr. 3, wo die Familie bis 1868 blieb. Im Jahr 1870 schließlich (das Jahr 1869 fehlt bei den Adressbüchern) wohnten sie wiederum in der Oranienburger Straße 12 zur Miete, und 1873 endlich bezogen sie ein Haus in der Krausnickstraße 16, das 1872 gekauft worden war; dort blieb die Familie bis 1898. Alle vier Wohnhäuser, in denen die Familie lebte, waren innerhalb eines sehr kleinen Bezirks der Stadt (Bild 2), sind heute noch erhalten und stehen unter Denkmalschutz; sie gehören zur Spandauer Vorstadt und befinden sich in unmittelbarer Nähe zur 1866 eingeweihten „neuen Synagoge“ in der Oranienburger Straße (Bild 3).

Bild 2: Wohnungen der Familie Popper in der Spandauer Vorstadt in der Reihenfolge des Bezuges (s. Text) (Sineck-Situationsplan von 1871 mit Markierungen des Autors).

Wir hätten sehr gern die Bauakte des Hauses Krausnickstraße 16 eingesehen und ausgewertet, aber leider sind nahezu alle Bauakten der Krausnickstraße im zweiten Weltkrieg vernichtet worden. Einige Informationen zum Haus haben wir dennoch gefunden: Seit mehr als 300 Jahren, genauer seit 1712, mussten in Preußen bzw. dem Deutschen Reich alle Häuser von einer – seinerzeit staatlichen – Feuerversicherung, der sogenannten Feuersocietät, gegen Brandschäden versichert werden (2). Diese Versicherung war obligatorisch geworden nach mehreren verheerenden Stadtbränden. Die Feuersocietäthatte seit ihrem Bestehen alle Häuser der Stadt registriert, Eigentümer und Eigentumswechsel dokumentiert und im Hinblick auf die Art und Ausstattung den Wertes des Hauses – ohne den Bodenwert, der ja bei einem Brand erhalten blieb – und die Versicherungsprämie festgelegt. Diese Register sind erhalten geblieben und liegen heute als Mikrofilme vor (3); die Krausnickstraße war darin enthalten. 

Bild 3: Die Neue Synagoge in der Oranienburgerstraße (Aufnahme um 1870, unbekannter Fotograf, Architekturmuseum der TU Berlin, Inv. Nr. F 6897, gemeinfrei)

Das Wohnhaus in der Krausnickstraße 16

Das Haus Krausnickstraße 16 (Bild 4) war in den Jahren 1862 und 1863 gebaut worden, wie die meisten Häuser dieser Straße, die erst wenige Jahre zuvor geplant und parzelliert worden war. Namensgeber war nicht der Ort Krausnick im Dahme-Spreewald, sondern der langjährige (1834-1848, 1850-1862) Oberbürgermeister und Ehrenbürger von Berlin, Heinrich Wilhelm Krausnick (1797-1882) (4). Ihre Benennung und Nummerierung erfolgten 1861 (5). Im Adressbuch war die Straße ab 1862, im Jahr 1863 befanden sich die meisten Häuser, auch die Nr. 16, noch im Rohbau. Der Bauherr und erste Besitzer war ein Architekt, Carl Ferdinand Böhme (manchmal auch Böhm geschrieben), der das Haus vermutlich selbst geplant hatte und dort bis 1872 wohnte und als Eigentümer eingetragen war (Bild 5). In diesem Jahr verkaufte er das Haus an Julius Popper. 

Bild 4: Aufnahme der renovierten Fassade des Hauses Krausnickstraße 16 (© PE 2025).

Das Haus hatte eine Grundfläche von 17,9 x 18,3 Meter, also ungefähr 320 Quadratmeter (qm), von denen man einen kleinen Innenhof von 5,2 x 5,6 Meter (29 qm) abziehen kann. Das Haus hatte auf der Straßenseite und den beiden Seitenflügeln vier Geschosse, nur das Quergebäude im hinteren Teil hatte 3 Stockwerke. Mithin war die gesamte Wohnfläche, einschließlich Treppenhäuser, zwischen 1000 bis 1200 qm und war damit ausreichend für acht bis zehn Parteien. Geht man davon aus, dass der Eigentümer üblicherweise im Erdgeschoss wohnte, müssten die übrigen Parteien das Haus auf drei Etagen bewohnt haben – meist waren dies Einzelpersonen und Familien.

Bild 5: Adressbuch-Einträge für die Krausnickstraße 16 in den Jahren 1863 und 1864.

Der Kaufpreis liegt uns nicht vor – dazu müsste man das Grundbuch, das früher auch Hypothekenbuch genannt wurde, einsehen, das es auch nicht mehr gibt; wir wissen daher auch nicht, wie der Architekt Böhme und insbesondere wie Julius Popper den Kauf finanziert hatten, aber wir haben zumindest eine Idee von den Kosten: Vergleichbare Häuser in der Krausnickstraße, die um diese Zeit auf dem Immobilienmarkt angeboten wurden, sprachen von einem Kaufpreis von 65.000 Taler (Bild 6). Zieht man von diesem Preis den Versicherungswert eines Hauses ab, erhält man den ungefähren Bodenwert. Den Versicherungswert wiederum listet das Register der Feuersocietät, das auch die oben angegebenen Hausmaße dokumentierte.

Bild 6: Anzeige in der Berliner Börsenzeitung vom 16. Januar 1873.

Als Architekt Böhme das Haus zum ersten Mal versicherte (30. März 1863), lag der Versicherungswert bei 19.000 Taler, was einer heutigen Kaufkraft von etwa 680.000 € entspräche (6). Zehn Jahre später, beim Kauf durch Julius Popper im Mai 1872, war der Wert auf 32.000 Taler gestiegen (Kaufkraft-bereinigt 790.400 €). Versichert waren damit das aus vier Teilen bestehende Wohngebäude (Vorderaus, zwei Seitenflügel, Quergebäude), das Mosaikpflaster im Hofe sowie einige Einrichtungen, wie z.B. ein Toilettenhaus im Hof (Kanalisation gab es erst nach 1871), ein massiver Aschkasten für die Heizungsanlage, eine eiserne Gitteranlage, vermutlich an der Front-Fenstern, eine eiserne Druckpumpe (?), und die Gas- und die Wasserleitungen. 

Ein 1873 in der Krausnickstraße angebotenes Haus vergleichbarer Größe sollte 65.000 Taler kosten, was zeigt, dass der Bodenwert etwa die Hälfte des Preises ausmachte, die andere Hälfe des Wertes war die Ausstattung der Immobilie. In besagter Anzeige wird die jährliche Mieteinnahme des Hauses mit 4.000 Taler angegeben, was uns eine Idee davon gibt, wieviel eine Wohnfläche von 300 qm (eine Etage, inklusive Treppenhaus) an Miete erbrachte:  Etwa 1000 Taler im Jahr, zumindest in der Krausnickstraße; es war schließlich eine Wohnung im Berliner Norden, dem traditionellen Arbeiterviertel der Stadt, wo 300 qm im Mittel von 2 bis 3 solventen Mietparteien bewohnt wurden: Kaufleute, Militärs, Fabrikanten, Handwerker, aber auch Beamte und Witwen. Nach Umstellung der Währung von Taler auf Mark (Reichsmark) im Verhältnis 1:3 im Jahr 1873 war der Versicherungswert des Hauses Krausnickstraße 16 am 1. Oktober 1873 nicht mehr 3 x 32.000 = 96.000 Mark, sondern bereits auf 137.100 Mark gestiegen (entspricht 1 Million € heute) (Bild 7), wovon die Wohngebäude wiederum 129.000 Markt (95%) ausmachten: die Preise für Häuser, Wohnungen und Mieten stiegen nach der Reichsgründung 1871 entsprechend dem Bevölkerungszuwachs an, wurden aber auch getrieben durch Spekulationen.

Bild 7: Eintrag des Hauses Krausnickstraße 16 im Registerbuch der Feuersocietät mit Angabe des Versicherungswertes des Hauses und seiner Teile in Taler und ab 1873 in Mark (aus: (3), der ausgeschnittene Teil in der Mitte beruht auf einem technischen Problem mit dem Mikrofiilm)

Wo und wie wohnte die Familie Popper? 

Der häufige Wohnungswechsel zu Beginn des Berlin-Aufenthaltes, den die Familie Popper machte, ist Hinweis auf eine zunächst eher instabiles finanzielles Polster. Außerdem zogen sie 1862 in einen Neubau, und die nicht nur in Berlin übliche geringere Miete in neuen Mietshäusern, die unter dem Begriff „Trockenwohnen“ bekannt geworden ist und unter dem auch Theodor Fontane (1819-1898) gelitten hat (7), mag dies unterstreichen. Andererseits wohnten sie von Anbeginn an in einer aufstrebenden Gemeinde, der Spandauer Vorstadt, die durch den Neubau der Synagoge an der Oranienburger Straße (siehe Karte in Abbildung 2) für viele jüdische Familien attraktiv geworden war – dies war nicht mehr das traditionelle jüdische Scheunenviertel (8), das vor allem durch Armut geprägt war. Die räumlich Nähe zum jüdischen Krankenhaus, zum jüdischen Waisenhaus und zum jüdischen Friedhof hat für Julius Popper sicher bei der Wahl eine Rolle gespielt, und auch bei der Entscheidung, in diesem Viertel zu bleiben. 

Den Eindruck eines gutbürgerlichen Hauses mit solventen, wenngleich sicherlich nicht reichen Mietern gewinnt man auch bei Durchsicht der Bewohner des Hauses Krausnickstraße 16 im Adressbuch Berlins für die Jahre 1872 und 1873: es handelt sich um den einen oder anderen Fabrikanten, aber vorwiegend um Kaufleute. Julius Popper war allerdings der einzige akademisch gebildete Bewohner des Hauses, und auch die übrigen Häuser der Straße hatten wenige Beamte und Akademiker. 

1872: Böhm (Eigentümer), 9 Parteien: Auerbach, Witwe; Braumüller, Leutnant; Hirschberg, Kaufmann; Le Seur, Schauspielerin; Norrenberg, Kaufmann; Schumacher, Kaufmann; Sponnagel, Kaufmann; Wehner, Executor.

1873: Popper (Eigentümer), 8 Parteien: Auerbach, Fabrikdirektor; Braumüller, Premier- Leutnant; Engel, Getreidehändler; Hirschberg, Kaufmann; Meyer, Buchhändler; Marienberg; Lackfabrikant; Schumacher, Kaufmann.

Gemessen an seinem Einkommen als Prediger war Julius mit einem Anfangsgehalt von 1300 Talern im Jahr keineswegs reich; sein Gehalt entsprach aber dem eines technischen Angestellten in der Industrie, dem Anfangsgehalt eines Assistenzarztes im Krankenhaus oder im Gewerkschaftskrankenverein, und dem Gehalt eines von der Stadt bezahlten Armenarztes (9); Theologen, jüdische wie christliche, hatten es immer schwer, nach dem Studium eine Stelle zu finden, und mussten oftmals als Privatlehrer auf eine Stelle warten. Anders als im Handwerk und im Handel sind die Möglichkeiten des Zuverdienstes bei Akademikern, mit Ausnahme der Ärzteschaft, zudem eher beschränkt.

