Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 4)

War die Herkunft der Familie Liedtke aus der Gemeinde Christburg in Westpreußen vor allem jüdisch geprägt, so änderte sich dies mit dem Umzug nach Berlin. Ernst Liedtke ließ sich protestantisch taufen (22. September 1910) und trat aus der jüdischen Gemeinde aus (28. November 1910) – in dieser Reihenfolge (Bild 1) (siehe mittendran vom 10. Juli 2025); dann heiratete er im Februar 1911 Emmy Fahsel-Rosenthal.

Bild 1: Bescheinigung über den Austritt aus der jüdischen Gemeinde ((Quelle: Simon May (3))

Die Familie Fahsel aus Hamburg

Seine Ehefrau stammte aus einer protestantischen Familie in Hamburg: Georg Johannes Wilhelm Fahsel (1861-1896) war das älteste von vier Kindern des Georg Wilhelm Fahsel und dessen Ehefrau Marie Henriette Friederike, geborene Zander. Wilhelm Fahsel verlobte sich im April und heiratete am 19. Oktober 1889 Adele Caroline Dütschke (1864-1942) aus Hamburg, Tochter des Korrespondenten Leopold Wilhelm Dütschke und dessen Ehefrau Bertha, geborene Hecht. Mit der Heirat zog das Ehepaar Adele und Wilhelm Fahsel nach Kiel, wo er ab 1890 bei der Nordostsee-Zeitung als Inspector arbeitete und zuletzt (1893) Verleger war. In Kiel kamen zwei Kinder zur Welt, die am 30. August 1890 geborene Emmy und der am 2. November 1891 geborenen Helmut. Im Jahr 1894 zog die Familie nach Berlin, Wilhelm Fahsel wurde Redakteur bei der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die in der Friedrichstadt, dem Zeitungsviertel, residierte (Wilhelmstraße 32). Die Fahsels wohnten zunächst (1895) in der Belle-Alliance-Straße 58, dann und bis zuletzt in der Möckernstraße 85 (Bild 2).

Bild 2: Adressen der Familie Fahsel 1895 und 1898, sowie der Standort der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung 1899; in dem Jahr war die Familie Fahsel nicht mehr im Adressbuch.

Wilhelm Fahsel verstarb am 15. April 1896 mit nur 36 Jahren an Tuberkulose. Seine beiden Kinder, Emmy (1890-1965) und Helmut (1891-1983) wurden nach dem Tod des Vaters von dem kinderlosen jüdischen Ehepaar Arthur Salli Rosenthal (1848-1914) und dessen Frau Emma Emily Louise geborene Dütschke (1857-1925) in Berlin aufgezogen; Emily war eine Tante der Kinder, die Schwester von Adele Fahsel. Emily war seit 1889 mit Salli Rosenthal verheiratet, einem Bankier aus Berlin. Das Ehepaar Rosenthal wohnte ab 1890 zunächst in der Friedrichstraße 4 und ab 1902 in der Kurfürstenstraße 53, zwischen Genthiner Straße und Derfflingerstraße. Warum die leibliche Mutter, Adele Fahsel, sich nicht in der Lage sah, die Kinder selbst aufzuziehen, die jetzt sieben und acht Jahre alt waren, ist nicht bekannt, aber vermutlich musste sie nach dem Tod ihres Mannes ihren Lebensunterhalt verdienen und hatte kaum eine Chance, zugleich zwei Kinder „durchzufüttern“. Also ließ sie sie in der Stadt, in der sie schon waren, und bei Pflegeeltern, die sie vermutlich schon kannten. Ein nachvollziehbarer Grund, wenn auch nicht unbedingt für die beiden Kinder, war es, Minderjährige nicht im gleichen Haushalt mit einem Tbc-kranken Elternteil zu lassen. Möglicherweise wurden daher die Kinder bereits früher, nach dem Umzug nach Berlin (1894) und vor dem Tod des Vaters (1896), zu den Rosenthals gekommen. Dafür spricht, dass nach den Erinnerungen von Henriette von Gizycki (1857-1944) (1), die später den jungen Helmut Fahsel als Pensionsgast in ihren Haushalt aufnahm, dieser bereits mit fünf Jahren, d.h. 1896 zu den Rosenthals gekommen war. Für die beiden Kinder wird dieses „Weggeben“ nicht ohne emotionale Folgen geblieben sein, hatte doch die spätere Familie, Emmy und Ernst Liedtke, eher förmlichen Umgang mit Adele Fahsel.

Bild 3: Anzeige im Berliner Tagblatt vom 7.7.1925 zum Tode von Emma Rosenthal, geborene Dütschke durch ihre Schwester Adele.

Der Verbleib von Adele Fahselist bislang weitgehend unklar, aber in den Jahren 1925 bis 1929 sowie 1942, bei ihrem Tod, hatte sie wieder eine Berliner Adresse: Zwischen 1925 und 1929 wohnte die Privatiere A. Fahsel in der Potsdamer Straße 45, und sie gab auch die Zeitungsanzeige anlässlich des Todes ihrer Schwester Emily 1925 auf (Bild 3). In der Sterbeurkunde 1942 ist Adele Fahsels Adresse Budapester Straße 43 in Charlottenburg, aber im Adressbuch ist sie darunter nicht zu finden (Bild 4). In diesem Haus gab es zum einen ein Fremdenheim, also eine Schlafgelegenheit, nicht mehr, in dem sie gewohnt haben könnte – was auf Verarmung hinweisen würde. Andererseits war in dem Haus seit 1940 das Fotostudio ihrer Enkeltochter Ilse Liedtke (Bild 5), der ältesten Tochter von Emmy und Ernst Liedtke – auch dies könnte eine temporäre, sicherlich keine dauerhafte Unterkunft gewesen sein. 

Bild 4: Sterbeurkunde der Adele Fahsel, geb. Dütschke aus dem Jahr 1942. Ihre Adresse ist Budapester Str. 43.
Bild 5: Adressbucheintrag Budapester Str. 43 für das Jahr 1942. Rot markiert ist das Fotostudio der Ilse Liedtke, Enkelin von Adele Fahsel.

Für die Zeit zwischen 1899 und 1924 und von 1930 bis 1942 fehlt jegliche Information, wo Adele Fahsel gelebt haben könnte, auch Hamburg ist eine Möglichkeit, immerhin lebten ihre Geschwister dort bis in die 40er Jahre. Das würde auch einen Zufallsfund im Zeitungsarchiv (2) erklären: Dort fanden wir eine Notiz, wonach Rechtsanwalt Ernst Liedtke und Mutter aus Berlin im August 1907 im Alster-Hotel in Hamburg wohnten – möglicherweise machte er mit seiner Mutter einen Antrittsbesuch bei seiner zukünftigen Schwiegermutter, Adele Fahsel. Dagegen spricht aber, dass Emmy Fahsel-Rosenthal zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt war. Das spätere Verhältnis von Ernst Liedtke zu seiner Schwiegermutter war, laut Auskunft von Simon May, „stiff and polite to each other when they had no choice but to meet, but there was no intimacy and friendship there„.

Kaplan Fahsel

Über das Leben der beiden Pflegekinder des Ehepaaren Rosenthal gibt es mehr Informationen: Emmy wurde, als sie sechzehn Jahre alt war (1906), von den Pflegeeltern in ein Internat in die Schweiz (Montreux) geschickt, und in dieser Zeit auch Ernst Liedtke vorgestellt, der sie 1910 heiratete – da war sie gerade mal 19 Jahre alt und 16 Jahre jünger als ihr Mann (3). Der Junge, Helmut Fahsel, wurde 1906 von seiner Pflegemutter Emily zur weiteren Betreuung in eine andere Familie gegeben: Henriette von Gizycki (1885-1945) geborene Salamonski hatte 1908 ihren Mann, Schulrat Dr. Paul Oscar von Gizycki, verloren und lebte mit ihren drei minderjährigen Kindern, zwischen 15 und 20 Jahre alt, in einem großen Haushalt in Karlshorst (Augusta-Viktoria-Straße 24) (Bild 6). Sie war aber finanziell hinreichend versorgt, so dass sie beschloss einen „Pensionsgast“ aufzunehmen (1). Bei ihr meldete sich1909 Emily Rosenthal und klagte über ihr Eheleben, vor allem aber darüber, dass ihr Mann den inzwischen 17-jährigen Helmuth zu sehr verwöhne: „Als mein Schwager, Wilhelm Fahsel, im Jahr 1896 starb, nahmen wir den fünfjährigen Jungen zu uns. Ich hoffte damals, daß dieses Kind ein Friedensengel in unserer unglücklichen Ehe werden würde. Bald aber sah ich mich getäuscht. Mein Mann verwöhnt den Jungen, hielt ihm Gouvernanten und Hauslehrer und blieb derselbe unverbesserliche Gatte …“ (1). Helmut Fahsel wuchs in ihrem Haushalt auf.

Bild 6: Postkarte der Auguste-Viktoria-Straße in Karlshorst. In einer dieser Villen wohnte Helene von Giszycki mit ihren Kindern und ihrem Pensionsgast Helmut Fahsel.

Durch das Buch ist der weitere Lebensweg des jungen Mannes öffentlich geworden: Nach dem „Sturm und Drang“ seiner Jugendzeit, in dem wohl (homo-)erotische und sexuelle Aspekte der Körperbildung (Boxen, Bodybuilding) in Einklang zu bringen waren mit philosophischen und religiösen Schwärmereien, konvertierte er zum Katholizismus, studierte Theologie und ging als „Kaplan Fahsel“ in die Welt hinaus (Bild 7). In einem Büchlein von 1925, betitelt „Meine Vorträge“ (5), begründet er seine Absicht, Philosophie allgemein verständlich zu vermitteln. Er wurde offenbar ein begabter Redner und Referent, wenngleich das Spektrum seiner Vorträge auch heute noch Kopfschütteln verursachen mag: In den Jahren 1927 bis 1930 referierte er zu „Ehe und Eros“, „Rousseau: Natur, Kultur und Übernatur“, „Schopenhauer: Weltwille, Buddhismus und Mystik“, „Nietzsche: Ästhet, Freigeist und Übermensch“, „Shaws Heilige Johanna“, „Das Moderne Sexualproblem“, „Kunst und Moral“, „Der Faustische Mensch“, „Konnersreuth und das Wesen der christlichen Mystik“ und anderes mehr, und das ist nur eine Auswahl der in Hamburg gehaltenen Vorträge.

Bild 7: Foto des Kaplans Helmut Fahsel im Jahr 1929 (Fotostudio Hubert Will, Quelle: Wikipedia, gemeinfrei, auch in (1)).

Bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 engagiert er sich publizistisch gegen die antisemitischen Ausschreitungen der Nazis, gemeinsam mit anderen Intellektuellen und Politikern, z.B. Thomas Mann (1875-1955) (Bild 8). Unter dem Druck des Nationalsozialismus emigrierte er in die Schweiz, wo er bis 1983 lebte, arbeitete und publizierte (4). Einen jüdischen familiären Hintergrund, den er über seine Großmutter mütterlicherseits hatte, negierte er bis zum Schluss, durchaus vergleichbar zu den übrigen Familienmitgliedern der Liedtke-Familie, für die diese Verdrängung die Rettung vor den Nazis bedeutete – siehe dazu das Buch von Simon May (3).

Bild 8: Aufruf politischer und kultureller Prominenter gegen antisemitische Hetze aus dem Jahr 1930 (Quelle: Stadtarchiv Braunschweig, H XVII: 0014.0010).

Literatur:

1. Henriette von Gizycki: Kaplan Fahsel in seinem Werdegang, unter Zuhilfenahme seiner Briefe und Aufzeichnungen. Buchverlag Germania A.G. Berlin 1930.

2. Zeitungsnotiz im Hamburger Fremdenblatt vom 14.8.1907: Rechtsanwalt E. Liedtke und Mutter aus Berlin im Alster Hotel.

3. Simon May: How to be a refugee. Picador Publ., London 2021

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Fahsel

5. Helmut Fahsel: Meine Vorträge. Herder Verlagsbuchhandlung Freiburg im Br. 1925.

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 4)

Auf der Suche nach Informationen über Leben und Arbeiten des Apothekers Dr. Curt Levy nach seiner Emigration nach Brasilien 1936 sah es zunächst eher düster aus – selbst eine Suche in den Unterlagen des Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin, in dem Konsulats- und Botschaftsdokumente archiviert werden, ergab keine Hinweise. Einzige Quelle bis dato: Das Buch des Apothekers Frank Leimkugel über „Wege jüdischer Apotheker: Emanzipation, Emigration, Restitution“ von 1999 (1). Leimkugel hatte mit seiner Recherche 1990 an der Universität Heidelberg promoviert. Das Buch in einer 2. Auflage enthielt einen kurzen Abschnitt über Curt Lewy, der Hinweise und Details enthielt, die bei unseren Recherchen bislang nicht aufgetaucht waren und die Vermutung nahelegten, dass er eine Quelle in der Familie gehabt haben könnte. Dem war so, und Prof. Leimkugel war so freundlich, uns all die Dokumente in seinem Besitz in Kopie zur Verfügung zu stellen, die er 1987 von einer Tochter von Curt Lewy und seiner Frau Johanna erhalten hatte. Diese Unterlagen ergänzen einiges von dem, was wir bisher geschrieben haben, aber vor allem erlauben sie uns eine ausführlichere Darstellung dieses vierten Teils der Familiengeschichte; und wir haben ein Foto von Curt Lewy (Bild 1).

Bild 1: Foto von Curt Lewy im – geschätzten – Alter von 50 Jahren (1950) (Fotograf unbekannt, Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung).

Emigration oder Flucht?   

Bertold Brecht hat darauf bestanden (2), dass das unfreiwillige Verlassen Deutschlands nach 1933 nicht Emigration, sondern Flucht und Vertreibung genannt werden muss:

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:
Emigranten.
Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da
aufnahm …

Dies trifft natürlich auch und in besonderem Maße auf Curt Lewy zu, der sich selbst ja zu den nationaldeutschen Juden zählte, die bereit waren, ihr Judentum abzulegen und sich vollständig zu assimilieren. Um so härter muss es ihn getroffen haben, dass die nach der Machtergreifung 1933 erlassenen antisemitischen Gesetze auch ihn gezwungen hatten, die Apotheke zu verkaufen und die Heimat zu verlassen um der eigenen Sicherheit willen wie auch der seiner Familie. 

Andererseits sieht seine Flucht eher geordnet aus, wie die Unterlagen aus Brasilien zeigen. Zum einen meldete er sich ordentlich ab bei den Vereinen und Verbänden, in denen er organisiert war, bis hin zum „Verein der Inhaber der Rettungsmedaille am Bande und anderer Auszeichnungen für Rettung aus Gefahr (E.V.) Gegr. 1902„. Zum anderen meldete er seinen Auswanderungsplan nicht nur der Polizeibehörde (Abmeldung vom 1. Juli 1936) (Bild 2), sondern auch dem Wehrbezirkskommando, das gegen die Auswanderung keine Bedenken erhob, aber darum bat, dass er sich unmittelbar nach Ankunft in Brasilien im dortigen deutschen Konsulat melden möge (Schreiben vom 10. Juli 1936). Wir wissen nach wie vor nicht, wann genau und wie die Familie nach Rio de Janeiro gereist ist, vermutlich mit einem Schiff, denn Curt Lewy meldete sich vier Wochen später, am 18. August 1936 in der deutschen Botschaft in Rio de Janeiro. Wir wissen auch nicht, ob er für diese Ausreise einen Teil des Erlöses des Apothekenverkaufs, für den er 100.000 Reichsmark in bar erhalten hatte, als Reichsfluchtsteuer abführen musste. In Anbetracht der Tatsache, dass er dem neuen Apothekenbesitzer einen Teil des Kaufbetrages, weitere 100.000 Mark, für zehn Jahre als Darlehen stundete, lässt sich auch vermuten, dass Curt Lewy das Land für eine Weile verlassen wollte, aber durchaus damit rechnete, wieder zurückzukommen. Also vielleicht doch eher – erzwungene – Emigration denn Flucht?

Bild 2: Polizeiliche Abmeldung von Curt Lewy und Familie 1936 (Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung)

Aus 10 Jahren Brasilien wurden 25 Jahre

Nach der Meldung auf der Deutschen Botschaft gelang es Curt Lewy, innerhalb weniger Monate eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, da er mit Datum vom 25. November 1936 einen Arbeitsausweis (Carteira Profissional des Ministerio do Trabalho, Industria E Comercio Nr. 70916, Serie 272) erhielt (Bild 3). In diesen Ausweis wurden Informationen zu Geburt, Herkunft, Familienstand, Beruf, gegenwärtige Adresse und Datum der Einreise nach Brasilien (4. August 1936) festgehalten, außerdem Informationen zur Ehefrau, dem Datum der Heirat (27. Februar 1927) und die Geburtsdaten der Kinder: Justus (Justo) war am 15. Februar 1930 in Berlin geboren worden, und eine Tochter, Beatriz, kam am 20. Februar 1937 in Rio de Janeiro zu Welt, sechs Monate nach der Ankunft der Familie in Brasilien.

Bild 3: Arbeitsausweis von Curt Lewy in Brasilien (Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung)

Auf den folgenden Seiten des Arbeitsausweises sind die Arbeitsverhältnisse dokumentiert, die Curt Lewy in den folgenden Jahren einging. Den Anfang machte eine Beschäftigung vom 1. März 1937 bis 15. März 1938 in der Apotheke des Almeida Ullmann in Rio de Janeiro (Sete al Selembro 81) als Leiter von Verkauf und Labor.

In den zehn Jahren zwischen dem Ende dieser ersten Tätigkeit 1938 und der nächstfolgenden Eintragung im Ausweis im Jahr 1948 hatte Curt Lewy gemäß den Ausführungen von Leimkugel (1) die „Farmacia Ultramar“ erworben und betrieben, gemeinsam mit dem Berliner Apotheker Heinz Ehrlich (1907-1962), geboren in Tarnowitz und verstorben in Montevideo, Uruguay. 

Über diesen Zeitraum liegen uns zurzeit keine weitere beruflichen Informationen vor, wohl hingegen solche über private Veränderungen. Zum einen starb seine Mutter am 1. Mai 1939 in Rio de Janeiro. Zum anderen wurde die Ehe mit Johanna geborene Breslauer nach Kriegsende einvernehmlich, aber nach brasilianischem Recht (desquite) geschieden. Dies erforderte damals – wie heute noch (3) – eine förmliche Anerkennung der Scheidung nach deutschem Recht, für das seinerzeit das Landgericht des Ortes zuständig war, in dem die Ehe geschlossen worden war, nämlich Berlin. Das führt zu einer paradoxen Situation:

Johanna Breslauer flog am 24. Januar 1948 von Rio de Janeiro nach New York und heiratete bereits am 10. Februar 1848 in Greenwich, Connecticut, USA den Adolfo Arkin, dessen weitere Lebensdaten wir nicht kennen. Curt Lewy beantragte die Scheidung – über die Deutsche Botschaft – beim Berliner Landgericht. Das bestätigte die Scheidung erst am 22. März 1952, sie wurde am 7. April 1952 im Standesamtsregister eingetragen (Bild 4). Drei Jahre später, am 26. Dezember 1955, heiratete Curt Lewy in La Paz, Bolivien in der dortigen Deutschen Botschaft Vera Fröhlich, geboren am 3. November 1909 in Breslau. Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg, am 12. September 1946 aus Gotenburg (Schweden) nach Brasilien eingewandert, zu diesem Zeitpunkt noch unter ihrem Ehenamen Vera Schlesinger und in Begleitung ihres 11-jährigen Sohnes Klaus aus erster Ehe.

Bild 4: Beischrift auf der Heiratsurkunde 1927 von Curt Lewy und Johanna Lewy geb. Breslauer, in der die Scheidung von 1952 bestätigt wird (Quelle: Ancestry)

Etwa um die Zeit der Scheidung (1948) muss Curt Lewy die gemeinsam mit Heinz Ehrlich geführte Apotheke aufgegeben haben. Vom 1. April 1948 bis zum 30. August 1952 war er bei der pharmazeutischen Firma CEKACE Farmaceutica Ltd. in Rio de Janeiro angestellt, vom 1. September 1952 bis zum 31. Januar 1956 bei einer anderen pharmazeutischen Firma am gleichen Ort (Hans Molinari & Co.) als wissenschaftlicher Mitarbeiter, und schließlich vom 1. Februar 1956 bis  31. März 1962 bei der Firma BYKOFARMA in Sao Paolo, der brasilianischen Tochter der deutschen Firma Byk Gulden in Konstanz, als Leiter der Propangas-Abteilung in Rio (Bild 5). Von dort kehrte er 1962 nach Deutschland zurück, nachdem er bereits 1950 im Rahmen eines Wiedergutmachungsantrags Anspruch auf Erstattung seiner Apotheke und der Apothekenlizenz gestellt hatte. Über die Rückkehr und den Verlauf dieses Antrags bis zu seinem Tod 1985 werden wir in einem letzten Beitrag berichten.

Bild 5: Beschäftigungsnachweis für Curt Lewy bei der braslilianischen Tochter der deutschen Pharma-Firma Byk Gulden (Quelle: Unterlagen von Frank Leimkugel (1) mit freundlicher Genehmigung)

Literatur

1. Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration und Restitution: Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. 2. Aufl., Govi-Verlag 1999. Die erste Auflage war zugleich Dissertation an der Universität Heidelberg 1990 unter dem Titel: Weg und Schicksal jüdischer Apotheker deutscher Muttersprache.

