Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 1)

Manche Geschichten sind längst geschrieben, auch die der Familie Liedtke (1), die ich vor einiger Zeit hier vorgestellt hatte. Aber wenn man sie dann gelesen hat, fällt auf, dass der Geschichte einer Person, einer Familie oder einer Firma im Lützow-Viertel eine Vorgeschichte fehlt, die klärt, wie die Person, Familie oder Firma überhaupt ins Viertel gelang ist. So auch hier: Simon May, der in und mit dem Buch seine jüdische Herkunft entdeckt und erkundet, recherchierte rückwärts bis zu seinem Großvater, dem Rechtsanwalt Dr. Ernst Liedtke und dessen Ehefrau Emmy Liedtke, geborene Fahsel-Rosenthal, die im Blumeshof 12 wohnten (Bild 1). Neugierig geworden, wollten wir wissen, woher die eigentlich kamen …

Bild 1: Ernst und Emmy Liedtke 1926 (Foto aus (1) mit Erlaubnis von Simon May).

Die Herkunft aus Christburg in Westpreußen

Der Name Liedtke war zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Gegend um Danzig nicht selten, die Suche wäre aber wesentlich schwieriger geworden, wenn die Liedtkes nicht jüdisch, sondern katholisch gewesen wären. Christburg (heute: Dzierzgon, Polen) kam mit der ersten Teilung Polens 1776 zu Preußen (Provinz Westpreußen), und im Unterschied zu der Zeit vor 1776 galten danach preußisch-administrative Regeln der Bevölkerungsregistrierung, -statistik und -kontrolle. Daher wissen wir, dass es 1770 keine Juden in Christburg gab, aber 1812 vier jüdische Familien: Daniel Marcus, Moses Laser, Benjamin Isaac, Marcus Matthias Moses (2); darunter waren also keine Angehörigen einer Familie Liedtke. Vermutlich gab es aber einige Familien mehr, die nicht den Status von „naturalisierten“, sondern den von „geduldeten“ Juden hatten. 

Aufgrund einer preußischen Verordnung mussten sich 1812 alle jüdischen Erwachsenen einen Nachnamen zulegen, und diese neuen Namen wurden zusammen mit ihren traditionellen Namen (Jakob ben Abraham ben Salomon = Jakob Sohn des Abraham Sohn des Salomon = Jakob Abraham Salomon) im Amtsblatt veröffentlicht.  Ein Meyer Lewin in Christburg nannte sich ab 1812 Meyer Liedtke, der einzige jüdische Liedtke in Christburg. Andere Familien mit dem Namen Lewin haben sich anders benannt (Lewinsohn etc.); zu diesem Zeitpunkt gab es 55 jüdische Haushalte in Christburg (3). Dieser Meyer Liedtke war vermutlich der Urgroßvater von Ernst Liedtke, dem Berliner Rechtsanwalt. Er muss zu diesem Zeitpunkt (1812) mindestens 24 Jahre alt, d.h. volljährig gewesen sein, wurde somit um oder vor 1788 geboren, wobei wir nicht wissen wo, und mit wem er verheiratet war.

Großeltern, Onkel und Tanten, Eltern des Ernst Liedtke

Die weitere Generationenfolge wissen wir aufgrund von gerichtlichen Eintragungen von Personenstandsänderungen (Geburten, Heiraten Sterbefälle) bei Personen, die keiner Kirche angehörten, sogenannten Dissidenten. Diese Dissidentenregister sind bis zur Einführung des Personenstandsrechts (Standesämter) im Deutschen Reich 1876 (im ehemaligen Preußen 1874) die wichtigsten Quellen jüdischer Familienforschung, ähnlich bedeutsam wie die Kirchenbücher der Katholiken und Protestanten, nur oftmals bei weitem nicht so sorgfältig geführt und erhalten. Für Christburg gibt es diese Register von 1847 bis 1875, entweder im polnischen Staatsarchiv in Danzig oder im Family Search Center der Kirche der Heiligen der letzten Tage, den sogenannten Mormonen, die diese Register fotografiert und online zugänglich gemacht haben (4).