Dass er sich nach nur wenigen Jahren ein Wohnhaus für 8 bis 10 Parteien kaufen konnte, auch wenn dies Hypotheken-belastet war, spricht für einen gesunden ökonomischen Sinn und für ein erhebliches Maß an Sparsamkeit, die erst seinen Nachkommen zugutekamen: der Wert von Immobilien zeigt sich – damals wie heute – erst wenn man sie verkauft und die Wertsteigerung realisiert. Die Gebrüder Martin und Georg Popper verkauften das Haus im Jahr 1898 für eine uns nicht bekannte Summe, die sich sicherlich gegenüber dem Wert im Jahr 1873, den wir mit 137.000 Reichsmark beziffert haben, nach 25 Jahre mindestens verdoppelt haben müsste und dann einem Kaufkraft-Äquivalent von mehr als 2 Millionen € entsprochen hätte.

Literatur

1. Dokumenten im Familienbesitz der Nachkommen von Julius Popper

2. https://de.wikipedia.org/wiki/Feuersozietät

3. Akte im Landesarchiv: A Rep. 180 Nr. 47 (Microfilm).

4.https://www.deutsche-biographie.de/gnd116400536.html – ndbcontent

5. Akte im Landesarchiv Berlin: Pr. Br. Rep. 30 Nr. 17865

6. Deutsche Bundesbank: Kaufkraft-Äquivalente historischer Beträge in deutschen Währungen.

7. Werner Klümmer: Fontanes Berliner Wohnstätten. In: Theodor Fontane. Wie man in Berlin so lebt. Aufbau Verlag Berlin 2018, Seite 221-259.

8. Rainer Haubrich: Das Scheunenviertel. Insel Verlag Berlin 2019.

9. Paul Enck, Gunther Mai, Michael Schemann: Die Familie Lüderitz. Geschichte und Geschichten aus drei Jahrhunderten. Hayit Verlag Köln 2024 (2. Aufl.), Seite 23.

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 5).

Wie in vielen Familiengeschichten, die hier erzählt wurden, ist auch bei der Familie Liedtke festzustellen, dass die Ehefrau des Rechtsanwaltes Ernst Liedtke, Emmy Liedtke geborene Fahsel-Rosenthal (siehe Teil 4) in den Dokumenten, die sich in Archiven finden lassen, kaum präsent ist – in Adressbüchern und offiziellen Dokumenten werden meist nur die Haushaltsvorstände genannt. Sie hatte drei Töchter in die Welt gesetzt, die zu Vertreterinnen jener Generation selbstbewusster junger Frauen in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts heranwuchsen, die ihre Spuren hinterlassen haben, nicht nur in den Erinnerungen und Reflektionen von Simon May, dem Sohn einer dieser drei. Er hat über seine Großeltern Ernst und Emmy, über seine Mutter Marianne und deren Schwestern Ursula und Ilse – und deren Überleben in den Zeiten des Nationalsozialismus – ein eindrucksvolles Buch geschrieben hat (1) (Bild 1), mit vielen familiären Details, die sich normalerweise dem historisch Interessierten entziehen. 

Bild 1: Ernst Liedtke mit seinr Ehefrau Emmy (2. v.l.) und seinen drei Töchtern um 1925 (aus dem Familienarchiv mit freundlicher Genehmigung)

Spuren der Töchter finden sich aber auch in Dokumenten und Geschichten von Zeitgenoss*innen (2, 3). Aber wie wir eingangs unserer Geschichte (s. Teil 1) gesagt haben, wollten wir vor allem Lücken nachspüren, die uns bei der Lektüre aufgefallen waren. Eine dieser Lücken war die Frage, was eigentlich mit Emmy passierte, nachdem ihr Mann früh verstorben war; Emmy war 1933, als ihr Mann starb, erst 42 Jahre alt. Dieses Kapitel der Familiengeschichte soll daher ausschließlich Emmy Liedtke gewidmet sein und Informationen zusammentragen, die wir jenseits des Buches von Simon May den Archiven und historischen Quellen entnehmen konnten.

Eine „öffentliche“ Emmy

Nach dem Tod ihres Ehemannes Ernst Liedtke, der am 17. Dezember 1933 quasi vor der Haustür zusammenbrach und starb, lebte Emmy bis 1936 weiter im Blumeshof 12, und als Witwe wird sie nunmehr auch im Adressbuch genannt (Bild 2). Ebenfalls unter dieser Adresse wird ab 1934 ihre Tochter Ilse genannt, die in der großzügigen Wohnung (8 Zimmer, um die 400 qm) offenbar ihr Fotostudio betrieb. Dazu ein andermal mehr.

Bild 2: Adressbucheinträge 1934 bis 1938.

1935 und 1936 finden wir beide in der Kurfürstenstraße 114. Im Jahr 1937 wohnte Emmy kurzzeitig in der Fasanenstraße 5, aber in diesem Jahr muss sie ein Haus in Zehlendorf (Wilskistraße 2) gekauft haben, in dem sie dann bis zu ihrem Tod 1965 lebte. Auch das Fotostudio von Ilse Liedtke wird dort gewesen sein, das sich 1941 bis 1943 in der Budapester Straße fand, in dem Haus, in dem Emmys Mutter Adele Fahsel im Jahr ihres Todes wohnte (siehe Teil 4). Das Haus in der Wilski-Straße – benannt nach dem Architekten Ernst Wilski, 1850-1929; von 1927 bis 1934 hieß die Straße Schlieffenstraße – war zwischen 1925 und 1930 gebaut worden und gehörte zuvor einer Archivarin. Nach Emmys Tod 1965 erbte ihre Tochter Ilse das Haus und lebte dort bis zu ihrem Tod 1985.

Überraschend nicht nur für uns, sondern auch für die Nachkommen der Familie Liedtke war dann der Fund einer Handelsregister-Akte im Landesarchiv Berlin (4), die Emmy Liedtke als Geschäftsfrau auswies: Im Jahr 1936 gründete sie zusammen mit einem Geschäftspartner die Firma „ROTEX Gesellschaft Liedtke & Co.“ (Handelsregister Nr. 94235, Antrag vom 5. Februar 1936) (Bild 3). Betriebsgegenstand war der Vertrieb und Export einer patentierten Haarschneidemaschine, die in Hannover hergestellt wurde. Als Geschäftslokal war die Adresse Joachimsthalerstraße 10 angegeben, wo es zwei Büroräume gebe und ein bis zwei Angestellte. Die Miete betrage 80 Mark/Monat und das Betriebskapital 20.000 Mark bei einem Eigenkapital von 150.000 Mark. Unter diese Adresse findet sich in den Adressbüchern die Firma ROTEX jedoch nur im Jahr 1937; 1938 ist die ROTEX in der Budapester 43, und 1939 ist der Firmenname dort „Liedtke & Co. Friseurbedarf“ (siehe Bild 2). Danach findet sich die Firma nicht mehr im Adressbuch von Berlin, aber ab 1941 ist das Fotostudio von Ilse Liedtke unter der gleichen Adresse – sicherlich kein Zufall. 

Bild 3: Firmengründung der Firma ROTEX (oben, aus (4)), Adressbucheinträge und Löschungsnotiz der Firma im Deutschen Reichsanzeiger vom 7. April 1938.

Der unbekannte Geschäftspartner

Ihr Geschäftspartner bei der ROTEX war der Architekt Ernst Michel, geboren am 8. Februar 1882 in Berlin, der zu diesem Zeitpunkt in der Holsteinerstraße 21 (heute Holsteinische Straße in Friedenau) wohnte. Wir konnten ihn schnell ausfindig machen: Er war der Sohn des jüdischen Kaufmanns Louis Michel und dessen Ehefrau, Fanny Michel geborene Wertheim. Ernst Michel hatte am 25. Januar 1915 in Berlin die 1883 in London geborene Kunstgewerblerin Elsa Steel geheiratet. Er wohnte seit 1916 in der Holsteinerstraße 21, davor und seit 1911 in Schöneberg in der Meraner Straße. Bislang ist unbekannt, ob es aus dieser Ehe Kinder gab.

Das ROTEX Geschäft lief nicht besonders gut: In den ersten 18 Monaten (Januar 1936 bis Juni 1937) betrug der Umsatz nur 15.884 Mark. Daraufhin beantragte die Industrie- und Handelskammer im Juli 1937 die Löschung der Firma. Ein Widerspruch gegen diese Löschung (Begründung: Mangel an Stahlrohren) hatte aufschiebende Wirkung bis März 1938. Zu diesem Zeitpunkt schied Ernst Michel aus der Firma aus, und Emmy wurde alleinige Inhaberin. Sie beantragte die Löschung der Firma am 7. Oktober 1938. Im Löschungsvermerk vom 1. Januar 1940 ist notiert, dass Ernst Michel nach England ausgewandert war, in die Heimat seiner Frau. Bislang nicht überprüften Informationen zufolge starb er in Berkshire im Jahr 1949. Ebenfalls ist nicht geklärt, ob es eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen den Familien Liedtke und Michel gab, möglicherweise über eine Familie Wertheim, aus der die Mutter von Ernst Michel stammte.

Die Wiedergutmachungsakte der Familie Liedtke

Der zweite Fund einer öffentlichen Akte, in der Emmy Liedtke vorkommt, ist eine Entschädigungsakte im Landesamt für Entschädigung (Bild 4) (5). Darin beantragt sie gemeinsam mit ihren drei Töchtern Entschädigung für den Tod von Ernst Liedtke als Folge des nationalsozialistischen Unrechts und der Verfolgung, weil „mein Ehemann … gebürtiger Jude“ war; sie nutzte sogar seinen zweiten, jüdischen Vornamen Seelig. Dies ist umso bemerkenswerter, als alle vier nach dem Tod von Ernst Liedtke 1933  vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierten, folgt man den Recherchen von Simon May, einem Enkel von Emmy (1). Ihr Antrag datiert vom 30. April 1956; zu diesem Zeitpunkt wohnte sie in Zehlendorf (s. oben). Die Fotografin Ilse Liedtke lebte in Berlin und war beim Tod des Vaters 23 Jahre alt; Ursula von Plettenberg geborene Liedtke war beim Tode des Vaters 21 Jahre alt, war jetzt Schauspielerin und wohnte in Hamburg; Marianne May geborene Liedtke war Violinistin, 1933 erst 19 Jahre alt, und lebte in London. Alle vier wurden durch die Rechtsanwaltskanzlei Herrmann in Köln vertreten.

Bild 4: Titel (Auszug) der Entschädigungsakte im Entschädigungsamt Berlin (5).

In einem Lebenslauf, datiert auf den 29. Februar 1956, notierte Emmy einige Tatsachen, die uns bislang unbekannt waren: Sie berichtete, dass sie 1909 nach dem Tod ihres Vaters vom Ehepaar Rosenthal adoptiert worden sei (sie nutzt auch wieder ihren früheren Doppelnamen Fahsel-Rosenthal) und dass ihre Heirat mit Ernst Liedtke am 8. Januar 1910 stattfand. Ausführlich schilderte Emmy die Beweggründe für diesen Antrag: Ihrem Mann sei „als gebürtigem Juden viel Unrecht (Misshandlungen u. dergl.)“ zugefügt worden, insbesondere sei ihm im April 1933 das Notariat entzogen worden. „Abgesehen von den persönlichen Kränkungen setzte sich mein Mann innerlich sehr stark mit den politischen Ereignissen und Conceptionen auseinander … Am 17. 12 33 erlitt er in meinem Beisein auf der Straße einen tödlichen Herzschlag. Der Tod ist nach ärztlicher Meinung ausschließlich durch die Aufregungen herbeigeführt worden“ (5). Sie machte in diesem Statement auch die beruflichen Einschränkungen ihrer Töchter nach 1933 geltend.