2. Bertold Brecht: Über die Bezeichnung Emigranten. Aus: Bertolt Brecht, Die Gedichte. Suhrkamp Verlag 2000.

3. https://brasil.diplo.de/br-de/service/familie/anerkennung-scheidung-1341440

Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 3)

Durch die Heirat 1855 der Therese Popper aus Hildesheim mit Hermann Neubürger aus Dessau, wo der Bruder der Therese Prediger der jüdischen Gemeinde war, verknüpften sich zwei überaus interessante Familiengeschichten. Daher wollen wir in diesem Teil der Geschichte in Dessau verbleiben und über die Familie Neubürger berichten, wobei auch hier ein Ausflug in das Lützow-Viertel eingeschlossen ist.

Über Hermann Neubürger gibt es viel Geschriebenes, und einiges davon hat er selbst verfasst: Der Dessauer Buchdrucker Hermann Neubürger (1806-1886) war zu seiner Zeit, insbesondere in der zweiten Hälfte seines Lebens, in den Jahren nach 1848, eine Berühmtheit, vor allem für seine Bücher über die Buchdruckkunst, z.B. Praktisches Handbuch der Buchdruckerkunst (1841). Aber selbst genealogische Quellen aus und in Dessau (1) sind hinsichtlich seiner Lebensdaten keineswegs einheitlich oder vollständig. In der Suche nach Daten zu seiner erste Ehe geriet ich über einen Neubürger-Familienstammbaum auf der Plattform MyHeritage an eine „Nachkömmin“ der Familie, deren Urururgroßvater ein Alexander Carl Neubürger aus Wörlitz war, und dessen mögliche jüdische Herkunft in ihrem Fokus stand. Zwei Tage (und ein Großteil der Nacht dazwischen) haben wir – sie irgendwo in Süddeutschland, ich in Berlin – die digitalisierten Bestände des Landesarchivs Sachsen-Anhalt zum Thema „Judensachen in Dessau/Wörlitz“ (2) durchforstet auf der Suche nach Belegen für das eine oder andere, und für die Beziehung zwischen den beiden, Hermann Neubürger und Carl Alexander Neubürger – und die haben wir gefunden!

Die Herkunft der Neubürgers aus Wörlitz

Die jüdische Gemeinde von Wörlitz existierte seit 1680, bestand aber in all den Jahren aus nicht mehr als 25 bis 35 Familien, d.h. vielleicht 150 bis 200 Personen (Bild 1). Die Schwierigkeit, die bruchstückhaft überlieferten Geschichten (Geburten, Eheschließungen, Sterbefälle) späteren Ereignissen und Namen zuzuordnen, liegt daran, dass auch im Herzogtum Anhalt aufgrund eines Gesetzes von 1821 jüdische Familien sich einen Familiennamen wählen sollten statt der bisherigen Namensgebung männlicher Nachkommen nach den Vornamen der Väter und Großväter, also Jacob ben Isaak ben Salomon = Jacob, Sohn des Isaak, Sohn des Salomon = Jacob Isaak Salomon; dabei wurden in vielen Fällen nur die ersten beiden Namen genutzt. 

Bild 1: Wörlitzer Judengemeinde 1768, bestehend aus 26 Familien, Isaac Nathan in Position 10 (Quelle: LASA Z 44 C 15 Nr. 71 Seite 62).

Als eine vollständige Liste mit den alten und neuen Namen gefunden wurde, die zum Zeitpunkt der Namensänderung erstellt worden war, löste sich das Rätsel auf: Ein Nathan Isaac nannte sich ab sofort Nathan Neubürger, seine Frau war Therese geborene Jacobsohn. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt zwei Söhne, Alexander und Hirsch (Bild 2). Alexanders Geburtseintrag haben wir nicht gefunden, aber er wurde wohl am 3. Oktober 1803 geboren, folgt man den Angaben auf seiner Sterbeurkunde. Zumindest für Hirsch Neubürger konnten wir – rückwirkend – dann auch den Geburtseintrag finden (Bild 2): 21. Januar 1806. Dass sich Hirsch Neubürger später – als er volljährig war (1830) und heiratete (1833) – Hermann Neubürger nannte, deutet darauf hin, dass sich Juden zur gleichen Zeit oft auch einen christlich klingenden Vornamen zulegten. Es wundert daher nicht, dass auch sein Bruder, Alexander Neubürger, sich einen weiteren Vornamen – Carl – zulegte und dass auch der Vater, Nathan Neubürger, sich Ferdinand Neubürger genannt haben soll, folgt man den Angaben auf dem Heiratseintrag von Alexander Carl von 1840. Daher: mission accomplished.

Bild 2: Geburtseintrag von Hirsch (Hermann), Sohn des Nathan Isaac im Synagogenbuch von Wörlitz für den 21. Januar 1806 (Quelle: LASA: Z 44 C 15 Nr. 71, Seite 133)

Die weitergehende Herkunft des Nathan Isaac ließ sich nicht vollständig aufklären, aber es gab in Wörlitz 1750 einen Isaac Nathan, der im Alter von 15 Jahren aus Landsberg an der Warthe nach Wörlitz gekommen war: Er hatte dort eine Ausbildung gemacht, Schutzjudenstatus erhalten und handelte mit Stickereien. Er hatte eine jüdische Frau geheiratet, war Vater geworden und hatte ein eigenes Haus erworben (Bild 3). Es gibt allerdings noch eine Generationen-Lücke zwischen diesem Isaac Nathan von 1750 und dem Nathan Isaac/Neubürger von 1806 bzw. 1830, die wir bislang nicht füllen konnten.

Bild 3: Eintrag zu Isaac Nathan aus Landsberg an der Warthe. Der Text lautet: Isaac Nathan aus Landsberg an der Warthe gebürtig, habe eine Frau aus Wörlitz geheiratet, welcher 8. Jahr hier, habe kein Schutzbrief, habe von der Gemeinde Schutz erhalten, Händler mit Spitzen, habe eine Frau und 2 Kinder (Quelle: LASA, Z 44 C 15 Nr. 70a).

Hermann Neubürger, der Familienvater

Hermann Neubürger heiratete 1833 die Tochter des Mendel Rothschild, Minna, geboren am 19. April Mai 1806 – so steht es, in hebräischer Zeitangaben, auf ihrem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof von Dessau/Roßlau; sie war wohl die Schwester des Dessauer Fleischermeisters Julius Rothschild. Minna starb am 20. August 1854 (Bild 4).

Bild 4: Grabstein der Minna Neubürger auf dem Wörlitzer Judenfriedhof. Unter dem Namen stehen die Lebensdaten nach jüdischem Kalender (Foto: D.R. mit freundflicher Genehmigung).

In den Jahren 1834 bis 1849 kamen neun Kinder zur Welt, aber nicht für alle konnten wir die genauen Geburts- und Lebensdaten ermitteln: Röschen, geboren 1834, verstarb im Alter von 4 Monaten am 1. Mai 1834; Ferdinand (1835 – 1911) lernte in der Druckerei seines Vaters in Dessau und übernahm dann eine eigene Druckerei und Lithographieanstalt in Dessau. Er heiratete1861 Dorith Meyer (* 1842) aus Coswig, die 1872 in der Psychiatrie zu Bernburg aufgenommen wurde und dort 1904 verstarb; die Ehe blieb kinderlos. Ferdinand zog nach Moskau, wo er für fast 20 Jahre blieb, als Drucker, aber auch als Journalist, und zugleich als  Schriftsteller von Theaterstücken, Novellen, Gedichten und Romanen; Henriette (1836 – 1910) heiratete 1876 Moritz Blumberg (1832-1904) aus Dessau und hatte mit ihm 10 Kinder; Moritz, geboren 1838, ging mit seinem Bruder Ferdinand nach Moskau; er beantragte im Jahr 1897 für seinen Sohn Woldemar Louis (* 1880 in Moskau) eine Entlassung aus der deutschen Staatbürgerschaft; Eduard, geboren 1840, leitete eine Zementfabrik (Neubürger & Luppe), bevor er in die USA emigrierte und 1868 in New York Catherine Cox aus Irland heiratete; er starb am 1896 in New Jersey; Pauline, geboren 1842, verstarb 1916 unverheiratet in Dessau; die Geburt eines namenlosen Jungen, eventuell Gustav, wurde für das Jahr 1842 festgehalten, möglicherweise ist auch er im Kindesalter verstorben. Friederike (1847 – 1936) heiratete Adolph Dressler und lebte in Dresden und später in Langebrück; Ida Angelika (1849 – 1935) heiratete den Redakteur und späteren Buchhändler Heinrich Richter in Dessau. 

Als Minna, die Mutter der Kinder, im August 1854 starb, hinterließ sie ihren 49-jährigen Ehemann mit lauter noch minderjährigen Kindern, darunter einige noch unter 10 Jahren. Es wundert daher nicht, dass er ein Jahr später, am 4. November 1855, die 35 Jahre alte Therese Popper heiratete, die in den vergangenen 10 Jahre ihre Mutter bis zu deren Tod in Hildesheim gepflegt hatte:  „Die besten Jahre Deines Lebens hast Du dieser edlen Kindespflicht geopfert … Der Herr zahlet Dir heute den Lohn kindlicher Treue „, so die Worten ihres Bruders Julius Popper, der die Traurede hielt (3) – ob die „nachgelassene“ Therese wohl auch so empfunden hat angesichts der Schar unmündiger Kinder, denen sie die Mutter ersetzen sollte?

Herrmann Neubürger, der Buchdrucker

Hermann Neubürger hatte 1833 die Schliefer´sche Buchdruckerei erworben und das Privileg des Buchdruckens 1834 erhalten; darin wurde er verpflichtet, seine Druckerei im Judenviertel zu betreiben und auch dort zu wohnen (Bild 5). Danach erst heiratete er. Die Geschichte von Hermann Neubürgers Druckerei ist längst geschrieben (4), wobei in diesem „Häuserbuch“ der Fokus auf der Firmen- und nicht auf die Familiengeschichte liegt. Seine erste Frau wird zwar erwähnt, die Vielzahl seiner Kinder aber nicht, bis auf den Sohn Friedrich Neubürger, der ebenfalls Drucker und Schriftsteller wurde; seine zweite Frau, Therese geborene Popper, fehlt vollständig, sowohl im Hinblick auf die Heirat wie auf ihren Tod. Das Adressbuch von Dessau nennt sie nicht nach seinem Tod, sondern nur die „Neubürger Erben“ als Eigentümer der Rathausstraße 5, das Haus, das von 1849 bis 1916 den Neubürgers gehört und wo ab 1895 und bis zu ihrem Tod die Rentiere Pauline Neubürger gelistet ist. Da wohnte auch ihr Bruder, der Schriftsteller Ferdinand Neubürger; zwischenzeitlich lebte der zumindest 1902 zur Untermiete in Berlin in der Potsdamer Str. 56 (Bild 6), und von 1905 bis 1909 in Charlottenburg, Schlüterstraße 45, aber er starb 1911 in Dessau.