Folgende fünf Ereignisse, zwei Geburten, ein Todesfall und zwei Eheschließungen, konnten wir in den Registern von Christburg finden:

1. die Geburt von Caspar (Chaskel) Liedtke am 23.  September 1847; 

2. der Tod des Casper Liedtke am 25. September, 1849;

3. die Geburt von Rosalie (Rahle) Liedtke am 6. Juni 1850 (Bild 2);

Bild 2: Geburts- bzw. Sterbeeinträge aus dem Dissidentenregister (aus: (4)).

4. die Heirat von Rosalie (Rahle) Liedtke am 29. Januar 1872 mit Louis Hirschberg aus Culm (heute: Chelmno, Polen).

5. die Heirat von Meyer Liedtke am 25. Februar 1874 mit Clara, geb. Henschel, Tochter des Kaufmanns Leyser Henschel aus Graudenz in Westpreußen (heute: Grudziadz, Polen) (Bild 3).

Bild 3: Zwei Hochzeitseinträge aus dem Dissidentenregister (aus: (4))

Meyer Liedtke war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt; er war bei seinem Tod am 8. April 1894 nur 52 Jahre alt: Daraus lässt sich ein Geburtsdatum zwischen dem 26. Februar und 7. April 1842 errechnen.

Am 29. März 1843, wurde sein Bruder Salomon Liedtke geboren, wie wir aus dessen Heiratsurkunde wissen: er heiratete am 24. November 1879 in Mewe (heute: Gniew, 60 km südwestlich von Christburg) Franziska Löwenstein, dort geboren am 5. Juni 1859. Sie war die Tochter des Kaufmanns Isaak Löwenstein und dessen Ehefrau Cäcilie geborene Elias, beide vor 1909 verstorben. Aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor, Julius Liedtke, dessen Geburtsdatum wir bislang nicht kennen.

In der Liedtke-Henschel-Ehe wurden zwei Kinder geboren: Ernst Liedtke, geboren am 15. Juli 1875, der späteren Rechtsanwalt im Blumeshof, und Theodor Liedtke, geboren 10. Juni 1885. Ob in den 10 Jahren zwischen diesen beiden Geburten weitere Kinder auf die Welt kamen, die nicht überlebt haben, ist nicht bekannt. Da aber inzwischen die Standesamtsregistrierung obligatorisch war, ist dies eher unwahrscheinlich, da die Urkunden aus dieser Zeit sowohl in polnischen Archiven als auch – über Zweitschriften – im Berliner Landesarchiv gesammelt wurden und über die Genealogie-Plattform Ancestry zugänglich sind.

In allen diesen Fällen waren die im Dissidentenregister bzw. im Standesamt eingetragenen Eltern der vier Kinder (Salomon, Meyer, Casper, Rosalie) Tobias Liedtke und dessen Ehefrau Fanni (Fanny, Feine) geborene Löwenthal. Wenn diese vor 1842 (der Geburt von Meyer) verheiratet waren, müssten sie um oder vor 1818 geboren worden sein, Volljährigkeit vorausgesetzt. Hier half uns ein Zufall: In einer Mitteilung des Amtsblattes für den Regierungsbezirk Marienwerder vom 30. August 1878 wurde Tobias Liedtke, 67 Jahre alt, für die Rettung zweiter Kinder vor dem Ertrinken lobend erwähnt (Bild 4). Er war daher im Jahr 1810 oder 1811 geboren worden. Tobias Liedtke ist mit Sicherheit der Großvater des Ernst Liedtke, Meyer Liedtke sein Vater, Salomon Liedtke sein Onkel und Rosalie Liedtke seine Tante.

Bild 4: Meldung aus der Amtspresse der Regierung vom 30. August 1878.

Eine andere jüdische Familie Liedtke, oder doch die gleiche?