Die Aussagen Emmys wurden von prominenten Bekannten der Familie, vor allem aus Juristenkreisen bestätigt. Das vielleicht wichtigste Dokument in dieser Akte ist jedoch ein handschriftlicher Brief von Hedwig Kuss, der Haushälterin von Theodor Liedtke (siehe Teil 3), von der wir bislang außer dem Namen nichts wussten – wir werden ihn in einem folgenden Teil der Geschichte ausführlich würdigen. Ein Erbschein von 1940 lässt darauf schließen, dass es ein Testament gegeben haben muss: Emmy erbte 1/4 des nachgelassenen Vermögens, hatte aber bis zu einer eventuellen Wiederverheiratung die Verfügung (ein sogenanntes Vorerbe) über die anderen 3/4 des Nachlasses.

Die Bearbeitung des Entschädigungsantrags zog sich mehr als zwei Jahre hin, nicht zuletzt, weil das Entschädigungsamt Berlin in den Gemeinden nachfragen musste, in denen Emmy nach dem Krieg gewohnt hatte: 1948/49 in Hovestadt bei Soest (Westfalen) bei ihrer Tochter Ursula, 1949/50 bei ihrer Tochter Marianne in London und 1950 bis 1955 in Kiel bei ihrer Tochter Ilse; erst im April 1955 war das Haus in Zehlendorf, das 1945 von den Amerikanern konfisziert worden war, wieder freigegeben worden. Man wollte wissen, ob nicht auch an diesen anderen Orten Anträge auf Sozialhilfe oder Entschädigung gestellt worden waren. Die 1959 rückwirkend seit dem 1. Januar 1934 bewilligte Witwenrente für Emmy betrug am Ende 87.551 DM, bis zu ihrem Tod erhielt sie zudem eine monatliche Renten von 582,67 DM. 

Zwischenzeitlich (1960) wechselte die Familie den Anwalt, vermutlich war die Kanzlei Herrmann in Köln den Liedtkes in den weitergehenden Anträgen nicht nachhaltig genug; neuer Vertreter war Rechtsanwalt Poos aus Zehlendorf, der offenbar Untermieter im Haus Wilskistraße 2 war. Aber auch mit der neuen juristischen Betreuung mussten in der Frage der Entschädigung für entgangene Berufs- und Lebenschancen zunächst neue eidesstattliche Versicherungen eingeholt werden, in denen Kollegen und Freunde der Familie beteuern mussten, wie hoch z. B. das Einkommen von Ernst Liedtke 1933 war, und wie wahrscheinlich es war, dass sein Tod durch die seelische Belastung allein erfolgt sei. Schließlich schlug RA Poos 1963 vor, bei einem angenommenen Jahreseinkommen von 50.000 bis 60.000 Reichsmark als Vergleich „nach bisherigen Gewohnheiten …. eine Goodwill-Entschädigung von DM 25.000“ zu zahlen. Am Ende erreichte er im Juli 1964 eine Einmalzahlung von 9.000,00 DM für Emmy, aber da hatte Emmy nur noch kurze Zeit zu leben: Sie starb am 12. August 1965 während eines Aufenthaltes in Freising (Bayern) im Alter von fast 75 Jahren (Bild 5).

Bild 5: Sterbeurkunde der Emnmy Liedtke (aus (5).

Literatur

1. Simon May: How to be a refugee. Macmillan/Picador Publisher, London 2021.

2. Heinrich Lohmann: Der Bremer Fichtenhof und seine Bewohner. Ein wenig bekanntes Kapitel aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Edition Falkenberg, Bremen 2018, insbesondere die Seiten 182 bis 189 über Ursula von Plettenberg geborene Liedtke.

3. Der Blog von Birgit Ebbert über Vergessene Frauen: https://www.vergessene-frauen.de/fotografinnen/ilse-liedtke-1910-1986-fotografin-mehr/.

4. Handelsregister-Akte im Landesarchiv Berlin: A Rep. 342-02 Nr. 40791.

5. Akte im Entschädigungsamt Berlin Nr. 212.762.

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 5)

Im April 1962 reiste Dr. Curt Lewy mit seiner (zweiten) Frau aus Brasilien zurück nach Deutschland, um sich in Konstanz niederzulassen; er war zu diesem Zeitpunkt 63 Jahre alt und hat nach Angaben von Leimkugel (1) bis zur Erreichung der Altersgrenze in Konstanz im Stammwerk der Pharmafirma Byk-Gulden als Apotheker gearbeitet – Byk-Gulden war auch sein letzter Arbeitgeber in Brasilien gewesen. Sein 32-jähriger Sohn aus erster Ehe war in Brasilien geblieben, seine 1937 in Brasilien geborene Tochter war mit seiner ersten Ehefrau nach der Trennung in die USA emigriert (s. Teil 4, mittendran vom 22. August 2025).

Ein schwieriger Wiedergutmachungsprozeß

Ohne an dieser Stelle in die Details gehen zu wollen – das soll an anderer Stelle und in einem anderen Fall geschehen – muss man bei der Wiedergutmachung unterscheiden zwischen einem Restitutionsverfahren, mit dem die Eigentumsverhältnisse an Vermögenswerten (Immobilien, Mobiliar und anderes Eigentum sowie Bankvermögen) wieder rückgängig gemacht werden sollten, da sie auf unrechtmäßigem Entzug (Beschlagnahmung) oder erzwungenem Verkauf beruhten, und Entschädigungsverfahren. Bei diesem soll materieller und immaterieller Schaden finanziell kompensiert werden. Die Restitutionsverfahren wurden von speziellen Wiedergutmachungsbehörden in den Ländern verhandelt und von Gerichtskammern entschieden, falls es nicht zu Vergleichen zwischen den Anspruchstellern und den neuen Besitzern (privaten Eigentümern oder den Finanzbehörden des Staates nach Rechtsnachfolger der nationalsozialistischen Behörden) kam. Für die Entschädigungsverfahren waren die Sozialbehörden der Länder zuständig, in Berlin das Landesamt für Besoldung und Ordnung (LABO). Um sich im Gewirr der verschiedenen Vorschriften überhaupt bewegen zu können, war es vernünftig, sich rechtlich durch Anwälte vertreten zu lassen; allein die diversen Anträge auf Entschädigung für verschiedene Arten von Schäden (Freiheit, Gesundheit, beruflicher Ausbildung, beruflichem Fortkommen, etc. (Bild 1)) waren ohne rechtlichen Beistand schwer zu bewältigen, erst recht, wenn der Antragsteller, wie Dr. Curt Lewy, im Ausland war.

Bild 1: Die vrschiedenen Antragsmöglichkeiten für Entschädigung. Jedem Antrag entsprach ein eigenes, farblich unterschiedliches Formular.

Bereits im September 1949, lange vor seiner Rückkehr aus Brasilien nach Deutschland, hatte Lewy gegenüber den deutschen Behörden einen Anspruch auf Rückerstattung (Restitution) seines früheren Eigentums angemeldet (2); auch einen Antrag auf Entschädigung (3) wegen entgangener Berufschancen, Schaden an seiner Gesundheit durch die erzwungene Emigration, Erstattung der bezahlten Reichsfluchtsteuer der Familie (54.409 Reichsmark, was einem Vermögen von 218.000 RM entsprach) und der Kosten des Kapitalistenvisums für Brasilien (131.800 Mark für die Eheleute und die Mutter) machte er geltend, neben den Reisekosten und anderen Verlusten aus Hausrat. Vertreten wurde er in beiden Fällen durch einen Rechtsanwalt und Notar aus Steglitz, der die Familie Lewy noch aus der Studienzeit kannte.

ild 2: Auszug aus dem Grundbuch des Grundstücks Wichmannstraße 21 (aus: (3)).

Am Ende eines langes Prozesses erhielt er im Entschädigungsverfahren ab 1957 eine monatliche Rente von 471,20 DM sowie rückwirkend eine Einmalzahlung von 12.000 DM. Im Restitutionsverfahren wurde sein Antrag auf Rückerstattung des Grundstücks Wichmannstraße 21 unmittelbar nach Antragstellung als Vorbehalt im Grundbuch eingetragen (Bild 2). Das Haus selbst, das im Kaufvertrag mit 150.000 Mark veranschlagt worden war und das der Käufer, Curt Blew, übernommen hatte, war im Zuge der Kriegshandlungen in der Nacht vom 22. auf den 23. November 1943 vollständig zerstört worden (Bild 3), der letzte Eigentümer war seit Kriegsende verschollen, eine Rückerstattungsforderung an ihn konnte nicht zugestellt werden und wurde daher „öffentlich zugestellt“. Der Antrag auf Wiedergutmachung beinhaltete die Rückabwicklung des Immobilienverkaufs, da dieser unter Zwang zustande gekommen war, nunmehr zum Grundwert. Der war 1936 mit 124,900 Mark angegeben und wurde nach der Währungsreform 1961 mit 48.500 DM beziffert – das war weitgehend unstrittig. Am Ende wurde das Grundstück an Curt Lewy zurückübertragen, wobei Aufwendungen und Steuer- und Hypothekenzahlungen der Familie Blew in der Zeit von 1936 bis 1943 in Rechnung gestellt wurden. Dies wurde in einem Prozess vor dem Landgericht Berlin am 21. März 1962 festgelegt.

Bild 3: Blick entlang der Schillstraße nach Norden (Aufnahme Willy Kiel 1949, Landesarchiv, ID Nr., 2128 mit freundlicher Genehmigung); rechts ein Auszug aus einem Stadtplan von 1910 mit dem vermutlichen Standort und Blickwinkel des Fotografen. Der rote Kreis markiert den Platz der – zerstörten – Apotheke.

Die Apothekenkonzession

Zu einem besonderen Streitpunkt entwickelte sich der für die Apothekenkonzession gezahlte Kaufpreis von 135.000 RM. Obwohl eine Rückübertragung an Curt Lewy ohne Widerspruch erfolgte, erwies sich dies als finanzielles Desaster. War diese Konzession zu Beginn des Wiedergutmachungsverfahren nämlich noch etwa 70.000 DM wert, zu der sie 1956 hätte weiterverkauft werden können – es lag ein diesbezügliches Angebot vor – so kam es aufgrund eines Urteils der Bundesverfassungsgerichts vom 29. November 1959 (Bild 4) im Verlauf des Restitutionsprozesses zu einer veränderten Rechtslage.

Bild 4: Der vom Bundesverfassungsgwericht verhandelte Apothekenfall, der zu einem Grundsatzurteil zur Niederlassungsfreiheit führte (Quelle: Webseite des Bundesarchivs).

Wir erinnern uns: Apothekenkonzessionen wurden in der Vergangenheit als persönliche Privilegien einzelnen Apothekern verliehen, ursprünglich nach Maßgabe der ortsansässigen Apothekerzunft, die auf diese Weise die Konkurrenz kontrollierten, oder als Zuwendung der „Obrigkeit“ (2). Zum Ende des 19. Jahrhunderts legten die städtischen Gesundheitsbehörde die Anzahl und Lokalisierung von Apotheken fest und schrieb diese aus; ausgebildete Apotheker konnten sich dann darauf bewerben. So war Curt Lewys Vater Albert Lewy zur Lützow-Apotheke gekommen. Gleichzeitig war im Zuge der Gewerbefreiheit es Apothekern gestattet, ihr Apothekenprivileg an Kollegen zu verkaufen; die Apotheke war zu einer Kapitalanlage geworden, die mit der Zeit und in Abhängigkeit von Lage, Umsatz und Ausstattung im Wert stieg. Der Wert der Lützow-Apotheken-Konzession war auf diese Weise beim Verkauf 1936 auf 135.000 RM geschätzt worden.