Bild 5: Drucker-Privileg für Hermann Neubürger von 1833 (Quelle: LASA Z 44 C 15 Nr. 11 Band IV Seite 0012).
Bild 6: Foto um 1900 und Adresse (Potsdamer Str. 56) von Ferdinand Neubürger im Jahr 1902 von seinem Briefkopf (Quelle: Stadtarchiv Dessau Ro N003 Nr. 23-27, Korrespondenz Ferdinand Neubürger mit Hans Calm, Hofschauspieler Dessau).

Als Buchdrucker war Hermann Neubürger nicht verantwortlich für den Inhalt der Druckschriften (Pamphlete, Bücher, Zeitungen, Amtsblätter), die er druckte, die Verantwortung hatten die jeweiligen Herausgeber. Daher wundert es nicht, dass er alles Mögliche druckte, schöngeistige Literatur (Das Käthchen von Heilbronn, eine Oper nach Kleists gleichnamigen Schauspiel) ebenso wie politische Kampfschriften in den Zeiten des Aufruhrs 1848/49 (Der Wahn des Glaubens, eine Streitschrift von 1849, die 1850 in Preußen verboten wurde), aber auch Erotika (Casanova´s Memoiren in 17 Bänden), Judaika (Die Traurede bei seiner Heirat mit der Schwester von Julius Popper 1855) ebenso wie katholische Gebetbücher, medizinische Werke (Lehrbuch der Homöopathie  1860), Staatsdrucksachen (Papiergeld, Staatsanleihen) und Mitteilungen der Obrigkeit. Und natürlich wurde der Bote für die Botschaft dann geprügelt, wenn es gegen die Obrigkeit ging, ihm drohte Berufsverbot (Entzug des Privilegs), dem er nur durch Verzicht auf problematische Druckerzeugnisse entgehen konnte. Sein sicherlich bleibender Einfluss auf die „schwarze Kunst“ seiner Zeit wurden die Bücher und praktischen Handreichungen über das Drucken selbst.

Seit der Bewilligung des Privilegs und der Erlaubnis, sich in Dessau niederzulassen, zahlte er neben dem Schutzgeld in Höhe von jährlich 6 Taler, welches alle Juden bezahlen mussten, auch eine Art „Gewerbesteuer“ für die Druckerei in Höhe von 5 Taler jedes Jahr. Außerdem hatte ihn der Vorstand der jüdischen Gemeinde verpflichtet, einmalig 10 Taler an das jüdische Armen- und Arbeitshaus, 5 Taler an die „israelitische Almosen-Casse“ und weitere 2,5 Taler für an die israelitische Franz-Schule zu zahlen – all dies unabhängig von seinem durch die Druckerei erzeugten Einkommen. Nach 5 Jahren (1838) fragte er daher höflich bei der Obrigkeit an (3), ob ihm das Schutzgeld nicht erlassen werden könne, es sei schließlich eine Art von Steuer für den jüdischen Handel, den er ja gar nicht ausübe. Das Ersuchen wurde trotz Unterstützung durch lokale Honoratioren, die bestätigten, dass „sich derselbe als thätiger und ordentlicher Bürger zu rühren sucht„, abschlägig beschieden. Die herzogliche Obrigkeit konnte und wollte offenbar noch nicht auf diese Einnahmen durch die wachsende jüdische Bevölkerung verzichten: Im Jahr der Namensverordnung 1821 gab es im Herzogtum Anhalt etwa 280 Haushalte, was ungefähr 1500 Personen entsprach (3); 1864 waren es etwa 2300 Personen (5). Vielleicht war dies der Anlass für Neubürgers Ausflug in die Umtriebe der 48-er Revolution; ein Fehlschlag beides, sowohl sein Ausflug als auch die Revolution.

Bild 7: Nachruf auf Hermann Neubürger im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 1. August 1887, Seite 4.

Hermann Neubürger starb am 8. Juli 1887 hochgeachtet in Dessau im Alter von 81 Jahren (Bild 7). Ausweislich der Adressbücher Dessau erbten sein Haus seine Nachkommen, Neubürger´s Erben: sein Sohn Ferdinand, dessen Schwester Pauline, und wer von den Kindern sonst noch lebte. Therese Neubürger geborene Popper zählte nicht dazu, sie war am 23. November 1882 verstorben; den Tod zeigte ihr Schwiegersohn, der Buchhändler Heinrich Richter an, der mit ihrer Stieftochter Ida Neubürger verheiratet war; Kinder hatte sie keine mehr.

Literatur

1. Bernd G. Ulbrich: Personenlexikon zur Geschichte der Juden in Dessau. Moses Mendelsohn Gesellschaft Dessau-Roßlau 2009

2. Das Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA) hat den Aktenbestand der jüdischen Gemeinden von Sachsen-Anhalt, insbesondere Wörlitz/Dessau, Tausende von Aktenblättern, nahezu vollständig digitalisiert und im Internet zugänglich gemacht: Z 44 C 15 Nr. 1 bis 74.

3. Julius Popper: Traurede bei der Vermählung des Herrn Hermann Neubürger mit Fräulein Therese Popper am 4. November 1855. Verlag H. Neubürger, Dessau 1856.

4. Franz Brückner: Häuserbuch der Stadt Dessau. Bände 1 bis 24. Verlag Rat der Stadt Dessau 1975 bis 1995 (Seiten 530, 708-712, 1658)

5. Ferdinand Siebigk: Das Herzogthum Anhalt. Verlag von A. Desbarats, Dessau 1867.

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 3)

Im Teil 3 der Geschichte der Familie Ernst Liedtke wollen wir uns, nachdem wir deren Herkunft aus Christburg (Westpreußen, heute: Dzierzgon, Polen) weitgehend geklärt hatten, näher mit der Ausbildung und der beruflichen Situation von Ernst Liedtke (Bild 1) beschäftigen. Dieser Teil endet mit dem Umzug in den Blumeshof, seiner Heirat im Jahr 1910, der Geburt seiner drei Töchter zwischen 1910 und 1914 und der Frage, ob Ernst Liedtke im ersten Weltkrieg Soldat war.

Bild 1: Foto Ernst Liedtke um 1930 (Familienbesitz mit freundliche Genehmigung)

Schul- und Berufsausbildung von Ernst Liedtke 

Dank der in Preußen vorbildlichen Dokumentation der Geschichte einzelner Schulen des sogenannten höheren Schulwesens (Realschulen, Gymnasien, Lyzeen) durch obligatorische jährliche Schulberichte findet man heute darin leicht die Abiturienten dieser Schulen. Ernst Liedtke, geboren 1875 in Christburg, absolvierte zu Ostern1893 die Abschlussprüfung des Gymnasiums in Graudenz, 80 km südwestlich von Christburg, nach sieben Jahren am Gymnasium, davon zwei Jahre in der Oberstufe (Prima). 

Er hatte 1893 beim Abitur als seinen Berufswunsch Maschinenbau angegeben (Bild 2), begann aber bereits im Sommersemester (SS) 1893 in Freiburg im Breisgau ein Jurastudium, das er vom Wintersemester (WS) 1893/4 (Immatrikulation am 19. Oktober 1893) bis einschließlich SS 1894 an der Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) in Berlin fortsetzte und nach einem weiteren Semester (WS 1894/5) an der Universität Königsberg in Ostpreußen beendete; in Königsberg wohnte er in der Fließstraße 25/26. Im Sommersemester 1895 fand er sich erneut im Matrikel-Buch der FWU, aber das Archiv der Humboldt-Universität konnte dies nicht bestätigen: seine Exmatrikulation dort erfolgte am 19. März 1894, Matrikel-Nr. 284/94.

Bild 2: Liste der Abiturienten des Graudenzer Gymnasiums von Ostern 1893 (Quelle: Kgl. Evangel. Gymnasium zu Graudenz; XXVII. Jahresbericht (1893), S. 20).

Nimmt man „normale“ Verläufe eines Jura-Studiums an, müsste er das Examen im Sommer 1895 absolviert haben. Dem folgte eine „Vorbereitungszeit“ von vier Jahren (1896-1900) als Rechtsreferendar in den verschiedenen Stationen der praktischen juristischen Ausbildung (Amtsgericht, Landgericht, Staatsanwaltschaft, Rechtsanwaltschaft/ Notariat, Oberlandesgericht), gefolgt vom 2. Staatsexamen und der Ernennung zum Assessor – das sollte dann etwa 1899 der Fall gewesen sein. Da er in diesen Jahren nicht in Berlin im Adressbuch auftauchte, kann dies in einem der verschiedenen Oberlandesgerichtsbezirke in Preußen stattgefunden haben (Bild 3). 

Bild 3: Die neun Oberlandesgerichtsbezirke in Preußen 1900. Oben rechts (blau markiert) der OLG Bezirk Ostpreußen mit dem Sitz in Marienwerder (Quelle: Akte im Geheimen Staatsarchiv, I. HA Rep. 84a Nr. 29929).

Die weitere Suche wäre sicherlich sehr viel mühsamer und aufwendiger gewesen, wenn nicht bei der Zulassung als Rechtsanwalt beim Kammergericht (KG) Berlin zum 1. April 1901 eine Kopie des Bescheids an das Oberlandesgericht (OLG) Marienwerder (Westpreußen) geschickt worden wäre, in dem darauf hingewiesen wurde, dass die Zulassung zum Rechtsanwalt mit der „Entlassung aus dem Justizdienst“ erfolge, die seit dem 16. Februar 1901 bestand (1). Das ließ den Schluss zu, dass er zu diesem Zeitpunkt (1901) am OLG Marienwerder als Assessor im Staatsdienst war. Das schränkte den weiteren Suchradius erheblich ein; wir fanden folgende Belege in der preußischen Amtspresse: 

1. Die Ernennung eines Rechtskandidaten Ernst Liedtke zum Referendar am Amtsgericht Danzig zum 1. Juli 1896; 

2. Eine Notiz, dass ein Referendar Ernst Liedtke im Jahr 1897 am Amtsgericht Culmsee tätig gewesen sein könnte, einem der neun Amtsgerichte am Landgericht Thorn; 

3. Die Ernennung des Rechtsreferendars Ernst Liedtke zum Assessor am Landgericht Graudenz 1901; 

4. Schließlich die Zulassung als Rechtsanwalt in Berlin (Bild 4). 

Bild 4: Meldungen aus der Amtspresse der königlich-preußischen Regierung zu Marienwerder bzw. zu Danzig zwischen 1896 und 1901.