Tobias Liedtke wurde in den oben genannten Urkunden von 1847, 1849, und 1850 als Gastwirt, 1872 aber als Kaufmann in Christburg bezeichnet. Dies wirft ein weiteres, bislang ungelöstes Rätsel auf: Es gab in Christburg einen Gastwirt namens Drewitz Liedtke, verheiratet mit einer Finne, geborene Löwenthal; deren Sohn, der Kaufmann und Reisende Schiers (Simon) Liedtke, geboren am 23. August 1845 in Christburg, heiratete am 27. Februar 1886 in Berlin die Lydia Freudenberg (Bild 5). Sie war am 9. Mai 1862 in Berlin geboren worden und Tochter des Kaufmanns Gustav Freudenberg und dessen Ehefrau Friederike, geborene Frank, beide aus Berlin. Simon und Lydia hatten einen Sohn, Theodor, der am 21. Mai 1887 in Berlin geboren wurde (Bild 6). 

Bild 5: Heiratsurkunde Schiers Liedtke mit Lydia Freundenberg (aus: Ancestry)
Bild 6: Geburtsurkunde von Theodor Liedtke aus Berlin (Quelle: Ancestry).

Drewitz Liedtke könnte ein Bruder des Tobias Liedtke sein, und Finne Löwenthal eine Schwester der Fanni Löwenthal, aber es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass Drewitz=Tobias und Finne=Fanni waren, da die Namen Drewitz und Finne nur durch zwei einzelne Einträge in einer Heirats- bzw. Sterbeurkunde viele Jahre später dokumentiert wurden. Uns erscheint dies die wahrscheinlichere Erklärung als die Heirat von zwei Liedtke-Brüdern mit zwei Löwenthal-Schwestern. Auch das Geburtsjahr von Schiers/Simon (1845) würde in die Geburtenfolge der anderen Kinder von Tobias und Fanni Liedtke passen.

In diesem Falle hätte Ernst Liedtke einen weiteren Onkel, einen Bruder seines Vaters, gehabt, und einen Cousin namens Theodor, der später, wie sein Bruder Theodor (siehe unten), von den Nationalsozialisten nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde (5). Wir haben diese Hypothese bislang nicht final überprüft, aber es würde Simon May, der viel Zeit und Energie in die Suche nach diesem, seinem vermeintlichen Großonkel verbracht hat (1), erneut überraschen, ihn nun doch zur weiteren Familie Liedtke zählen zu müssen.

Literatur

1. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.

2. Akte im Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA), Archiv Nr. I HA Rep. 104, IV C, Nr. 11: Tabelle von den Juden im westpreußischen Kammer-/Regierungs-departement für 1801 ohne Danzig und Thorn, Blatt 32/33, 60/61.

3. Gerhard Salinger: Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens. Teilband 3. New York 1908 (Eigendruck), Seite 707ff.

4. Jüdische Gemeinde Christburg (Kr. Stuhm): Matrikel 1847-1875 FamilySearch Centre: https://www.familysearch.org/de/search/

5. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/

Jüdische Apotheker, Ärzte und Wissenschaftler (1): Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 1)

Diese Story erzählt die Familien- und Lebensgeschichte der jüdischen Apothekerfamilie Lewy, die die Lützow-Apotheke an der Ecke Schillstraße/Wichmannstraße von 1904 bis 1938 betrieb (Bild 1), bevor der letzte Inhaber, Dr. Curt Lewy, aus Deutschland vertrieben wurde.

Bild 1: Die Lützow-Apotheke an der südlichen Ecke Schillstraße 7/Wichmannstraße 28. (Foto aus dem Landesarchiv Berlin, Fotograf unbekannt, um 1930 , F Rep. 290 (01) Nr. 0268831).