Im Jahr 1958 verhandelte das Verfassungsgericht den Fall eines bayrischen Apothekers, dessen Antrag auf Einrichtung einer zweiten Apotheke in einem Ort von 6000 Einwohnern, in dem schon eine Apotheke existierte, im Jahr 1956 von den Behörden abgelehnt wurden war: die Existenz einer weiteren Apotheke sei nicht notwendig. Dagegen klagte der Apotheker, der sein Recht auf freie Berufsausübung verletzt sah. Sein Einspruch vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht wurde 1957 ebenfalls abgelehnt, was zur Vorlage des Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht führte. Dieses entschied am 11. Juni 1958 zugunsten des Apothekers und seiner Berufsfreiheit, nicht zuletzt wegen des Fehlens „objektiver Zulassungsbeschränkungen“. Gleichzeitig legte es einige Grundsätze fest, die einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit rechtfertigen würden – die jedoch rechtlich bindend erst erlassen werden mussten (5).

Dieses Urteil führte dazu, dass die Apothekenkonzession der Lützow-Apotheke mit einem Federstrich seinen Wert verlor. Curt Lewy hätte es 1960 noch für DM 3.000 an einen Apotheker verkaufen können, der am Namen der Apotheke interessiert war (Bild 5).

Bild 5: Einschätzung der Wirkung des Apothekenurteils des Bundesverfassungsgerichts auf den Wiedergutmachungsprozeß Lewy (aus (3)).

Curt Lewys letzte Jahre in Konstanz

Unmittelbar nach dem Urteil im Wiedergutmachungsverfahren im März 1962 reisten Curt Lewy und seine Frau aus: Abreise war am 7. April 1962, Einreise nach Deutschland mit Wohnsitznahme in Konstanz war am 22. April 1962 – die Wohnung hatte sein Arbeitgeber (BykGulden Konstanz) organisiert, in deren brasilianischer Niederlassung in Sao Paolo er zuletzt als Chef der Werbeabteilung angestellt gewesen war.

Über seine Zeit in Konstanz liegen uns nur wenige Unterlagen vor, die aus der Sammlung des Apothekers Leimkugel stammten, dessen biografische Hinweise in seinem Buch (1) uns auf die richtige Spur gesetzt hatten (s. Teil 4, mittendran vom 22. August 2025). Zwei Momente darin erregten unsere Aufmerksamkeit: Zum einen forschte Lewy nach dem Verbleib einiger der Antiquitäten, die sein Großvater Gustav Lewy, königlicher Antiquar und Hoflieferant, dem Dresdner Museum gestiftet hatte und korrespondierte zu diesem Zweck mit den dortigen Institutionen. Zum anderen engagierte er sich – auch finanziell – bei der Unterstützung eines ehemaligen Schweizer Polizisten, der wegen ungesetzlicher Unterstützung jüdischer Flüchtlinge in der NS-Zeit seinen Beruf und seine Pensionsansprüche verloren hatte (6). 

Die wenigen persönlichen Informationen hinterlassen das Bild eines vom Leben eher enttäuschten Mannes. In einem Brief vom 26. März 1969 klagte er, „ich habe 26 Jahre in Brasilien in der `Verbannung` leben müssen. Es hat mich aber doch wieder in die Heimat getrieben. Nur meine Kinder, die haben nicht mehr den Weg zurück gefunden — Es hat ja zwei Endlösungen der Judenfrage gegeben: Die eine war die der Nazis, und die andere war die völlige Assimilierung und die haben die Nazis uns verbaut. LEIDER !“ und fügt desillusioniert hinzu „Entschuldigen Sie bitte diese Gehirnblähungen eines alten Mannes. Aber in wenigen Monaten werde ich eben 70 Jahre alt“ (7).

Curt Lewy verstarb am 11. Juli 1985 in Konstanz im Alter von 86 Jahren. Seine Frau Vera Lewy geborene Fröhlich, die mit ihm nach Deutschland zurückgekehrt war, starb wenige Monate zuvor, am 10. Januar 1985 im Alter von 75 Jahren (Bild 6).

Bild 6: Sterbeurkunden (Auszüge) von Vera Lewy aund Curt Lewy von 1985.

Literatur

1. Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration und Restitution: Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. Govi Verlag, Eschborn 1999 (2. Auflage), S. 111ff.

2. Paul Enck: Die Apothekerfamilie Wendland. Eine mikrohistorische Studie aus dem Berliner Lützow-Viertel. Berlin in Vergangenheit und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2023. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2025, Seite 11-26.

3. Akten im Landesarchiv Berlin: B Rep. ß25-08 Nr. 610/50 und 611/50

4. Akte im Landesamt für Besoldung und Ordnung Berlin (LABO): Akte 64014

5. Urteil des Bundesverfassungsgerichts: https://de.wikipedia.org/wiki/Apotheken-Urteil

6. Zeitung Süd-Kurier vom 8. April 1971.

7. Unterlagen, die der Apotheker Frank Leimkugel von Nachkommen der Familie Curt Lewy aus den USA zur Verfügung gestellt bekommen hatte.

Abbildungen

Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 5)

Im Jahr 1863, sieben Jahre nach ihrer Hochzeit in Berlin und elf Jahre, nachdem Julius Popper Berlin verlassen hatte, um in der Provinz (Dessau, Stolp) eine Predigerstelle zu suchen und anzutreten, war das Ehepaar Laura und Julius Popper wieder in Berlin gelandet (mittendran vom 5. September 2025). In Stolp hatte Laura, nach einer zweiten Fehlgeburt 1858, in den Jahren 1861 und 1862 zwei Jungen geboren, Georg und Martin (Bild 1).

Bild 1: Die Brüder Martin (rechts) und Georg Popper im Alter von 3 und 4 Jahren, gemalt vom Bruder des Vaters, Isidor Popper (1816-1884) um das Jahr 1865 (aus dem Familienarchiv der Nachkommen mit freundlicher Genehmigung).

Es ist nun an der Zeit, die Herkunft und Familiengeschichte der Laura Popper geborene Bab (Bild 2) zu erzählen, über die wir und die Nachkommen der Familie (mittendran vom 6. August 2025) bislang eigentlich so gut wie gar nichts wissen.

Bild 2: Laura Popper geborene Bab, die Ehefrau von Julius Popper, gemalt von ihrem Schwager Isidor Popper (1816-1884) um die Zeit ihrer Hochzeit 1856 (aus dem Familienarchiv der Nachkommen, mit freundlicher Genehmigung). 

Herkunft aus Meseritz, Provinz Posen (heute Miedzyrecz, Polen)

Meseritz war eine Kleinstadt nahe der Grenze zu Polen und im Zuge der zweiten polnischen Teilung (1793) an Preußen gefallen. Es gehörte unter napoleonischer Besetzung (1806) zum Herzogtum Warschau und war nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon (1813) zurück an Preußen gefallen. Es gab um 1793 unter den insgesamt 2200 Einwohnern der Stadt 700 Juden (33%), die mehrheitlich den Anschluss an Preußen bevorzugten, versprachen sie sich davon doch mehr Rechte als im katholischen Polen, auch wenn sie mehrheitlich konservativ-orthodoxe Juden waren.

Heinrich Heine hinterließ eine eindrucksvolle Beschreibung der Juden 1823 in der ländlichen Region um Meseritz, nicht unbedingt jedoch in der Stadt: „Das Äussere der polnischen Juden ist schrecklich. Mich überläuft ein Schauer, wenn ich daran denke, wie ich hinter Meseritz zuerst ein polnisches Dorf sah, meistens von Juden bewohnt … Dennoch wurde der Ekel bald verdrängt von Mitleid, nachdem ich den Zustand dieser Menschen näher betrachtete und die schweinestallartige Löcher sah, worin sie wohnen, mauscheln, beten, schachern und – elend sind. Ihre Sprache ist ein mit Hebräisch durchwirktes und mit Polnisch fassioniertes Deutsch“ (1).

1836, nachdem die Juden in der Provinz Posen 1833 einige Bürgerrechte erhalten hatten, war ihr Anteil an der Bevölkerung von Meseritz mit noch 24% hoch, aber er sank von 25% (1839) innerhalb weniger Jahre auf 9% (1867) und tiefer (1900: 3,6%). Grund waren die schlechten Verdienstmöglichkeiten in der Textilbranche dieser Grenzregion einerseits, die größere Freiheit der Juden im preußischen Kernland, und insbesondere in Berlin, andererseits.

Das Bürgerbuch von Meseritz (2) kannte 1834 fünf Familienvorstände mit den Familiennamen Bab, deren Verhältnisse zueinander jedoch unklar sind; vermutlich handelte es sich um Brüder bzw. Cousins aus einem größeren Familienverband. Einer von ihnen war Jacob Abraham Bab, dessen genaue Lebensdaten wir nicht kennen. Er wurde vermutlich um 1790 geboren, war zweimal verheiratet, und hatte neun Kinder, sechs mit seiner ersten Frau Michle (oder Michel) Brasch (????-1828) und drei mit Johanna (Hanne) Mendelsohn (1804-1855). Sara Laura Bab, geboren am 22. Oktober 1833, war das älteste der drei Kinder der zweiten Ehefrau; wir kennen ihr Geburtsdatum und ihre Eltern aus ihrem Geburtsschein, den sie anlässlich ihrer Hochzeit mit Julius Popper 1856 vorlegen musste und den die Familie sorgsam aufbewahrt hatte (Bild 3).

Bild 3: Geburtsschein der Laura Bab, anläßlich ihrer Hochzeit 1856 ausgestellt von der Gemeinde Meseritz in Posen (aus dem Familienarchiv der Nachkommen mit freundlicher Genehmigung).

Lauras Schulzeugnisse

Es ist einer der seltenen Fälle, dass wir die vollständigen Schulzeugnisse eines Mädchens einsehen konnten. Da junge Frauen in diesen Zeiten in den allerseltensten Fällen einen eigenen Beruf erlernten, sondern verheiratetet wurden und Kinder bekamen, gab es wenig Grund, Schulzeugnisse aufzubewahren. Wir verdanken es der Sorgfalt Julius Poppers – und seines Sohnes Martin -, dass er nicht nur seine, sondern auch Schulunterlagen seiner Frau aufbewahrt hat.

Laura wurde am 22. Oktober 1833 geboren und besuchte die jüdische Gemeindeschule vermutlich ab Ostern 1841; da war sie also sieben Jahre alt. Aus der zweiten Klasse (Michaelis = Herbst 1841 bis Ostern 1842 liegt uns ein Schulzeugnis vor (Bild 4), das ihr, bis auf das Rechnen, insgesamt gute Grundnoten (Betragen, Fleiß, Rechnen, Schreiben, Lesen, Geografie/Geschichte, Religion) bescheinigte. Das Abschlusszeugnis stammt vom Januar 1848 – sie war jetzt 14 Jahre alt und hatte sieben Schuljahre hinter sich, mit gleichbleibend guten Schulleistungen. Sie wurde entlassen „mit dem Prädikate lobenswerth und dem lebhaften Wunsche, daß sie, erfüllt von Gottes heiligem Geiste, ihre guten Anlagen immer mehr ausbilden und die gewonnenen Kenntnisse zur Veredlung ihres Herzens benutzen möge“ – und im Rechnen war sie von schwach auf sehr gut gekommen.