Das Amtsgericht Danzig unterstand dem Landgericht Danzig, die Landgerichte von Thorn und Graudenz wiederum waren zwei von fünf Landgerichten im Oberlandesgerichtsbezirk Marienwerder (siehe Bild 2).

Die gezielte Suche in den Prüfungs- und Personalunterlagen des OLG Marienwerder und der Gerichte in Danzig und Graudenz im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz erbrachte leider keine weiteren Informationen – die Akten enthalten weder individuelle Ausbildungsstationen noch Prüfungen, sondern ausschließlich Bewerbungen um freiwerdende Stellen als Richter, Amtsanwälte oder Staatsanwälte, alle jedoch in höheren Dienstgraden. Die an den Gerichten beschäftigten Referendare wiederum wurden in den Adressbüchern von Danzig und Graudenz nicht beim Gerichtspersonal gelistet, da diese nur „vorübergehend beschäftigt“ waren. Ernst Liedtke fand sich auch nicht unter den Einwohnern von Danzig und Graudenz in den Adressbüchern der Jahre von 1896 bis 1901, und für Culmsee gibt es aus dieser Zeit kein Adressbuch. 

Während die schriftlichen Examensarbeiten der großen juristischen Staatsprüfung üblicherweise am OLG, bei dem er zuletzt beschäftigt war, fand die „mündliche Prüfung sämmtlicher Gerichtsreferendare der preußischen Monarchie … im Justizministerium zu Berlin … statt … Die zwei bis drei Monate bis zur mündlichen Prüfung verbringen die Kandidaten fast ohne Ausnahme in Berlin“ (2). In dieser Zeit hat Ernst Liedtke vermutlich in der Schützenstraße 14 gewohnt.

Möglicherweise reichte die Entlohnung der Referendare auch nicht aus, einen eigenen Hausstand zu gründen, so dass er zur Untermiete wohnte; Untermieter wurden – auch in Berlin – nicht im Adressbuch aufgeführt. Möglich ist auch, dass er bei einer der vielen Familien mit dem Namen Liedtke in Danzig oder Graudenz gewohnt hat, mit denen verwandtschaftliche Beziehungen bestanden. Und nicht zu vergessen ist, dass er bis zum Abitur in Graudenz zur Schule gegangen war, wo seine Mutter Clara, eine geborene Henschel herkam und Familie hatte.

Arbeiten, wohnen und leben in Berlin

Erst 1901 mit der Zulassung als Rechtsanwalt beim KG in Berlin war er vermutlich in der Lage, einen eigenen Hausstand zu gründen. Beim Antrag auf Zulassung als Rechtsanwalt im Februar 1901 hatte er zunächst noch die Adresse Schützenstraße 14 angegeben, in unmittelbarer Nähe zum KG (Bild 5), aber das war vermutlich nur übergangsweise und zur Untermiete, denn im Berliner Adressbuch 1901 ist er bereits mit der Adresse Lutherstraße 48 (heute Keithstraße 8) registriert. In den Jahren 1902 bis 1905 wohnte er in der Genthiner Straße 35, etwa da, wo heute das Arbeitsgericht residiert, dann wieder in der Lutherstraße 48/49 von 1906 bis 1909, und ab 1910 dann dauerhaft im Blumeshof 12. Standort des KG war bis 1913 die Lindenstraße 9 – 14 in der Friedrichstadt, dann zog das Gericht nach Schöneberg (Kleistpark) – von seinem Wohnsitz im Blumeshof aus war dies von Vorteil, aber Anwaltstätigkeit besteht nicht nur aus Präsenz bei Gericht.

Bild 5: Amtssitz des Kammergerichts Berlin in der Lindenstraße 9 – 14 (Foto um 1910, Fotograf unbekannt, Quelle: Wikipedia, gemeinfrei).

Die Natur rechtsanwaltlicher Tätigkeit, insbesondere im Zivilrecht, ist meist kein Gegenstand allgemeinen öffentlichen Interesses und wird, mit Ausnahme von rechtlichen Vorschriften der öffentlichen Ausschreibung, z.B. von Erbschafts- und Testamentsangelegenheiten, normalerweise nicht in der Presse berichtet. Dies trifft umso mehr zu, wenn es sich um Verfahren bei den Revisions- und Obergerichten handelt; das KG war die höchste juristische Instanz in Berlin, die Verfahren vor dem KG waren meist von prinzipieller juristischer Bedeutung für Kläger und/oder Beklagte, und mit hohen Streitwerten (und somit mit hohen Gerichts- und Anwaltsgebühren) verbunden. 

Es gab am KG Berlin im Jahr 1932 insgesamt 3400 zugelassene Rechtsanwälte, so der Preußische Justizminister Hanns Kerrl in einem Schreiben vom 1. Juli 1933, in dem er vor einer weiteren Aufstockung des Bestandes warnte, „daß die wirtschaftliche Lage der Berliner Anwaltschaft zur Zeit als recht ungünstig angesehen werden muss und … Hoffnungen auf eine auskömmliche Lebenshaltung in vielen Fällen nicht rechtfertigen wird“ (3). Dass Ernst Liedtke in Berlin dreißig Jahre zuvor dennoch ein gesichertes Auskommen hatte – was auch die Wahl des Wohnsitzes im Blumeshof zeigte -, hatte sicherlich damit zu tun, dass er in seiner Funktion als Rechtsanwalt auch Sitze in Aufsichtsräten von Firmen und Gesellschaften hatte und Konkursverwaltungen leitete (Bild 6). Eine Tätigkeit als Justiziar für die Baufirma Boswau & Kauer, wie behauptet (4), konnten wir nicht objektivieren, ist aber sicherlich im Bereich des Möglichen oder gar Wahrscheinlichen.

Bild 6: Pressemeldungen (Berliner Börsenzeitung, BBZ; Berliner Tageblatt und Handelszeitung, BTHZ) über Aufsichtsratsmandate von Ernst Liedtke zwischen 1908 und 1915.

Ernst Liedtke hatte in der Zeit zwischen Abitur 1893 und dem Beginn seines Studiums im Sommer 1893 keine militärische Dienstzeit absolviert, auch nicht die verkürzte einjährige Dienstpflicht der Abiturienten – dazu war die Zeit einfach nicht ausreichend. Militärdienst für ein Jahr war allenfalls im Sommer 1895 möglich, unmittelbar nach der ersten juristischen Staatsprüfung und vor dem Beginn des juristischen Vorbereitungsdienstes in Danzig im Sommer 1896; die Recherchen dazu laufen noch. Davon hängt die weitergehende Frage ab, ob und wo Ernst Liedkte im Ersten Weltkrieg in der Zeit von 1914 bis 1918 beim Militär gedient hat oder, wie seine Töchter sich zu erinnern glaubten, sogar beim Geheimdienst (4,5). Die Übernahme eines Aufsichtsratsmandates 1915 (s. oben) spricht allerdings gegen eine Dienstzeit im Ersten Weltkrieg.

Im Vorfeld seiner bevorstehenden Heirat konvertierte er am 22. September 1910 zur protestantischen „Neuen Kirche“ Berlin (Bild 7) und erklärte er gegenüber der jüdischen Gemeinde im November des Jahres seinen Austritt. Gleichzeitig verlobte er sich im September 1909 mit Emmy Fahsel, geboren am 30. August 1890 in Kiel. Die Verlobung im September 1909 annoncierte in der Berliner Tagespresse das Ehepaar Emma und Arthur Rosenthal aus Berlin (Kurfürstenstraße 53) statt, wie üblich, die Eltern der Braut, und in der Anzeige der Heirat hat die Braut einen Doppelnamen (Rosenthal-Fahsel) – dazu im nächsten Teil der Geschichte mehr Hintergrundinformationen. Die standesamtliche Trauung fand im Februar 1910 statt, jedoch ist das entsprechende Standesamtsverzeichnis für Eheschließungen im Januar-Februar 1910 des Standesamtes Berlin-III verschollen. Die anschließende Hochzeitsfeier, von der es ein aufwendiges Essensmenu und Konzertprogramm gibt, fand im Savoy-Hotel Berlin (Friedrichstraße) statt. 

Bild 7: Taufurkunde von Ernst Liedtke 1910 (Quelle: Simon May (5))

In den folgenden drei Jahren kamen drei Töchter auf die Welt: Ilse, geboren am 18. September 1910, Ursula, geboren am 21. Oktober 1912 und Marianne, geboren am 25. Mai 1914. Deren Lebensweg, auch durch die Zeit des Nationalsozialismus, ist im Buch von Simon May ausführlich und eindrücklich dargestellt (5). Im vierten Teil der Familiengeschichte werden wir uns mit einigen wenigen zusätzlichen Informationen beschäftigen, die über dieses Buch hinaus gefunden wurden, und mit der Familie Fahsel.

Literatur

1. Geheimes Staatsarchiv (GStA), Akten I.HA Re. 84a Nr. 20407

2. Frankfurter Zeitung vom 16.2.1900: Bilder vom Assessor-Examen.

3. GStA Akte I. HA 84a Nr. 20397

4. Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933. BeBra-Verlag Berlin 2007, 2. Auflage, (S.212)

5. Simon May: How to be a refugee. Picador Publisher, London 2021.

Die Autos der Familie Fürstenberg

Die Geschichte der Familie Fürstenberg vom Lützowplatz, in zwei Teilen bei mittendran (20. Januar 2024 und 17. Februar 2024) und in 10 Teilen im Blog Jüdisches Leben und Widerstand in Tiergarten erzählt, war ein Foto der Familie schuldig geblieben; es gab nur Einzelfotos von Egon Sally und seinem Bruder Gustav und das eine oder andere der Söhne in fortgeschrittenem Alter. Dieses Defizit soll mit diesem Foto nachgeholt werden (Bild 1).

Bild 1: Ein bislang unbekanntes Foto mit Egon Sally Fürstenberg und seinen vier Söhnen (von rechts nach links): Paul, Fritz, Ulrich und Hellmuth. Die blaue Markierung zeigt eine nachträgliche Retouchierung an, die rote Markierung einen abgeschnittenen Schriftzug, s. Bild 2) (Quelle: Stadtarchiv Nürnberg (1)).

Das Foto stammt aus dem Stadtmuseum Nürnberg (1) und zeigt Egon Sally Fürstenberg mit seine vier Söhnen, Paul, Fritz/Werner, Ulrich und Hellmuth, in einem offensichtlich großen Auto vom Typ Cabriolet. Quelle dieses Fotos ist die nationalsozialistische Hass-Postille „Der Stürmer“ des Julius Streicher in der Ausgabe Nr. 16 von 1940, so dass ich mir und den Lesern den unsäglichen Text und die Bildunterschrift erspare. Dennoch wirft das Bild einige Fragen auf, die wir versuchen wollen zu beantworten. 