Familienherkunft

Die Lewys waren eine Berliner Familie, zumindest die vier Generationen, die wir mit konventionellen genealogischen Mitteln (Ancestry, Geni) übersehen können. Der Urgroßvater von Curt Lewy war Aron Israel Lewy, ein Berliner Lotterie-Untereinehmer und Handelsmann. Er war am 6. November 1782 in Pinne (polnisch: Pniewy) im Herzogtum Warschau geboren worden; Pinne gehörte seit der dritten Teilung Polens (1795) zu Preußen. Sein Vater Israel Aron Levy war dort „Schutzjude“ gewesen, d.h. er hatte ein offizielles Aufenthaltsrecht, und dort war er auch verstorben (1). Sein Sohn kam etwa 1798, mit 16 Jahren, nach Berlin. In der Liste der jüdischen Nachnamen von 1814 (2) ist er als Handlungsdiener Aron Israel Levy gelistet und wohnte in der Jüdenstraße 40. Das Bürgerrecht erhielt er am 8. März 1815. Er heiratete am 10. Dezember des gleichen Jahres Betty, die Tochter des Handelsmannes Moses Feiwisch aus Chodziesen (polnisch: Codziez; ab 1878 Colmar in Posen). Ihr vermutlich einziges Kind, ein Sohn, Israel Aron Lewy, wurde am 22. November 1816 in Berlin geboren wurde. Der Vater starb am 24. März 1853 (1).

Israel Aron Lewy hatte eine Ausbildung zum Goldarbeiter (Goldschmied-Gehilfe) gemacht, als er am 21. Juni 1838 das Bürgerrecht bekam. Er war Mitglied der Gehilfenkasse des Goldschmiedeamts und wohnte in der Friedrichstraße 73. Er heiratete am 25. August 1840 Johanna Bendix, die Tochter des Jacob Bendix, Schächter und Gemeindeschreiber der jüdischen Gemeinde Berlin. In der Liste der Nachnamen jüdischer Bürger in Preußen von 1814 ist er als Handelsmann gelistet (1). Aus dieser Ehe entstammten die Kinder Moritz (* 20. Juli 1841), Therese (* 14. Februar 1843), Gustav (* 9. Oktober 1844) und Abraham Adolf Lewy (* 1855). Ihr Vater machte sich derweil als Kunsthändler und Antiquar in Berlin einen Namen und durfte sich Hof-Antiquar nennen, weil Angehörige des Königshauses gelegentlich bei ihm vorbeischauten, und er erhielt aus diesem Grunde 1879 einen Orden (Bild 2).

Bild 2: Ordensverleihung für Aron Israel Lewy (Aachener Zeitung vom 9.3.1879).

Moritz und Therese verstarben früh, Gustav Lewy führte das Antiquariat seines Vaters weiter und erwarb dadurch internationales Ansehen, starb aber bereits 1900 im Alter von nur 55 Jahren. Abraham Adolf Lewy studierte Medizin und brachte es bis zum Sanitätsrat. Israel Aron Lewys Frau Johanna starb 1860 in Berlin. Drei Jahre später heiratete Israel Aron Lewy in zweiter Ehe am 27. Juli 1863 in Berlin die aus Fraustadt, Provinz Posen (heute: Wschowa, Polen) stammende Charlotte London, geboren am 7. Mai 1837. Dieser Ehe entstammten vier weitere Kinder: Betty, geboren am 27. Dezember 1864, Salomon, geboren 1865, der am 27. Mai 1867 geborene Albert Lewy, und Max Lewy, am 8. März 1869 zur Welt kam.

Betty heiratete 1887 einen Sigmund Zöllner und hatte mit ihm drei Kinder. Über Salomon (* 1865) wissen wir bislang nichts, außer dass er bereits 1912 nicht mehr am Leben war. Max wurde Porträtmaler und Bildhauer, heiratete 1903 eine Maria Schädler (1867-1940) und verstarb 1942 an Kreislaufversagen und Schlaganfall. Albert Lewy wurde Apotheker; ihn werden wir weiter begleiten. Der Vater Israel Aron Lewy verstarb 1894 in Berlin, und seine Frau verstarb am 21. April 1912 „nach kurzem, schwerem Leiden„.