Über die nächsten Jahre bis zur Hochzeit mit Julius Popper 1856 fehlen uns Belege, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie zusammen mit ihrem Bruder Adolph Bab 1848 nach Berlin gekommen ist.

Bild 4: Schulzeugnis der ersten Klasse der jüdischen Gemeindeschule in Meseritz (Posen) für Laura Bab im Jahr 1841 (aus dem Familienarchiv der Nachkommen mit freundlicher Genehmigung).

Die Familie Bab kommt nach Berlin

Natürlich hätte Laura Bab den Prediger Julius Popper auch in Meseritz kennenlernen können, wenn er dort eine Stelle angetreten hätte statt in Dessau oder Stolp – aber die Gemeinde in Meseritz war noch um einiges kleiner, und Julius strebte nach Höherem, wie wir gesehen haben. Wahrscheinlich haben sich die Eheleute in Berlin getroffen – aber wann kam die Familie Bab nach Berlin?

Ausweislich des Adressbuches der Stadt gab es bis 1848 keine Familie diesen Namens in der Stadt. Im Jahr 1849 findet sich in der Friedrichstadt (Jerusalemerstr. 42) erstmals der Kaufmann Adolph Bab, ab 1852 in der Leipziger Str. 60: Händler von Seidenband- und Weißwaren (Wäsche) (Bild 5). Adolph Bab ist der ältere Bruder von Laura, geboren 1823 in Meseritz, jüngstes Kind der ersten Ehefrau des Jacob Abraham Bab; er war beim Umzug nach Berlin also 26 Jahre alt. Er heiratete 1854 Johanna (Hanne) Gumpert, geboren am 1835 in Brandenburg (Havel), und hatte mit ihr eine Tochter, Margarethe, geboren 1855 in Berlin; diese heiratet 1876 Rudolph Levinsohn, mit dem sie mehrere Kinder hat.

Bild 5: Eintrag der Firma Adolph Bab im Berliner Adressbuch des Jahres 1852.

Die Firma Adolph Bab residierte im neuen, künftigen Verkaufszentrum der Stadt in der Leipziger Straße, in der sich bald auch die Firma Rosenhain/Fürstenberg niederließ (mittendran vom 20. Januar 2024); hier blieb sie für die nächsten Jahre. 1864 eröffnete Adolph Bab ein größeres Geschäft ein paar Häuser weiter (Leipziger Str. 81) und wohnte in der Leipziger Str. 49. Das Geschäft lief gut: Er nahm zwei Teilhaber in sein Geschäft (1873), suchte eine Direktrice für ein „Putzgeschäft“ (Hüte) in Moskau (1874), ersetzte seine Teilhaber durch seinen Schwiegersohn Levinsohn (1876), wurde in Berlin Hoflieferant der Königin (1879), ließ sich ein Warenzeichen (Bild 6) entwerfen und sichern (1877), suchte einen Damenschneider für eine Provinzstadt (1879) und auch sonst allerlei Personal, und expandierte und eröffnete eine Zweigstelle in Dresden (1882). Unmittelbar nach seinem Tod – er starb am 19. Juli 1890 – übernahm die Witwe die Firmenleitung, verkaufte die Dresdner Filiale und löste die Berliner Firma auf; der Warenbestand in Berlin wurde verkauft und das Geschäftslokal vermietet. Die Witwe lebte bis an ihr Lebensende, offenbar wohlhabend, am Kurfürstendamm 254 (3).

Bild 6: Eingetrages Warenzeichen der Firma Adolph Bab (aus: Deuscher Reichsanzeiger vom 2.11.1877, Seite 8).

Das Geschäft der Gebrüder Bab

Auch die anderen beiden Brüder Lauras, Moritz (Moses) und Hermann (Hirsch) kamen nach Berlin und gründeten dort 1859 ein gemeinsames Geschäft, die „Bab Gebrüder„, auch wenn ihr Geschäft vielleicht nicht so erfolgreich war wie das ihres Bruders Adolph. Erstmals im Adressbuch sind sie im Jahr 1860 gelistet. Immerhin konnte die Firma, die ebenfalls mit Weißwaren, Stickereien und Seidenbändern handelte, im Jahr 1909 ihr 50jähriges Firmenjubiläum feiern (Bild 7).

Bild 7: Jubiläumsanzeige der Firma Bab Gebrüder (Leipziger Monatsschrift für Textil-Industrie vom 17.3.1909, Seite 14).

Moritz (Moses) Bab war 1835 in Meseritz geboren worden, war also 25 Jahre als, als er und sein um ein Jahr jüngerer Bruder Herrmann die Firma gründete. Er heiratete um 1861 Cäcilie Mendelsohn (1840-1905), mit der er zwei Kinder hatte: Georg Felix, geboren 1862, und Siegfried, geboren 1874. Moritz starb am 14. Februar 1877, mit nur 42 Jahren, seine Frau überlebte ihn um fast 30 Jahre: sie starb am 27. Mai 1905.

Herrmann Bab, geboren 1836, heiratete Bertha Mendelsohn (1843-1921), die jüngere Schwester von Cäcilie, und hatte mit ihr vier Kinder, drei Mädchen (Johanna, 1866-1943; Clara, 1868-19939; Hedwig, 1872-1939) und Felix (1865-1933). Hermann Bab starb am 5. September 1901 in Berlin, seine Witwe starb 20 Jahre später, am 21. November 1921 und wohnte zu dieser Zeit Sybelstraße 52 in Charlottenburg.

Moritz und Hermann betrieben neben dem gemeinsamen Unternehmen Bab Gebrüder je ein weiteres Unternehmen, Moritz in der Kronenstraße, Hermann in der Jägerstraße, also alle in einem engen Umkreis in der Friedrichstadt. 1876 wurde die Firma Bab Gebrüder aufgelöst (Bild 8), und Herrmann führte die Firma allein weiter. Nach Hermanns Tod 1901 trat dessen Sohn Felix in die Firma ein und führte sie bis 1925, immer noch mit Modewaren, Blusen, Kleider, usw.., aber inzwischen residierte sie an der Tauentzienstraße 7 im Herzen des neuen Westens. Und die Zahl der Haushalte und Geschäfte unter den Namen Bab in Berlin hat sich auf mehr als 40 Einträge erhöht.

Bild 8: Auflösung der Firma Bab Gebrüder 1909 (Berliner Börsenzeitung vom 19. 10. 1876, Seite 15).

Wir können mit einigem Recht annehmen, dass der kaufmännische Erfolg der Familie Bab Teil der finanziellen Sicherheit der Familie von Julius Popper darstellte: Gegenüber schlecht bezahlten Akademikern wie Julius Popper, der bis zu seiner Rückkehr nach Berlin 1862 nur sehr bescheidene Einkünfte hatte, haben Kaufleute, wenn sie erfolgreich waren, immer die besseren Lebenschancen. Wie wir im nächsten Teil der Geschichte sehen werden, konnte sich Julius Popper nach kurzer Zeit in Berlin ein Stadthaus als Eigentum „leisten“, in unmittelbarer Nähe zur Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße, die 1869 gebaut worden war.

Literatur

  1. Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden, Band 3. Berlin und Weimar 1872, Seite 564.
  2. Das Bürgerbuch von Meseritz 1741-1851, nach Vorarbeiten von Konrad Rittershausen bearbeitet von Hans Jokisch, herausgegeben von Hans-Jürgen Karp. J.G.Herder-Institut, Marburg/Lahn 1981.
  3. Alle Informationen aus dem Zeitungsportal der Deutschen Digitalen Bibliothek: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/search/newspaper?query=“Adolph+bab“

Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 4)

Mit Teil 4 der Geschichte der Familie Popper kehren wir zurück zu Julius Popper (Bild 1), dem 1822 geborenen Hildesheimer, der nach dem Studium der Philosophie in Berlin im Jahr 1852 seine erste Stelle als Prediger und Lehrer in Dessau im Herzogtum Anhalt antrat. Sein „privates“ Leben in Dessau (Heirat mit Laura Bab, eine Fehlgeburt, Heirat seiner Schwester Therese) hatten wir schon in Teil 2 (mittendran am 1. Juni 2025) erzählt; hier jetzt seine berufliche Laufbahn. 

Bild 1: Porträt von Julius Popper um 1842, gemalt von seinem Bruder Isidor Popper (1816-1887) (im Familienbesitz, mit freundlicher Genehmigung).

Die Informationen dieses Teils der Familiengeschichte Popper stammen aus zwei Quellen: Aus im Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA) verwahrten Akten der Jüdischen Kultusgemeinde zu den Vorgängen der Benennung/Entlassung des Gemeindelehrer und der Religionslehrer an der Franzschule einerseits (1), und aus persönlichen Unterlagen von Julius Popper, die die Nachkommen der Familie zur Verfügung gestellt haben (s. mittendran vom 6. August 2025).

Um es vorwegzunehmen: Zwar hatte die jüdische Gemeinde Dessau, die traditionell sehr konservativ eingestellt war, und insbesondere die jüdische Franz-Schule als eine der wenigen frühen Schulen des Judentums eine lange und durchaus ehrwürdige Tradition, aber das Engagement von Julius Popper dort dauerte nur sechs Jahre und war gekennzeichnet von Konflikten. Vermutlich war Julius Popper spätestens mit seiner Promotion an der Universität Leipzig 1854 für die Position bereits überqualifiziert. Und es war die konservative jüdische Gemeinde Dessau und deren Vorstand, die mit der Qualifikation ihrer Rabbiner und Prediger ihre besonderen Schwierigkeiten hatte, wie wir sehen werden (1). 

Aber es war auch der Lauf der Zeit: Zwischen 1833 und 1867 halbierte sich die Zahl der Juden in Dessau nahezu und sank von 800 auf weniger als 500. Nachdem in Preußen 1848 den Juden Gleichberechtigung versprochen worden war, zog es sie in Scharen aus der Provinz ins preußische Zentrum des Judentums, nach Berlin.

Die Dessauer Franz-Schule

1799 fand sich ein Verein „junger jüdischer Menschenfreunde“ zusammen, der auch in Dessau – nach Berliner Vorbild – eine „Freischule“ eröffnete. Die Leitung übernahm der umtriebige David Fraenkel (1779-1865), ein Großneffe des alten Dessauer Rabbiners, der 1806 zudem die erste jüdische „Töchterschule“ und die Sulamith (1806-48), die erste jüdische Zeitschrift in deutscher Sprache und Schrift, begründet hatte. Als die ausschließlich aus Beiträgen, Spenden und Schulgeldern finanzierte „Israelitische Hauptschule“ 1815 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, gewährte Herzog Franz ihr einen jährlichen staatlichen Zuschuss und dem Direktor Fraenkel erstmals ein Gehalt. Ein Jahr später wurde eine neue Schulordnung genehmigt. Die Lehranstalt durfte sich nun offiziell „Franzschule“ nennen (Bild 2) (2).

Bild 2: Die Herzogliche Franzschule in Dessau, ab 1849 Handelsschule (zeitgenössische Lithographie, Stadtarchiv Dessau-Roßlau, https://gedenkkultur-dessau-rosslau.de/assets/docs/juedisches-leben-7-orte.pdf)

Im Jahr 1849 erfolgte die Eröffnung der Franz-Schule als öffentliche Handelsschule, die dadurch der unmittelbaren Kontrolle durch die jüdische Kultusgemeinde (KG) entzogen war und unter die Aufsicht des Konsistoriums der anhaltinischen Staatsregierung kam. Am 19. Januar 1850 kam es zu einem Vertrag der KG mit dem Staatsministerium, der vorsah, dass der Gemeinderabbiner für den Unterricht nicht nur an der Gemeindeschule, sondern auch an der Franz-Schule zuständig sein sollte.