Zum einen: Wann ist das Bild entstanden? In dem Artikel von 1940 heißt es lapidar „vor zwanzig Jahren“, das wäre dann 1920, kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs. Zu diesem Zeitpunkt war der älteste der Söhne, Paul, rechts hinten neben dem Vater, 20 Jahre alt, da er 1900 geboren wurde, der jüngste Sohn, Hellmuth, 10 Jahr alt. Der Vater Sally Fürstenberg selbst war 1860 geboren worden, somit also 60 Jahre alt im Jahr 1920 – 1920 könnte also stimmen, vielleicht ein wenig zu früh: Sohn Paul raucht in der Öffentlichkeit und trägt einen Hut, etwas ungewöhnlich für einen Zwanzigjährigen. Die Tatsache, dass der Jüngste auf dem Fahrersitz Platz genommen hat, spricht dafür, dass dieses Foto „arrangiert“ wurde, eine Pose ist, möglicherweise anlässlich einer Besichtigung und Begutachtung des Autos, vielleicht mit einer Kaufabsicht.

Zum anderen: Um was für ein Auto handelt es sich hier? Es fehlt zwar auf dem Bild die meist Auto-typische Frontpartie (Kühler), die eine Identifizierung erleichtern würde, aber nachdem ich das Bild ein paar Experten zukommen ließ, fand einer (danke, Alexander Darda) die Antwort schnell: Es handelt sich um einen Benz Typ 39/100, der zwischen 1912 und 1920 gebaut wurde. Das volle Automobilprofil lässt sich auf den Webseiten der Firma bewundern (2). Denkbar ist, dass die Fürstenbergs einen solchen Benz kaufen wollten oder gekauft haben, aber dazu unten mehr.

Weitere Merkmale des Fotos fallen auf: Nicht nur, dass das Foto vom Auto vermutlich vorn abgeschnitten wurde, am unteren Bildrand ist auch ein zweizeiliger Schriftzug halb sichtbar (Bild 2), in der oberen Zeile sieht man noch „lb. Meyer Nachf.“, was „Albert Meyer Nachfahren“ heißen könnte; darunter ein einzelnes Wort, in dem „….schneider“ vorkommen könnte. Dabei kann es sich entweder um die Firmenangabe des Fotografen handeln, die allerdings normalerweise nicht im, sondern eher unter dem Foto steht; oder es handelt sich um ein Werbefoto des Autobesitzers oder Autoverkäufers, z.B. einer Firma, die Daimler-Fahrzeuge verkauft.

Bild 2: Abgeschnittener Schriftzug auf dem Foto (Bild 1, rote Markierung)

Am auffälligsten ist auf dem Foto der blaue Fleck im Bereich des Vordersitzes (siehe Bild 1), hinter dem Knaben Hellmuth. Hier ist offensichtlich eine Person aus dem Bild retuschiert worden, unsachgemäß, da sehr auffällig, aber vermutlich war das 1940 nicht so wichtig wie die Tatsache, dass diese Person überhaupt nicht im Bild erscheinen sollte. Es kann sich daher nicht um die jüdische Ehefrau des Sally Fürstenberg, Rosa geborene Rosenhain, gehandelt haben, die 1918 noch am Leben war (sie starb 1924). Auch der Bruder von Sally Fürstenberg, Gustav, Mitinhaber der Firma Rosenhain, wird es nicht gewesen, da dies zur antisemitischen Polemik des Blattes durchaus gepasst hätte; er wird in dem besagten Artikel auch erwähnt und mit einem Foto gezeigt. Es hat sich möglicherweise um jemanden gehandelt, dessen Bild zusammen mit den Fürstenbergs zu zeigen 1940 nicht (mehr) opportun war, eine lokale (Berliner) oder nationale Person von Bedeutung, die sich, anders als die Fürstenbergs, die gerade (1938) aus dem Land vertrieben worden waren, nicht in Gesellschaft von Juden zeigen wollte, sollte oder durfte. Wir werden diese Fragen wohl nicht beantworten können.

Bleibt die Frage: Haben die Fürstenbergs dieses Auto besessen oder gekauft? Um dies zu klären, konnten wir auf neue, spannende Quellen zugreifen aus einer Zeit, als Datenschutz offenbar ein Fremdwort war: Im Auto-Adressbuch von 1909, in dem alle Autobesitzer des Reiches gelistet sind, war Egon Sally Fürstenberg mit seiner Adresse und dem Autokennzeichen (3937) aufgeführt, allerdings wird hier der Typ seines Autos nicht genannt, sondern nur als Luxuswagen klassifiziert (Bild 3). Zu diesem Zeitpunkt gab es gerade 10.000 Fahrzeuge im deutschen Reich, da reichte eine vierstellige Nummer noch aus.

Bild 3: Egon Sally Fürstenberg in der Liste der Autobesitzer 1909 (Quelle: https://wiki.genealogy.net/Deutsches_Automobildreßbuch/Adressbuch_1909)

Ihren Siegeszug traten die Personenkraftwagen nach dem Ersten Weltkrieg an. Vor 1914 waren in Berlin knapp 7.000 Autos registriert, 1922 waren es schon 17 000, 1926 rund 50 000 und 1932 über 114 000 (3). Mit der steigenden Zahl der Autos gab es in Berlin – und vergleichbar auch in vielen anderen Städten des Deutschen Reiches (4) – von 1926 bis 1934 jährlich eine Liste aller in Berlin zugelassenen Autos, einschließlich Nummernschilder, Autotyp und Name und Adresse des Autobesitzers. Die meisten dieser Bände für Berlin sind digital verfügbar (1926-1928, 1932-1934) (5), andere kann man in diversen Bibliotheken einsehen. 

Bild 4: Liste der Personenkraftwagen der Firma Rosenhain und der Familie Fürstenberg im Jahr 1934 (aus (5). Gelistet sind die Nummern (13063), der Typ (Personenwagen=P, Lastwagen= L) die Adresse des Besitzers und ggfls. der Wagentyp (Bck=Buick, Stud=Studebaker, Ex=Excelsior).

Die ältesten verfügbaren Bände 1 bis 3 (1926 bis 1928) weisen nur die Firma Rosenhain (Leipziger Str. 72/73) als Eigentümerin eines Personenkraftwagens aus, ohne allerdings den Wagentyp zu nennen. Im letzten der Bänden 7 bis 9 (1932 bis 1934) hatte der Vater, Egon Sally Fürstenberg, einen Personenkraftwagen vom Typ Lincoln, und im 9. Band (1934) hatten auch drei der vier Söhne je ein Auto, nur Paul, der älteste hatte keines auf seinen Namen; er fuhr möglicherweise den auf den Namen seines Vaters angemeldeten Wagen, immerhin war 1934 Egon Sally Fürstenberg fast 75 Jahre alt. Keines dieser vier Autos (Bild 4) war ein in Deutschland produziertes Fahrzeug (Borgward, Daimler-Benz, Horch, BWM, DKW u.a.m.), sondern es handelt sich ausschließlich um ausländische Modelle: Buick, Excelsior, Lincoln, Studebaker. Allerdings hatte die Firma Rosenhain 1934 sieben weitere Autos in ihrem Bestand (s. Bild 4), darunter zwei weitere Buick, ein Ford-Modell, und einige heute nicht mehr bestehende deutsche Auto-Typen wie die „Nationale Automobil-Gesellschaft“ (NAG) und Brennabor (Bild 5); sechs der sieben Wagen waren Lastwagen.

Bild 5: Logo (Schriftzug) der Pkw-Firma Brennabor (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei).

Am Schluss konnten wir auch die Frage „Fotograf oder Autohändler?“ aufklären: in der Tagespresse von 1902 konnte man lesen, dass der Hoffotograf Albert Meyer seine Zweigniederlassung in der Potsdamer Straße 125 an den Fotografen Oscar Brettschneider verkauft hatte, der diese als eigenständige Hauptniederlassung weiterbetreiben würde (Bild 6). Im Branchenbuch 1920 fand sich eine Anzeige des Fotografie-Studios „Albert Meyer, Nachfolger Oscar Brettschneider“, von dem wir nunmehr annehmen können, dass dieses Studio für das Foto mit den Fürstenbergs verantwortlich war, und dass das Foto vermutlich deshalb entstand, weil die Fürstenbergs dieses Auto gekauft hatten – diese Tradition gibt es noch heute.

Bild 6: Übernahme des Fotostudios Albert Meyer durch den Fotografen Oscar Brettscheider 1902 (Berliner Börsenzeitung, BBZ) (oben) und Auszug aus dem Branchenteil des Berliner Adressbuchs 1920.

Literatur

1. Stadtmuseum Nürnberg: E39 Nr. 00119_002_001.

2. https://mercedes-benz-publicarchive.com/marsClassic/de/instance/ko/Benz-39100-PS.xhtml?oid=4353

3. Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift Heft 7/2001 www.berlinische-monatsschrift.de

4. https://wiki.genealogy.net/Kategorie:Adressbuch_der_Fahrzeugbesitzer

5. Auto-Adressbücher für Berlin: https://digital.zlb.de/viewer/metadata/34280679/ , https://www.digi-hub.de/viewer/toc/BV044786485/

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 3)

Lange bevor Dr. Curt Lewy am 15. August 1932 die Apotheke seines Vaters übernahm, machte er auf einige sehr spezielle Weisen auf sich aufmerksam, und auch sein Lebenslauf davor wies einige für den Geburtsjahrgang 1899 typische Abweichungen vom Üblichen auf. 

Notabitur und Studium nach dem Krieg

Geboren am 1. August 1899, ging er ab dem 6. Lebensjahr (Ostern 1905) zum Mommsen-Gymnasium (bis 1904: Kaiserin-Augusta-Gymnasium) in der Cauerstraße 36 in Charlottenburg. Curt war 14 Jahre alt, als mit der Ermordung des Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich in Sarajewo (Bosnien, seit 1878 zu Österreich-Ungarn gehörig) das Deutsche Reich „in den Ersten Weltkrieg schlitterte“, wie es nachfolgend Historiker in Verkennung der Tatsachen gern relativierend ausgedrückt haben. Da war er noch zu jung für den Militärdienst, aber drei Jahre später, am 28. April 1917, erhielt er, zusammen mit vielen anderen gleichaltrigen Schülern dieses und anderer Gymnasien im Deutschen Reich, ein sogenanntes Notabitur unter Befreiung von der mündlichen Prüfung, um am Krieg teilnehmen zu können. Bis zu seiner Einberufung zum Ersatz-Bataillon Eisenbahnregiment I am 15. Juni 1917 war Curt als Hilfsmilitärkrankenwärter im Lazarett auf dem Tempelhofer Felde tätig. „Ich habe am Feldzug in Russland und Frankreich teilgenommen und gedenke nunmehr die Apothekerlaufbahn in der väterlichen Apotheke zu beginnen“, schrieb er am 28. Dezember 1918 in einem handgeschriebenen Lebenslauf in den Akten der Lützow-Apotheke (1).