Albert Lewy´s Apotheker-Ausbildung

Albert Lewy macht im Herbst 1886 das Abitur am Dorotheenstädtischen Realgymnasium in der Georgenstraße (Bild 3). Die Prüfung fand am 9. September 1886 statt, aber Albert wurde von ihr aufgrund seiner Leistungen entbunden. Dann studierte er Chemie an der Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) in Berlin: Immatrikulation war am 23. Oktober 1886, Exmatrikulation am 14. Dezember 1888 unter der Matrikel-Nummer 509 im 77. Rektorat (4). Daran schloss sich eine – vermutlich einjährige – Militärzeit sowie eine praktische Tätigkeit in einer oder mehrerer Apotheken. Nach deren Ende im Oktober 1893 arbeitete er, ausweislich des Lebenslaufs in seiner Dissertation, für kurze Zeit am 1. Chemischen Institut der FWU unter der Leitung von Prof. Dr. Emil Fischer, der 1902 den Nobelpreis für Chemie erhielt. Allerdings blieb er offenbar ohne einen Arbeitsvertrag, was durchaus üblich war; im Personalverzeichnis ist er jedenfalls nicht gelistet. Ostern 1895 legte er die pharmazeutische Staatsprüfung ab und erhielt am 15. Juni 1895 die Approbation zum Apotheker; da war er bereits in Erlangen. Zum Sommersemester 1895 wechselte er nämlich, wohl auf Empfehlung von Professor Fischer, zu dessen Vetter, dem Chemiker Prof. Otto Fischer, an die Universität Erlangen. Immatrikuliert hatte sich Albert Lewy an der Universität Erlangen am 1. Mai 1895 als Student der Chemie, wohnhaft in Erlangen, Heuwaagstraße 14. Nach drei weiteren Semestern des Studiums der Chemie promovierte er am 22. Juli 1896 zum Doktor der Philosophie. Der Titel seiner Doktor-Arbeit lautet: „Beitrag zur Kenntnis substituierter Ortho-Diamine“ und behandelt spezielle chemische Verbindungen, die später in der Kunststoff-Herstellung von Wichtigkeit wurden – noch waren diese nicht erfunden.

Bild 3: Das Dorotheenstädtische Realgymnasium (oben) (Zeitschrift für Bauwesen 1878) und deren Abiturienten des Jahres 1886 (Schulbericht des Jahres 1886, Auszug)

Im Jahr 1897 muss er nach Berlin gekommen sein, im Adressbuch von 1898 arbeitete der Apotheker Dr. Albert Lewy in der Königlich Privilegierten Löwen-Apotheke des Dr. J. Lewinsohn in der Lindenstraße 61, die ein Jahr zuvor noch in der Jerusalemstraße 30 residierte (Bild 4). Albert Lewy übernahm die Löwen-Apotheke im Jahr 1898. Und im gleichen Jahr im Dezember heiratete er in Gartz (Oder) Margareta Rosendorff (1877-1939), Tochter von Gustav Rosendorf aus Gartz und Nanny Rosendorf geborene Müllerheim aus Stolp (Hinterpommern) (Bild 5). Sechs Jahre später, zum 1. Oktober 1904, erwarb er die Lützow-Apotheke an der Wichmannstraße 28 vom Apotheker Dr. Ernst Kuhlmann.

Bild 4: Adressebuch-Eintrag für Apotheker Lewinsohn im Jahr 1897 (oben) und Anzeige der Übernahme der Apotheke durch Apotheker Lewy 1898 (Deutscher Reichsanzeiger vom 11.01.1898).
Bild 5: Verlobungs- (Berliner Börsen Curier vom 28.6.1898) und Heiratsmeldung (Berliner Tagblatt vom 3.12.1898).

Margarethe und Albert Lewy hatten zwei Kinder: den am 1. August 1899 geborenen Curt Lewy, der später die Apotheke seines Vaters übernehmen sollte (s. unten), und die am 1. November 1906 geborene Stephanie, die nicht einmal 8 Jahre später, am 5. Februar 1914, in Berlin verstarb (Bild 6).
 