Am 1. Juli 1850 erhielt der Rabbiner Dr. David Stadthagen einen 3-Jahres-Vertrag als Rabbiner der Gemeinde, und am 15. Juli 1851 wurde Stadthagen als Beamter im Staatsdienst (Landrabbiner) bestätigt. Aber bereits 14 Monate später, am 11. September 1851 wurde der Vertrag mit Stadthagen auf Wunsch der Gemeinde wieder gelöst, und zwar, da der Rabbiner nur 14 von 36 Monaten seine vertraglichen Funktionen ausgeübt hatte, gegen eine Abstandszahlung von 675 Talern: dieser Abstand für 22 Monate bedeutete, dass sein Jahresgehalt 368 Taler betrug. Es wurde ihm gestattet, längstens bis zum 1. Juli 1853 in der Dienstwohnung zu verbleiben. Gründe für dieses vorzeitige Vertragsende sind den Akten nicht zu entnehmen, aber die jüdische Gemeindekasse hatte unter dieser Zahlung zu ihren Lasten erheblich zu leiden.

Möglicherweise hatte sich Julius Popper bereits auf diese Stelle beworben, als auch Stadthagen einer der Kandidaten war; nicht unwahrscheinlich ist, dass sich Popper in dieser Zeit auch auf andere Stellen beworben hatte. Jedenfalls wurde er von der Kultusgemeinde am 26. Oktober 1851 einstimmig zum Religionslehrer der Gemeindeschule gewählt, nach enthusiastischer Einschätzung seiner Zeugnisse und Qualifikationen (Bild 3). 

Bild 3: Artikel zum Beginn seiner Tätigkeit in Dessau (aus: Zeitschrift des Judenthums von 1853

Es gab nur einen Vorbehalt: Da Julius Popper aus Berlin kam und dort 1848 – und anderswo, auch im Herzogtum Sachsen-Anhalt – „revolutionäre Umtriebe“ stattgefunden hatten, wollte die Kultusgemeinde sicher gehen und „um nicht einen Demokraten [sic!] hierher zu ziehen, ersuchen wir das Königlich Preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten um Auskunft hierüber, worauf uns unter dem 22. Januar [1852] … die Nachricht zugegangen ist, daß der Popper sich während des Jahres 1848 und auch später stets als ruhiger, höchst moralischer und achtungswerther Mann geführt, der sich wenig um Politik bekümmert und nur wissenschaftlich beschäftigt habe.“ (1).

Nach dieser Klärung seiner sittlichen und politischen Eignung bat der Gemeindevorstand das Staatsministerium auch um seine Einstellung als Religionslehrer an der Franz-Schule. Julius Popper befand sich bereits seit November 1851 in Dessau und bestätigte, dass er seinen Unterricht noch in diesem Monat anfangen wolle, so die KG in einem Schreiben an das Staatsministerium. Am 1. Februar 1852 begann Julius Popper formell seine Unterrichtstätigkeit an der jüdischen Gemeindeschule für ein Jahresgehalt von 150 Talern, und ab 3. März 1852 übernahm er für 50 Taler zusätzliches Jahreshonorar auch den jüdischen Religionsunterricht an der Franz-Schule; auch die wurden ihm übergangsweise von der jüdischen Gemeinde bezahlt,. Außerdem wurde Popper zugestanden, gerichtlich zu erbringende Eidesleistungen mit einem Honorar von 142 Taler je Fall abzurechnen. Hintergrund dafür war, dass Juden vor einem Gericht keinen Eid auf Gott ablegen konnten; stattdessen wurde eine Formulierung „an Eides statt“ im Beisein des jeweils zuständigen Rabbiners oder Predigers und zwei weiterer Zeugen in einer Synagoge gerichtlich akzeptiert. Aber wie häufig wird das schon vorgekommen sein?

Konflikte mit der jüdischen Kultusgemeinde Dessau

Insbesondere die Diskrepanz seines Regeleinkommens zum nahezu doppelten Gehalt seines Vorgängers muss Julius Popper gekränkt haben, so dass es nicht wundert, dass es zu Unstimmigkeiten zwischen der Gemeinde und Julius Popper kam, auch wenn dafür nur indirekte Belege vorliegen. Bereits im Jahre 1854 bewarb sich Julius Popper auf eine Predigerstelle in Landsberg an der Warthe, wie wir aus Unterlagen im Centrum Judaicum Berlin wissen; dort war gerade eine neue Synagoge eingeweiht worden (3). Er wurde eingeladen, eine Probepredigt im Rahmen des Laubhüttenfests (im Herbst, September oder Oktober 1854) zu halten, musste diese Einladung aber ablehnen, da seine Verpflichtungen in der Gemeinde in Dessau es ihm nicht erlaubten, während der jüdischen Festtage abwesend zu sein. Eine zweite Bewerbung schickte er wenige Monate später (1855), aber die Stelle wurde offensichtlich anderweitig besetzt. Eine weitere Bewerbung im Mai 1857 ging nach Wien auf eine Stelle als Religionslehrer an der dortigen israelitischen Gemeinde.

Ungeachtet der Querelen mit der Kultusgemeinde in diesen Jahren demonstrierte Julius Popper seine akademisch Qualifikation – und seine intellektuelle Überlegenheit – mit der Veröffentlichung der „Israelitischen Schulbibel“, einem Schulbuch, mit dem er auch heute noch in entsprechenden Publikationen (4) zitiert wird. Die erste Auflage 1854 in der Höhe von 2000 Exemplaren brachte ihm in den deutschsprachigen Landen Bekanntheit und gute Rezensionen (Bild 4), aber kein Honorar; erst bei der zweiten Auflage im Jahr 1872 bekam er ein Honorar von 100 Gold-Talern, dem Äquivalent von 500 Reichstalern, nebst 10 Freiexemplaren.

Bild 4: Besprechung der Schulbibel in der „Zeitung des Judenthums“ von 1854.

Am 8. September 1856 – nach knapp vier Jahren im Amt – fragte Julius Popper beim Konsistorium an, ob er im Falle der Kündigung seiner Stelle als Prediger der Gemeindeschule seine Stelle an der Franz-Schule behalten und weiterführen könne – offensichtlich wollte er den sicherlich anspruchsvolleren Unterricht an der Franz-Schule aufrechterhalten, den Gemeindeunterricht aber aufgeben. Im Antwortschreiben vom 15. September 1856 bestätigte das Konsistorium zwar, dass es keinen Grund sehe, die Lehrtätigkeit an der Franz-Schule in diesem Falle zu beenden, weigerte sich aber, ihm eine Zusage für eine Dauerstelle zu geben. Es kam im September 1857 zu einer einvernehmlichen Vertragsaufhebung mit der Kultusgemeinde mit Wirksamkeit zum 1. Februar 1858. Die Kultusgemeinde beantragte stattdessen, einen Dr. Gustav Philippson als Gemeindelehrer und Prediger einzustellen – die Einstellung dieses dritten Predigers der Gemeinde innerhalb von fünf Jahren erfolgte zum 9. November 1857. 

Dann wurde es hässlich: Im November 1857 schlug das Konsistorium dem Staatsminister vor, Popper im Amte an der Franz-Schule zu belassen; dagegen opponierte die Kultusgemeinde aufs Heftigste (27. November 1857) und warf Popper in der Folge (26. Januar 1858) diverse Verstöße gegen die jüdischen Religionsvorschriften vor, darunter Sabbat-Schändung in mehreren Fällen: Teilnahme an einer Buch-Auktion beispielsweise, auf der er Bücher erworben habe, und auch den Aufhebungsvertrag habe er an einem Sabbat unterschrieben. In einem Brief vom 17. Dezember 1857 argumentierte Julius Popper für seinen Verbleib an der Franz-Schule und machte geltend, dass er inzwischen ein privates Schüler-Pensionat aufgebaut und damit sein Einkommen abgesichert habe, und gleichzeitig der Franz-Schule externe Schüler zuführe oder sicherstelle (Bild 5). Er hatte inzwischen in Dessau in der sogenannten Sandvorstadt ein Haus erworben, in dem wohl die Pension untergebracht war (Mittelstraße 19) (5); die Sandvorstadt war bis 1834 das den Juden zur Niederlassung erlaubte Stadtviertel.

Bild 6: Anzeigen zur Schülerpension des Julius Popper (aus: Zeitung des Judenthums 1855 und 1858).

In Fortsetzung seiner bisherigen Politik – und offensichtlich genervt von den Einlassungen der Kultusgemeinde – lehnte das Konsistorium am 8. Februar 1858 die Entlassung Poppers aus dem Lehramt an der Franz-Schule ausdrücklich ab: die Vorwürfe seien schließlich erst mehr als ein Jahr nach der angeblichen Sabbat-Schändung erhoben worden und hätten bei der einvernehmlichen Vertragsaufhebung offensichtlich keine Rolle gespielt. Der Vorschlag an das Staatsministerium: Ablehnung der Forderung der Kultusgemeinde oder notfalls Eingabe an das Oberlandesgericht und Einholung des Gutachtens eines Rabbinats-Collegiums.

Diese Eingabe erfolgte am 27. Februar 1858, wobei der Prozess sich sicherlich einige Zeit hingezogen hätte. Aber da hatte Julius Popper schon die Reißleine gezogen: Er hatte sich im Juni 1858 auf eine Stelle in Stolp (Pommern, heute Slupsk, Polen) beworben (Bild 6) und stellte am 15. September 1858 einen Antrag auf Entbindung von der Schultätigkeit an der Dessauer Franz-Schule wegen „Berufung als Rektor der israelitischen Schule in Stolp“ (1); den Dienst dort trat er am 1. Oktober 1858 an.

Bild 6: Ausschreibung einer Lehrerstelle in Stolp (Pommern) (aus: Zeitung des Judenthums vom Juni 1858)

Vier Jahre in Stolp, dann zurück nach Berlin

Die Behauptung, er werde Rektor in Stolp, stellte sich als eine Art gesichtswahrende Schutzbehauptung dar, in Wirklichkeit wurde Julius Popper einer von fünf Lehrern an dieser Anstalt, der Leiter der Schule war ein Dr. Klein. Immerhin: mit Schreiben vom 3. September 1858 wurde ihm ein Jahresgehalt von 350 Taler zugesagt und eine Vertragsdauer von zehn Jahren angeboten. Nachdem Dr. Klein 1861 Stolp verlassen hatte, wurde Julius Popper gefragt, ob er – übergangs- und vertretungsweise – die Direktorenstelle übernehmen wolle. In dieser Funktion lud er im März 1862 zu den Prüfungen ein und hatte eine Lehrverpflichtung von 20 Stunden (Bild 7) (6). Aber da hatte er sich schon wieder wegbeworben: Bereits im April 1862 erhielt er von der jüdischen Gemeinde Berlin das Angebot, so schnell als möglich auf eine Predigerstelle dorthin zu kommen, und diesmal mit einem Jahresgehalt von 1000 Talern, das drei Jahre später um weitere 300 Taler erhöht wurde. Dazu demnächst mehr. 