Da war der Wahnsinn des ersten weltweiten Krieges schon fast wieder vorbei, bei dem mehr als 60 Millionen Soldaten unter Waffen waren, von denen nahezu 9 Millionen ums Leben kamen, pro Tag etwa 6.000. Bei den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Osmanisches Reich, Königreich Bulgarien) betrug das entsprechende Verhältnis etwa 25 Millionen Soldaten zu 3,5 Millionen Todesfällen, bei der sogenannte Entente (Frankreich, Großbritannien und sein britisches Weltreich, Italien, die USA und Russland) 40 Millionen zu 5 Millionen. Der Eintritt der Amerikaner in den Krieg im April 1917 und die Revolution in Russland im Oktober 1917 brachten die Wende im Kriegsverlauf. Aber die Friedensverhandlungen 1919, von den Rechtskonservativen als „Diktatfrieden von Versailles“ bezeichnet, trugen zum Aufstieg der Nationalsozialisten bei, ebenso wie der Versuch der Kommunisten um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 1919 die Revolution in Deutschland zu entzünden.

Patriotismus oder Antisemitismus?

Bild 1: Eintrag zur Immatrikulation (10. April 1921) und Exmatrikulation (8. März 1923) sowie zur Wohnung im SS 1926 (Archiv der Humboldt-Universität Berlin mit freundlicher Genehmigung

An der patriotischen Gesinnung des Curt Lewy hat weder dieser Kriegsverlauf noch seine eher kurze soldatische Erfahrung etwas geändert, wie ein Dokument aus seiner Studienzeit belegt. Aber der Reihe nach: Er begann seine Apothekerlaufbahn am 1. Januar 1919, wie er in einem Lebenslauf schrieb, zunächst als Praktikant in der väterlichen Apotheke vom 28. Dezember 1918 bis zum 30. September 1920. Am 10. April 1921 immatrikulierte er sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin im Fach Pharmazie und studierte dort bis zum 8. März 1923 (Bild 1). Das pharmakologische Staatsexamen bestand er im April 1923 mit der Note „rite“ (befriedigend). In dieser Zeit wohnte er zuhause bei seinen Eltern in der Keithstraße 18. Die Promotion erfolgte am 16. Dezember 1927 mit einer Dissertation zum blauen Farbstoff (Bild 2).

Bild 2: Titel der Promotionsschrift (Archiv der Humboldt-Universität Berlin mit freundlicher Genehmigung).

Im Studium war er in der „Wandergilde, Jugendgruppe nationaldeutscher Juden“ organisiert, einer Jugendgruppierung des Verbandes nationaldeutscher Juden (VnJ), eine konservative jüdisch-politische Organisation in Deutschland. Der VnJ wurde im März 1921 von Max Naumann (1875-1939) gegründet und 1935 verboten. Aufgrund des prägenden Einflusses des Gründungsvaters wurden die Mitglieder des Verbands auch als „Naumann-Juden“ oder „Naumannianer“ bezeichnet. Naumann und der VnJ befanden sich damit in scharfer Opposition zum Zionismus und zu den meisten jüdischen Verbänden und unterschieden streng zwischen Deutsch-Juden und Fremd-Juden. Besonders die ins Reich geströmten orthodoxen Ostjuden erregten seinen Zorn. Naumann und die Mitglieder des VnJ schlossen sich der Idee eines „deutschen Gottes“ an und begingen christliche Feiertage. Anfangs sah Naumann sogar in Adolf Hitler eine positive politische Kraft, dessen Antisemitismus tat er als unwichtig ab. Trotz (oder wegen) der Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Nationalsozialismus und trotz seiner deutschnationalen Ausrichtung wurde Naumanns Verband nationaldeutscher Juden bereits am 18. November 1935 aufgelöst, früher als andere jüdische Organisationen (2). Unter Historikern ist dieser „jüdische Antisemitismus“ Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion gewesen (3), wenngleich heute nicht mehr sehr präsent.

Unter dem Motto „Ducunt volentem fata, nolent trahunt“ (Das Schicksal führt die Willigen und schleppt die Unwilligen) veröffentlichte der Student Curt Lewy einen flammenden Aufruf an seine jüdischen Mit-Kommilitonen (Bild 3), in dem es (unter anderen) heißt: „Werdet Deutsche! Die Jugend vor allem muß helfen am Aufbau deutschen Geistes und der deutschen Form! Ablegen soll sie alles, was ihr noch an sogenannten „kulturellen“ jüdischen Gütern anhängt … Herauszuschmelzen den letzten Rest fremder Schlacke in innigster Verflechtung mit unserer heiligen Mutter Deutschland“ (4).

Bild 3: Der Aufruf des Studenten Curt Lewy, Mitglied der Jugendgruppe nationaldeutscher Juden im Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden (aus: (4)).

Es darf sehr wohl bezweifelt werden, dass diese extreme Assimilierungspolitik – völlige Auslöschung der jüdischen Identität – von der Mehrheit der deutschen Juden zu dieser Zeit so geteilt wurde, wie gelegentlich vermutet (5), auch wenn sicherlich viele Juden der Auffassung waren, dass Anpassung statt Abgrenzung die Situation der Juden im Deutschen Reich verbessern würde. Selbst den Nazis war die Anbiederung durch den VnJ suspekt. Und diese Position hat Curt Lewy auch nicht vor Vertreibung gerettet.

Ein Lebensretter und seine Familie

Eine andere Tat des Curt Lewy hat dagegen nachhaltigere Folgen gehabt: In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1926 rettete er an der Weidendammbrücke einem jungen Mann, der in suizidaler Absicht in die Spree gesprungen war, das Leben, indem er mutig hinterhersprang und ihn aus dem Wasser zog. Für diese Tat ist er im Februar 1927 vom preußischen Ministerium mit der Rettungsmedaille ausgezeichnet worden (Bild 4), wie er noch einige Jahre später in seinem Lebenslauf mit Stolz vermerkte.

Bild 4: Zeitungsnotizen zur Lebensrettung (Berliner Tagblatt und Handelszeitung, BTHZ vom 15.10.1926) und zur Verleihung der Rettungsmedaille (BTHZ vom 27.2.1927).

Am 29. Oktober 1927 heiratete er Johanna Breslau (Bild 5), die am 15. Mai 1904 in Wollstein (Provinz Posen) (heute Wolsztyn, Polen) geboren worden war. Die Daten des 1930 geborenen Sohnes unterliegen noch bis 2040 dem Datenschutz, so dass wir daher keine weiteren Informationen zu ihm haben. Am 15. August 1932 übernahm Curt Lewy förmlich die Leitung der Lützow-Apotheke, nachdem er, wie zuvor sein Vater, beantragt hatte, nicht im Haus der Apotheke, sondern in der Keithstraße 17 zu wohnen. Am 16. Oktober 1935 wurde das Eigentum an Apotheke und Wohnhaus Wichmannstraße 28 im Grundbuch von Albert Lewy auf Curt Lewy übertragen, zu einem formellen Kaufpreis von 200.000 Reichsmark (RM).

Bild 5: Johanna Lewy geborene Breslauer (* 15. Mai 1904) um 1930 (Fotograf unbekannt, Quelle: Ancestry)

Curt Lewys Vater Albert Lewy verstarb am 10. April 1936 in Berlin. Er hatte gemeinsam mit seiner Frau Margarethe, geborene Rosendorff im Jahr 1907 ein Testament verfasst, dass zu den Akten genommen worden war. Das Testament war am 21. April 1936 eröffnet worden, aber es war – vermutlich – kein Erbschein ausgestellt worden, da die Ehefrau noch am Leben war; sie starb am 1. Mai 1939 in Rio de Janeiro, Brasilien (siehe Teil 4).  Als Curt Lewy nach dem Krieg diesen Erbschein beantragte, konnte die Akte im Landesarchiv Berlin nicht mehr aufgefunden werden, da sie durch Brandeinwirkung im Krieg vernichtet worden war (6).

Die Flucht nach Brasilien

Trotz seiner nationaljüdischen Gesinnung muss Apotheker Dr. Curt Lewy die Auswirkungen der vielen antisemitischen Gesetze nach der Machtergreifung der Nazis 1933 gespürt haben. Er verkaufte seine Apotheke unmittelbar nach dem Tod seines Vaters am 16. April 1936 und kündigte seine Stellung als Apothekenleiter mit Schreiben an den Kreisarzt des Bezirks Tiergarten vom 9. Juni 1936 bereits zum 1. Juli 1936, zusammen mit der Ankündigung, demnächst Deutschland zu verlassen. Der Kaufpreis von Apotheke, Wohnhaus und Apothekenlizenz betrug laut Kaufvertrag vom 4. Mai 1936 290.000 RM, von denen 100.000 Mark in bar bezahlt wurden, 90.000 Mark durch Übernahme einer Hypothek beglichen wurden, und die verbleibenden 100.000 Mark bis 1946 gestundet wurden zu einem Zinssatz von 6%. Die Apotheke wurde von dem Apotheker Curt Blew aus Gransee (Mark) erworben, der bis dato dort die Königliche Adler-Apotheke geführt hatte. Für die die Übernahme der Lützow-Apotheke musste er nachweisen, kein Jude zu sein. Aus dieser Zeit ist ein Foto der Innenansicht der Apotheke überliefert (Bild 6) (7). 

Bild 6: Innenaufnahme der Apotheke, vermutlich 1937. Die Datierung wird ermöglicht durch das Plakat unten links (GEBT MIR VIER JAHRE ZEIT), das auf eine Hitler-Ausstellung vier Jahre nach der Machtergreifung 1933 hinweist (Quelle: Landesarchiv Berlin, Rep 290 Nr. 0268832 mit freundlicher Genehmigung).

Dr. Curt Lewy floh 1936 aus Deutschland nach Brasilien, gemeinsam mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner Mutter. Im vierten und letzten Teil dieser Geschichte wird es um das Leben in Brasilien, die Rückkehr nach Deutschland, das Ergebnis des Wiedergutmachungsverfahrens und um die Frage gehen, was eigentlich aus der Lützow-Apotheke wurde.

Literatur

1. Landesarchiv Berlin, A Rep. 32-08 Nr. 202 (Lützow-Apotheke).

2. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Verband_nationaldeutscher_Juden

3. Peter Loewenberg: Antisemitismus und jüdischer Selbsthaß. Eine sich wechselseitig verstärkende sozialpsychologische Doppelbeziehung. Geschichte und Gesellschaft, 5. Jahrgang (1979), Seite 455-475.

4. Mitteilungsblatt des Verbandes nationaldeutscher Juden, Jahrgang 1922, Nr. 4 (April)

5. Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration und Restitution: Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. Govi Verlag, Eschborn 1999 (2. Auflage), S. 111ff.