Bild 6: Geburtsmeldung (Berliner Börsen Zeitung vom 14.1.1906) und Todesanzeige (Berliner Tagblatt vom 7.12.1914).

Die Lützow-Apotheke

Die Einrichtung einer neuen Apotheke „am Lützow-Platze an der Ecke der Schill- und Wichmannstraße“ wurde vom Ober-Präsidenten der Provinz Brandenburg mit Erlass vom 1. November 1886 bewilligt – zu diesem Zeitpunkt gab es in Berlin 89 Apotheken. Die Ausschreibung der Stelle des Leiters der Apotheke (sowie drei weiterer, zeitgleich bewilligter Apotheken) erfolgte am 16. November diesen Jahres. Ein Bewerber um die Stelle musste versichern, „daß er eine Apotheke bisher nicht besessen hat, oder sofern dies der Fall sein sollte, die Genehmigung des Herrn Ministers … zur abermaligen Bewerbung … vorzulegen“ (3). Damit sollte verhindert werden, dass Apotheken zur reinen Kapitalanlage wurden, wie es in der sogenannten „Gründerzeit“ (ab 1871) oftmals der Fall war (4). Am 5. Juni 1887 teilte der Polizeipräsident Freiherr von Richthofen mit, dass die Leitung der Lützow-Apotheke der Corps-Stabsapotheker Guido Steuer (1842-1896) aus Cassel (heute: Kassel) erhalten solle (Bild 7), der noch eine klassische Apotheker-Ausbildung hatte: 3,5 Jahre Lehrzeit in verschiedenen Apotheken, dann „Service-Zeit“, am Ende Provisor (erster Gehilfe), dazu noch einige Zeit als Student an einer Universität im Fach Pharmazie, um „Apotheker 1. Ordnung“ zu werden und sich in einer größeren Stadt niederlassen zu können (5); außerdem hatte er im deutsch-österreichischen Krieg 1866 im Feldlazarett gedient. Apotheker Steuer leitete die Apotheke bis zu seinem Tod 1896. Am 21. Februar 1898 kaufte der Apotheker Dr. Ernst Kuhlmann aus Geestemünde die Lützow-Apotheke von der Witwe Steuer. Er war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt, hatte, anders als Apotheker Steuer, eine akademische Ausbildung absolviert und am 12. Dezember 1886 die Approbation erhalten. Aber bereits 6 Jahre später, 1904, kaufte Dr. Albert Lewy, der zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alt war, die Apotheke und die Apotheken-Lizenz. Jetzt gab es im Adressbuch von Berlin bereits 142 Apotheken (3).

Bild 7: Briefkopf des Apothekers G.Steuer mit seinem Konterfei (aus: (3)).

Literatur

  1. Jacob Jacobson: Die Judenbürgerbücher der Stadt Berlin 1809-1851. Walter de Gruyter Verlag, Berlin 1962.
  2. 2 Amtsblatt der Königlichen Churmärkischen Regierung zu Potsdam. Beilage zum 40. Stück des Amtsblattes. Verzeichnis der in den Städten und auf dem platten Lande des churmärkischen Regierungsdepartements lebenden Juden … Potsdam 1814.
  3. Akten des Landesarchivs Berlin: A Pr. Br. Rep 030 Nr. 192 (Anlage neuer Apotheken) und A Rep. 32-08 Nr. 202 (Gesundheitsamt, Lützow-Apotheke).
  4. Akten des Archivs der Humboldt-Universität Berlin (Studentenliste der Philosophischen Fakultät, 77. Rektorat) und der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (UAE-C4, 3b Nr. 1991).
  5. Paul Enck: Die Apothekerfamilie Wendland. Eine mikrohistorische Studie aus dem Berliner Lützow-Viertel. In: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 2023, S.11-26.