Bild 7: Einladung des stellvertretenden Rektors der Gemeindeschule in Stolp, Dr. Julius Popper, an den Vorstand der jüdischen Gemeinde (oben) sowie Namen und Stundendeputat der Lehrer (Quelle: (6))

Literatur

1. Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA), Akten Z 72 Nr. 7 und 8, Z 104 Nr. 507, Z 107 Nr. 726.

2. Werner Grossert: Die israelitische Schule Dessau 1799 bis 1849. Online unter: https://www.val-anhalt.de/media/mval2_119-143.pdf

3. Akte im Centum Judaicum Berlin (CJB): Julius Popper #4600 und 4601.

4. Hans-Joachim Bechtoldt: Jüdische deutsche Bibelübersetzungen vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2005.

5. Franz Brückner: Häuserbuch der Stadt Dessau (in Teilen), Stadtarchiv Dessau 1975ff (zu Popper: S. 530; zu Neubürger: S. 201, 709ff, 712, 732)

6. Gerhard Salinger: Zwischen Zeit und Ewigkeit. Ein Rückblick und Beitrag zum Leben und Schicksal der Juden in Stolp in Pommern. Selbstverlag Wedel 1991.

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 4)

War die Herkunft der Familie Liedtke aus der Gemeinde Christburg in Westpreußen vor allem jüdisch geprägt, so änderte sich dies mit dem Umzug nach Berlin. Ernst Liedtke ließ sich protestantisch taufen (22. September 1910) und trat aus der jüdischen Gemeinde aus (28. November 1910) – in dieser Reihenfolge (Bild 1) (siehe mittendran vom 10. Juli 2025); dann heiratete er im Februar 1911 Emmy Fahsel-Rosenthal.

Bild 1: Bescheinigung über den Austritt aus der jüdischen Gemeinde ((Quelle: Simon May (3))

Die Familie Fahsel aus Hamburg

Seine Ehefrau stammte aus einer protestantischen Familie in Hamburg: Georg Johannes Wilhelm Fahsel (1861-1896) war das älteste von vier Kindern des Georg Wilhelm Fahsel und dessen Ehefrau Marie Henriette Friederike, geborene Zander. Wilhelm Fahsel verlobte sich im April und heiratete am 19. Oktober 1889 Adele Caroline Dütschke (1864-1942) aus Hamburg, Tochter des Korrespondenten Leopold Wilhelm Dütschke und dessen Ehefrau Bertha, geborene Hecht. Mit der Heirat zog das Ehepaar Adele und Wilhelm Fahsel nach Kiel, wo er ab 1890 bei der Nordostsee-Zeitung als Inspector arbeitete und zuletzt (1893) Verleger war. In Kiel kamen zwei Kinder zur Welt, die am 30. August 1890 geborene Emmy und der am 2. November 1891 geborenen Helmut. Im Jahr 1894 zog die Familie nach Berlin, Wilhelm Fahsel wurde Redakteur bei der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die in der Friedrichstadt, dem Zeitungsviertel, residierte (Wilhelmstraße 32). Die Fahsels wohnten zunächst (1895) in der Belle-Alliance-Straße 58, dann und bis zuletzt in der Möckernstraße 85 (Bild 2).

Bild 2: Adressen der Familie Fahsel 1895 und 1898, sowie der Standort der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung 1899; in dem Jahr war die Familie Fahsel nicht mehr im Adressbuch.

Wilhelm Fahsel verstarb am 15. April 1896 mit nur 36 Jahren an Tuberkulose. Seine beiden Kinder, Emmy (1890-1965) und Helmut (1891-1983) wurden nach dem Tod des Vaters von dem kinderlosen jüdischen Ehepaar Arthur Salli Rosenthal (1848-1914) und dessen Frau Emma Emily Louise geborene Dütschke (1857-1925) in Berlin aufgezogen; Emily war eine Tante der Kinder, die Schwester von Adele Fahsel. Emily war seit 1889 mit Salli Rosenthal verheiratet, einem Bankier aus Berlin. Das Ehepaar Rosenthal wohnte ab 1890 zunächst in der Friedrichstraße 4 und ab 1902 in der Kurfürstenstraße 53, zwischen Genthiner Straße und Derfflingerstraße. Warum die leibliche Mutter, Adele Fahsel, sich nicht in der Lage sah, die Kinder selbst aufzuziehen, die jetzt sieben und acht Jahre alt waren, ist nicht bekannt, aber vermutlich musste sie nach dem Tod ihres Mannes ihren Lebensunterhalt verdienen und hatte kaum eine Chance, zugleich zwei Kinder „durchzufüttern“. Also ließ sie sie in der Stadt, in der sie schon waren, und bei Pflegeeltern, die sie vermutlich schon kannten. Ein nachvollziehbarer Grund, wenn auch nicht unbedingt für die beiden Kinder, war es, Minderjährige nicht im gleichen Haushalt mit einem Tbc-kranken Elternteil zu lassen. Möglicherweise wurden daher die Kinder bereits früher, nach dem Umzug nach Berlin (1894) und vor dem Tod des Vaters (1896), zu den Rosenthals gekommen. Dafür spricht, dass nach den Erinnerungen von Henriette von Gizycki (1857-1944) (1), die später den jungen Helmut Fahsel als Pensionsgast in ihren Haushalt aufnahm, dieser bereits mit fünf Jahren, d.h. 1896 zu den Rosenthals gekommen war. Für die beiden Kinder wird dieses „Weggeben“ nicht ohne emotionale Folgen geblieben sein, hatte doch die spätere Familie, Emmy und Ernst Liedtke, eher förmlichen Umgang mit Adele Fahsel.

Bild 3: Anzeige im Berliner Tagblatt vom 7.7.1925 zum Tode von Emma Rosenthal, geborene Dütschke durch ihre Schwester Adele.

Der Verbleib von Adele Fahselist bislang weitgehend unklar, aber in den Jahren 1925 bis 1929 sowie 1942, bei ihrem Tod, hatte sie wieder eine Berliner Adresse: Zwischen 1925 und 1929 wohnte die Privatiere A. Fahsel in der Potsdamer Straße 45, und sie gab auch die Zeitungsanzeige anlässlich des Todes ihrer Schwester Emily 1925 auf (Bild 3). In der Sterbeurkunde 1942 ist Adele Fahsels Adresse Budapester Straße 43 in Charlottenburg, aber im Adressbuch ist sie darunter nicht zu finden (Bild 4). In diesem Haus gab es zum einen ein Fremdenheim, also eine Schlafgelegenheit, nicht mehr, in dem sie gewohnt haben könnte – was auf Verarmung hinweisen würde. Andererseits war in dem Haus seit 1940 das Fotostudio ihrer Enkeltochter Ilse Liedtke (Bild 5), der ältesten Tochter von Emmy und Ernst Liedtke – auch dies könnte eine temporäre, sicherlich keine dauerhafte Unterkunft gewesen sein. 

Bild 4: Sterbeurkunde der Adele Fahsel, geb. Dütschke aus dem Jahr 1942. Ihre Adresse ist Budapester Str. 43.
Bild 5: Adressbucheintrag Budapester Str. 43 für das Jahr 1942. Rot markiert ist das Fotostudio der Ilse Liedtke, Enkelin von Adele Fahsel.

Für die Zeit zwischen 1899 und 1924 und von 1930 bis 1942 fehlt jegliche Information, wo Adele Fahsel gelebt haben könnte, auch Hamburg ist eine Möglichkeit, immerhin lebten ihre Geschwister dort bis in die 40er Jahre. Das würde auch einen Zufallsfund im Zeitungsarchiv (2) erklären: Dort fanden wir eine Notiz, wonach Rechtsanwalt Ernst Liedtke und Mutter aus Berlin im August 1907 im Alster-Hotel in Hamburg wohnten – möglicherweise machte er mit seiner Mutter einen Antrittsbesuch bei seiner zukünftigen Schwiegermutter, Adele Fahsel. Dagegen spricht aber, dass Emmy Fahsel-Rosenthal zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt war. Das spätere Verhältnis von Ernst Liedtke zu seiner Schwiegermutter war, laut Auskunft von Simon May, „stiff and polite to each other when they had no choice but to meet, but there was no intimacy and friendship there„.

Kaplan Fahsel

Über das Leben der beiden Pflegekinder des Ehepaaren Rosenthal gibt es mehr Informationen: Emmy wurde, als sie sechzehn Jahre alt war (1906), von den Pflegeeltern in ein Internat in die Schweiz (Montreux) geschickt, und in dieser Zeit auch Ernst Liedtke vorgestellt, der sie 1910 heiratete – da war sie gerade mal 19 Jahre alt und 16 Jahre jünger als ihr Mann (3). Der Junge, Helmut Fahsel, wurde 1906 von seiner Pflegemutter Emily zur weiteren Betreuung in eine andere Familie gegeben: Henriette von Gizycki (1885-1945) geborene Salamonski hatte 1908 ihren Mann, Schulrat Dr. Paul Oscar von Gizycki, verloren und lebte mit ihren drei minderjährigen Kindern, zwischen 15 und 20 Jahre alt, in einem großen Haushalt in Karlshorst (Augusta-Viktoria-Straße 24) (Bild 6). Sie war aber finanziell hinreichend versorgt, so dass sie beschloss einen „Pensionsgast“ aufzunehmen (1). Bei ihr meldete sich1909 Emily Rosenthal und klagte über ihr Eheleben, vor allem aber darüber, dass ihr Mann den inzwischen 17-jährigen Helmuth zu sehr verwöhne: „Als mein Schwager, Wilhelm Fahsel, im Jahr 1896 starb, nahmen wir den fünfjährigen Jungen zu uns. Ich hoffte damals, daß dieses Kind ein Friedensengel in unserer unglücklichen Ehe werden würde. Bald aber sah ich mich getäuscht. Mein Mann verwöhnt den Jungen, hielt ihm Gouvernanten und Hauslehrer und blieb derselbe unverbesserliche Gatte …“ (1). Helmut Fahsel wuchs in ihrem Haushalt auf.

Bild 6: Postkarte der Auguste-Viktoria-Straße in Karlshorst. In einer dieser Villen wohnte Helene von Giszycki mit ihren Kindern und ihrem Pensionsgast Helmut Fahsel.

Durch das Buch ist der weitere Lebensweg des jungen Mannes öffentlich geworden: Nach dem „Sturm und Drang“ seiner Jugendzeit, in dem wohl (homo-)erotische und sexuelle Aspekte der Körperbildung (Boxen, Bodybuilding) in Einklang zu bringen waren mit philosophischen und religiösen Schwärmereien, konvertierte er zum Katholizismus, studierte Theologie und ging als „Kaplan Fahsel“ in die Welt hinaus (Bild 7). In einem Büchlein von 1925, betitelt „Meine Vorträge“ (5), begründet er seine Absicht, Philosophie allgemein verständlich zu vermitteln. Er wurde offenbar ein begabter Redner und Referent, wenngleich das Spektrum seiner Vorträge auch heute noch Kopfschütteln verursachen mag: In den Jahren 1927 bis 1930 referierte er zu „Ehe und Eros“, „Rousseau: Natur, Kultur und Übernatur“, „Schopenhauer: Weltwille, Buddhismus und Mystik“, „Nietzsche: Ästhet, Freigeist und Übermensch“, „Shaws Heilige Johanna“, „Das Moderne Sexualproblem“, „Kunst und Moral“, „Der Faustische Mensch“, „Konnersreuth und das Wesen der christlichen Mystik“ und anderes mehr, und das ist nur eine Auswahl der in Hamburg gehaltenen Vorträge.