Elsa Oestreicher (1878 – 1962): Eine Buchbesprechung

Ein lesenswertes Buch ist dieser Tage erschienen (1), über eine dieser „starken Frauen“ aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mehr Schicksalschläge erlebt haben als die meisten von uns, mehr als wir uns vielleicht sogar vorstellen können, und die dies nicht nur überlebt haben, sondern die wegen dieser Stärke auch die Kraft und den Mut hatten, weiterzuleben, weiterzumachen. Die Rede ist von der Berliner Jüdin Elsa Oestreicher (1878-1962), die die Einschränkungen, Restriktionen und Verfolgungen der Juden vor und nach 1933, die Deportation in das KZ Theresienstadt 1942 und die den Holocaust überlebte, die nach dem Krieg in die USA emigrierte und noch einmal von vorn anfing. Als sie starb, hinterließ sie ihre Veröffentlichungen, Tagebücher, Erinnerungen, Gedichte und Briefe dem Leo-Baeck-Institut in New York City. Dort sind sie öffentlich einsehbar (2); ausgewertet und zusammengefasst hat sie jetzt eine frühere Berlinerin, die in Wismar lebt, Nina Haeberlin, der zu danken ist für diese „Erinnerungsarbeit“ (Bild 1). 

Was Elsa Oesterreich mit dem Lützowviertel verband und verbindet: Sie führte von Oktober 1926 bis März 1932 die Kochschule der „Schule des Hausfrauenvereins Gross-Berlin“ (Bild 2), die in der Straße Am Karlsbad 12-13 ein Zuhause hatte, in der früheren Stadtvilla des Architekten Martin Gropius (1824-1880). Nach eigenen Angaben gab sie hier täglich drei Kurse und hielt Mittwoch nachmittags Vorträge zu Kochen und Backen vor Hausfrauen und Angestellten. Auch in anderen Vereinen, beispielsweise in der jüdischen Gemeinde, und in anderen Bezirken gab sie Kurse und hielt Vorträge. Und sie war regelmäßig Referentin im gerade erst entstanden Rundfunk, der Deutschen Welle, der nicht weit entfernt, im Vox-Haus am Potsdamer Platz, seine Sendestation hatte. 

Kochen hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, sie nutzte es in den Zeiten der Lebensmittel-Knappheit im und nach dem ersten Weltkrieg nicht nur selbst, sondern vermittelte es auch anderen: sie fing an, Schulungen abzuhalten und Vorträge zu geben zu kriegsgemäßem sparsamem Umgang mit Lebensmitteln, wurde Beraterin der Lebensmittel-Versorgungsstelle Zehlendorf. Sie nahm an Kochausstellungen der Warenhäuser Tietz und Wertheim teil, sie wurde in eine Schlichtungskommission für Hausangestellte in Wilmersdorf berufen. Das alles wiederum eröffnete ihr den Weg in eine eigenständig Berufstätigkeit.

Als sie 1932 die Schule der Hausfrauen verlassen musste, gründete sie 1933 eine eigene Kochschule in ihrer Privatwohnung in der Augsburger Straße 39, in der sie unterrichtete. Als auch dies nicht mehr möglich war, arbeitete sie in einem jüdischen Alters- und Siechenheim in Lichterfelde in hauswirtschaftlicher Funktion in der Küche, und zuletzt im Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße, das zu einem Durchgangslager für die Deportationen wurde. Selbst im KZ Theresienstadt übernahm sie die Organisation hauswirtschaftlicher Belange, unter extrem erschwerten Bedingungen. Dort entstanden auch ihre eindrücklichen, hier jetzt erstmals veröffentlichten Gedichte. Und kaum wieder in Freiheit und in den USA, arbeitete sie in der Manhatten Baking and Cooking School und gab wieder Kurse, bis 1952, als sie 74 Jahre alt wurde. Sie starb am 3. Oktober 1962 in New York.

1. Nina Haeberlin: Elsa Oestreicher. Spuren eines (Über-)Lebens. Berlin – Theresienstadt – New York. Callidus Verlag, Wismar 2025.

2. Leo-Baeck-Institut: https://archives.cjh.org//repositories/5/resources/18075