Bild 7: Foto des Kaplans Helmut Fahsel im Jahr 1929 (Fotostudio Hubert Will, Quelle: Wikipedia, gemeinfrei, auch in (1)).

Bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 engagiert er sich publizistisch gegen die antisemitischen Ausschreitungen der Nazis, gemeinsam mit anderen Intellektuellen und Politikern, z.B. Thomas Mann (1875-1955) (Bild 8). Unter dem Druck des Nationalsozialismus emigrierte er in die Schweiz, wo er bis 1983 lebte, arbeitete und publizierte (4). Einen jüdischen familiären Hintergrund, den er über seine Großmutter mütterlicherseits hatte, negierte er bis zum Schluss, durchaus vergleichbar zu den übrigen Familienmitgliedern der Liedtke-Familie, für die diese Verdrängung die Rettung vor den Nazis bedeutete – siehe dazu das Buch von Simon May (3).

Bild 8: Aufruf politischer und kultureller Prominenter gegen antisemitische Hetze aus dem Jahr 1930 (Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, H XVII: 0014.0010).

Literatur:

1. Henriette von Gizycki: Kaplan Fahsel in seinem Werdegang, unter Zuhilfenahme seiner Briefe und Aufzeichnungen. Buchverlag Germania A.G. Berlin 1930.

2. Zeitungsnotiz im Hamburger Fremdenblatt vom 14.8.1907: Rechtsanwalt E. Liedtke und Mutter aus Berlin im Alster Hotel.

3. Simon May: How to be a refugee. Picador Publ., London 2021

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Fahsel

5. Helmut Fahsel: Meine Vorträge. Herder Verlagsbuchhandlung Freiburg im Br. 1925.

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 4)

Auf der Suche nach Informationen über Leben und Arbeiten des Apothekers Dr. Curt Levy nach seiner Emigration nach Brasilien 1936 sah es zunächst eher düster aus – selbst eine Suche in den Unterlagen des Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin, in dem Konsulats- und Botschaftsdokumente archiviert werden, ergab keine Hinweise. Einzige Quelle bis dato: Das Buch des Apothekers Frank Leimkugel über „Wege jüdischer Apotheker: Emanzipation, Emigration, Restitution“ von 1999 (1). Leimkugel hatte mit seiner Recherche 1990 an der Universität Heidelberg promoviert. Das Buch in einer 2. Auflage enthielt einen kurzen Abschnitt über Curt Lewy, der Hinweise und Details enthielt, die bei unseren Recherchen bislang nicht aufgetaucht waren und die Vermutung nahelegten, dass er eine Quelle in der Familie gehabt haben könnte. Dem war so, und Prof. Leimkugel war so freundlich, uns all die Dokumente in seinem Besitz in Kopie zur Verfügung zu stellen, die er 1987 von einer Tochter von Curt Lewy und seiner Frau Johanna erhalten hatte. Diese Unterlagen ergänzen einiges von dem, was wir bisher geschrieben haben, aber vor allem erlauben sie uns eine ausführlichere Darstellung dieses vierten Teils der Familiengeschichte; und wir haben ein Foto von Curt Lewy (Bild 1).

Bild 1: Foto von Curt Lewy im – geschätzten – Alter von 50 Jahren (1950) (Fotograf unbekannt, Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung).

Emigration oder Flucht?   

Bertold Brecht hat darauf bestanden (2), dass das unfreiwillige Verlassen Deutschlands nach 1933 nicht Emigration, sondern Flucht und Vertreibung genannt werden muss:

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:
Emigranten.
Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da
aufnahm …

Dies trifft natürlich auch und in besonderem Maße auf Curt Lewy zu, der sich selbst ja zu den nationaldeutschen Juden zählte, die bereit waren, ihr Judentum abzulegen und sich vollständig zu assimilieren. Um so härter muss es ihn getroffen haben, dass die nach der Machtergreifung 1933 erlassenen antisemitischen Gesetze auch ihn gezwungen hatten, die Apotheke zu verkaufen und die Heimat zu verlassen um der eigenen Sicherheit willen wie auch der seiner Familie. 

Andererseits sieht seine Flucht eher geordnet aus, wie die Unterlagen aus Brasilien zeigen. Zum einen meldete er sich ordentlich ab bei den Vereinen und Verbänden, in denen er organisiert war, bis hin zum „Verein der Inhaber der Rettungsmedaille am Bande und anderer Auszeichnungen für Rettung aus Gefahr (E.V.) Gegr. 1902„. Zum anderen meldete er seinen Auswanderungsplan nicht nur der Polizeibehörde (Abmeldung vom 1. Juli 1936) (Bild 2), sondern auch dem Wehrbezirkskommando, das gegen die Auswanderung keine Bedenken erhob, aber darum bat, dass er sich unmittelbar nach Ankunft in Brasilien im dortigen deutschen Konsulat melden möge (Schreiben vom 10. Juli 1936). Wir wissen nach wie vor nicht, wann genau und wie die Familie nach Rio de Janeiro gereist ist, vermutlich mit einem Schiff, denn Curt Lewy meldete sich vier Wochen später, am 18. August 1936 in der deutschen Botschaft in Rio de Janeiro. Wir wissen auch nicht, ob er für diese Ausreise einen Teil des Erlöses des Apothekenverkaufs, für den er 100.000 Reichsmark in bar erhalten hatte, als Reichsfluchtsteuer abführen musste. In Anbetracht der Tatsache, dass er dem neuen Apothekenbesitzer einen Teil des Kaufbetrages, weitere 100.000 Mark, für zehn Jahre als Darlehen stundete, lässt sich auch vermuten, dass Curt Lewy das Land für eine Weile verlassen wollte, aber durchaus damit rechnete, wieder zurückzukommen. Also vielleicht doch eher – erzwungene – Emigration denn Flucht?

Bild 2: Polizeiliche Abmeldung von Curt Lewy und Familie 1936 (Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung)

Aus 10 Jahren Brasilien wurden 25 Jahre

Nach der Meldung auf der Deutschen Botschaft gelang es Curt Lewy, innerhalb weniger Monate eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, da er mit Datum vom 25. November 1936 einen Arbeitsausweis (Carteira Profissional des Ministerio do Trabalho, Industria E Comercio Nr. 70916, Serie 272) erhielt (Bild 3). In diesen Ausweis wurden Informationen zu Geburt, Herkunft, Familienstand, Beruf, gegenwärtige Adresse und Datum der Einreise nach Brasilien (4. August 1936) festgehalten, außerdem Informationen zur Ehefrau, dem Datum der Heirat (27. Februar 1927) und die Geburtsdaten der Kinder: Justus (Justo) war am 15. Februar 1930 in Berlin geboren worden, und eine Tochter, Beatriz, kam am 20. Februar 1937 in Rio de Janeiro zu Welt, sechs Monate nach der Ankunft der Familie in Brasilien.

Bild 3: Arbeitsausweis von Curt Lewy in Brasilien (Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung)

Auf den folgenden Seiten des Arbeitsausweises sind die Arbeitsverhältnisse dokumentiert, die Curt Lewy in den folgenden Jahren einging. Den Anfang machte eine Beschäftigung vom 1. März 1937 bis 15. März 1938 in der Apotheke des Almeida Ullmann in Rio de Janeiro (Sete al Selembro 81) als Leiter von Verkauf und Labor.

In den zehn Jahren zwischen dem Ende dieser ersten Tätigkeit 1938 und der nächstfolgenden Eintragung im Ausweis im Jahr 1948 hatte Curt Lewy gemäß den Ausführungen von Leimkugel (1) die „Farmacia Ultramar“ erworben und betrieben, gemeinsam mit dem Berliner Apotheker Heinz Ehrlich (1907-1962), geboren in Tarnowitz und verstorben in Montevideo, Uruguay. 

Über diesen Zeitraum liegen uns zurzeit keine weitere beruflichen Informationen vor, wohl hingegen solche über private Veränderungen. Zum einen starb seine Mutter am 1. Mai 1939 in Rio de Janeiro. Zum anderen wurde die Ehe mit Johanna geborene Breslauer nach Kriegsende einvernehmlich, aber nach brasilianischem Recht (desquite) geschieden. Dies erforderte damals – wie heute noch (3) – eine förmliche Anerkennung der Scheidung nach deutschem Recht, für das seinerzeit das Landgericht des Ortes zuständig war, in dem die Ehe geschlossen worden war, nämlich Berlin. Das führt zu einer paradoxen Situation:

Johanna Breslauer flog am 24. Januar 1948 von Rio de Janeiro nach New York und heiratete bereits am 10. Februar 1848 in Greenwich, Connecticut, USA den Adolfo Arkin, dessen weitere Lebensdaten wir nicht kennen. Curt Lewy beantragte die Scheidung – über die Deutsche Botschaft – beim Berliner Landgericht. Das bestätigte die Scheidung erst am 22. März 1952, sie wurde am 7. April 1952 im Standesamtsregister eingetragen (Bild 4). Drei Jahre später, am 26. Dezember 1955, heiratete Curt Lewy in La Paz, Bolivien in der dortigen Deutschen Botschaft Vera Fröhlich, geboren am 3. November 1909 in Breslau. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg, am 12. September 1946 aus Gotenburg (Schweden) nach Brasilien eingewandert, zu diesem Zeitpunkt noch unter ihrem Ehenamen Vera Schlesinger und in Begleitung ihres 11-jährigen Sohnes Klaus aus erster Ehe.

Bild 4: Beischrift auf der Heiratsurkunde 1927 von Curt Lewy und Johanna Lewy geb. Breslauer, in der die Scheidung von 1952 bestätigt wird (Quelle: Ancestry)

Etwa um die Zeit der Scheidung (1948) muss Curt Lewy die gemeinsam mit Heinz Ehrlich geführte Apotheke aufgegeben haben. Vom 1. April 1948 bis zum 30. August 1952 war er bei der pharmazeutischen Firma CEKACE Farmaceutica Ltd. in Rio de Janeiro angestellt, vom 1. September 1952 bis zum 31. Januar 1956 bei einer anderen pharmazeutischen Firma am gleichen Ort (Hans Molinari & Co.) als wissenschaftlicher Mitarbeiter, und schließlich vom 1. Februar 1956 bis  31. März 1962 bei der Firma BYKOFARMA in Sao Paolo, der brasilianischen Tochter der deutschen Firma Byk Gulden in Konstanz, als Leiter der Propangas-Abteilung in Rio (Bild 5). Von dort kehrte er 1962 nach Deutschland zurück, nachdem er bereits 1950 im Rahmen eines Wiedergutmachungsantrags Anspruch auf Erstattung seiner Apotheke und der Apothekenlizenz gestellt hatte. Über die Rückkehr und den Verlauf dieses Antrags bis zu seinem Tod 1985 werden wir in einem letzten Beitrag berichten.

Bild 5: Beschäftigungsnachweis für Curt Lewy bei der braslilianischen Tochter der deutschen Pharma-Firma Byk Gulden (Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung)

Literatur

1. Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration und Restitution: Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. 2. Aufl., Govi-Verlag 1999. Die erste Auflage war zugleich Dissertation an der Universität Heidelberg 1990 unter dem Titel: Weg und Schicksal jüdischer Apotheker deutscher Muttersprache.

2. Bertold Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. Aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. Suhrkamp Verlag 2000.

3. https://brasil.diplo.de/br-de/service/familie/anerkennung-scheidung-1341440