6. Landesarchiv Berlin: A Rep. 348 Nr. 19365 (Erbscheinakte zur Testamentsakte)

7. Landesarchiv Berlin: B Rep. 012-485 (Lützow-Apotheke Berlin)

Das Auktionshaus Paul Graupe, Lützowstraße 38

Ein Beitrag, gemeinsam mit Marc-Thomas Bock

Schon lange vor dem Münchener Fund der Sammlung Gurlitt im Jahr 2012 standen Fragen zur Herkunft von geraubten Kunstwerken und eventuell relevanter Restitutionsansprüche im Fokus der Provenienzforschung. Die Dimension der von den Nazis ab 1933 betriebenen Enteignung von in jüdischem Besitz befindlicher Kunst ist auch heute noch keineswegs in Gänze erfasst und deshalb auch wichtiger Teil der gegenwärtigen Holocaust-Forschung. Dabei vollzog sich dieser Diebstahl auf sehr viel subtileren Wegen, als es das Wort „Raub“ beschreiben könnte.

Bild 1: Buchtitel zu Paul Graupe im Böhlau-Verlag 2016.

Ein jüdisches Schicksal aus dem Berliner Tiergarten macht dies besonders deutlich: Im Jahre 1907 hatte der 1881 in Neutrebbin im Oderbruch geborene Paul Graupe (Bild 1) als gelernter Buchhändler ein Antiquariat in der Kochstraße 3 in Kreuzberg eröffnet. Schon bald mussten größere Räumlichkeiten gefunden werden. Im Jahre 1911 dann zog das „Antiquariat Paul Graupe“ in die Lützowstraße 38 (Bild 2), wo in den Jahren bis 1927 bedeutende Kunstsammlungen und Privatbibliotheken versteigert wurden (1).

Bild 2: Foto des Haus Lützowstrasse 38 im Jahr 1939: Links das inzwischen von einem anderen Antiquar (Hans Linz) betriebene Geschäft, rechts vom Eingang eine Installationsfirma (Oscar Schroeler), dazwischen, wo auf dem Foto 1939 ein Optik- und Fotogeschäft war, lag 1927 ein Weinlokal (aus: Bauakte im Landesarchiv (3)).

Bis 1922 wohnte Paul Graupe in der Lützowstraße 38, im ersten Stock oberhalb seines Geschäftes, wo auch die Versteigerungen stattfanden, in einem sogenannten „Berliner Zimmer“, zwei durch eine Schiebetür verbundene große Wohnzimmer. Der Grafiker Emil Orlik (1870-1932) hat diese sehr beengte Situation eindrucksvoll dargestellt (Bild 3). Dann war offenbar diese Enge für die wachsende Familie zu groß, ab 1923 und bis 1926 wohnte Paul Graupe mit Frau und Sohn in der Genthiner Straße 28 (Bild 4). Es ist unklar, ob die Wohnung oberhalb der Verkaufsräume für Auktionszwecke beibehalten wurde; vermutlich ja, da nicht nur das Orlik-Bild von 1922 dies zeigt, sondern auch die Biographie der Sohnes des Berliner Galeristen Gustav Nebehay (1881-1935), Christian M. Nebehay (1909-2003) daran erinnert (2). Im Jahr 1926 zog die Familie um in die Hubertusallee 42-44, während das Antiquariat noch ein Jahr in der Lützowstraße verblieb. Die im Grunewald gemietete Wohnung war bekannt für ausschweifende Festlichkeiten mit bis zu 150 Personen (2).

Bild 3: Plakat einer Kunstauktion des Antiquariat Paul Graupe 1922 nach einer Lithografie von Emil Orlik (aus: Wikipedia, gemeinfrei).
Bild 4: Einträge der Familie von Paul Graupe im Adressbuch von Berlin zwischen 1908 und 1937.

Im Jahre 1917 hatte Paul Graupe die Katharina (Käthe, Kate) Florentine Henriette Joske (1889-1945) geheiratet, die in erster Ehe seit 1913 mit Georg Cohen verheiratet gewesen war; diese Ehe war am 12. Januar 1917 geschieden worden. Aus der Ehe von Paul und Katharina Graupe entstammte das einzige Kind der Familie, Thomas Peter Graupe, geboren am 19. Juni 1920 in Berlin. Der emigrierte nach Großbritannien und nannte sich Grange nannte; von dort beantragte er in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts Wiedergutmachung. Er starb am 15. Januar 1978 in London.

Aus assimiliertem Judentum entstammend, hatte Paul Graupe nach seiner Lehre in fünf Buchhandlungen von Kiel bis München gearbeitet, hatte Netzwerke geknüpft und durch Fleiß und Zuverlässigkeit das Vertrauen einflussreicher, durchaus nicht nur jüdisch-stämmiger Sammler sowie Kunst-und Buchhändler erworben. Noch in der Lützowstraße verlegte sich sein Schwerpunkt zunehmend auf die Tätigkeit des Kunst-Auktionators. Hier versteigerte er 1925 aufsehenerregende Werke junger aufstrebender Künstler wie Picasso oder Chagall. Immer wieder jedoch nahm er ganze Bibliotheken in Konzession und verkaufte beziehungsweise versteigerte wertvolle, in der Frühzeit des Buchdrucks gedruckte Werke und Erstausgaben.

Bild 5: Grundriss des Erdgeschosses Lützowstraße 38 (aus: Bauakte im Landesarchiv (3)).

Der Umzug des Antiquariats bzw. des Auktionshauses in die Tiergartenstraße 4 erfolgte 1927 nach einem Brand in der Lützowstraße 38: Zwischen dem Antiquariat links und dem Installateur auf der rechten Seite des Hauses lag – links vom Eingang – seinerzeit ein Weinrestaurant (Bild 5), dessen Küche im Keller untergebracht war. Als es dort im Januar 1927 zu einem begrenzten Brand gekommen war, stellte heraus, dass diese Küche ohne Betriebserlaubnis genutzt worden war. Um der Hauseigentümerin die Mietennahmen aus Restaurant weiterhin zu sichern, wurde der Mietvertrag mit Paul Graupe zum 1. Oktober 1931 gekündigt, da im Antiquariat eine entsprechende Erlaubnis zur Einrichtung einer Küche vorhanden war (3). Paul Graupe mietete stattdessen das Obergeschoß der Villa Tiergartenstraße 4 (Bild 6), die zu diesem Zeitpunkt den Liebermann´schen Erben gehörte: Der frühere Besitzer, der geheime Kommerzienrat Georg Liebermann (1844-1926), ein Bruder von Max Liebermann (1847-1935), war 1926 verstorben, hatte aber bereits zu Lebzeiten (ab 1925) an den Antiquar Hermann Ball und dessen Söhne Alexander und Richard aus Dresden vermietet. Als Paul Graupe daher 1927 in die Villa Tiergartenstraße 4 umzog, verlegte er damit nicht nur seinen Arbeitsmittelpunkt in das Zentrum der Berliner Kunstsammler und Kunstgalerien, während die meisten freischaffenden Künstler weiterhin im Lützow-Viertel südlich des Landwehrkanals lebten und arbeiteten (4). Gleichzeitig ging er mit dem Antiquariat Hermann Ball eine für beide Seiten lukrative Geschäftsverbindung ein.

Das Auktionshaus Graupe und die Firma Ball & Graupe waren in jenen Jahren nicht nur für die Versteigerung umfangreicher Privatsammlungen berühmt, sondern auch und vor allem für ihre erstklassigen und aufwändig gestalteten Kataloge bekannt: Im Heidelberger Universitätsarchiv sind diese mehr als 150 Graupe-Kataloge und über 20 Ball & Graupe-Kataloge archiviert und digital zugänglich (5), die heute mehr denn je als Forschungsgrundlage für Provenienz- und Restitutionsverfahren von geraubter Kunst dienen können. Im Tiergartenviertel kamen unschätzbare Kunstwerke wie etwa aus den Sammlungen des Erich Baron von Goldschmidt-Rothschild im März 1931 unter den Auktionshammer. Der Umzug im Jahr 1932 in die Bellevuestraße 3, in direkter Nachbarschaft zum Haus der Kunst des Vereins Berliner Künstler, erlaubte es dem Auktionshaus, die Räumlichkeiten des VBK für Ausstellungen und Auktionen zu nutzen; dies allerdings nur für kurze Zeit, da der VBK bereits ein Jahr später in die Tiergartenstraße 2 umzog (siehe JUELE vom 26. September 2023).

Bild 6: Villa in der Tiergartenstraße 4, die 1927 den Liebermann´schen Erben gehörte. Die Villa wurde 1935 von der NSDAP gemietet und 1940 gekauft und ging dann als „T4“ und Brutstätte des NS-„Euthanasie“-Programms in die Geschichte ein (Foto: https://war-documentary.info/tiergartenstrasse-4-in-berlin/)

Mit der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933 waren nun auch jüdische Antiquare, Sammler, Kunsthändler und Auktionshäuser akut von Repressalien betroffen. Nach dem  Umzug 1932 begann Paul Graupe mit Versteigerungen der Bestände von in Bedrängnis geratenen jüdischen Berufskollegen, so die Sammlung des Kaufmannes Max Silberberg. Die schon seit 1931 bestehende „Reichsfluchtsteuer“ (6) sollte es Wohlhabenden schwer machen, Kapital oder Wertbesitz unversteuert ins Ausland zu verbringen. Nun wurde die Steuer in ein antisemitisches Rechtsmittel umgewandelt, um den von immer stärkeren Repressalien betroffenen Juden möglichst viel Vermögen abzupressen. Das betraf zunehmend auch bis dahin reichsweit bekannte und geachtete Kunsthändler und Sammler wie Walter Feilchenfeld, Herbert Guttman, Alfred Flechtheim, oder die Hamburgerin Emma Budge.

Im Gegensatz zu vielen anderen jüdischen Kunsthändlern gelang es Paul Graupe jedoch zunächst, eine Sondererlaubnis als Auktionator von der Reichskammer der Bildenden Künste zu erhalten. Die Gründe, weshalb ihm diese zugestanden wurde und wie er sein Privileg nutzte, sind nach seinem Tode diskutiert worden. Zum einen trugen sein Prestige und sein unbescholtener Ruf dazu bei, dass sich bedrängte Juden vertrauensvoll an ihn wandten, um von ihm die nun schon dringend zur Ausreise benötigten Barmittel zu erhalten und sich so ins Ausland zu retten. Der Großteil der Auktionserlöse wurde durch Zuschläge von Graupes langjährigen und Valuta-zahlenden Interessenten aus dem westlichen Ausland und Übersee bestritten. Zum anderen hatte Graupe die so gewonnenen Devisenbeträge abzüglich seiner eigenen Konzession und einem Bruchteil des Wertes für die Besitzer der Kunstwerke an die Nazis abzuführen. Die um ihre Besitztümer geprellten Kunstsammler, aber auch ehemalige, jetzt mit Berufsverbot belegte Konkurrenten Graupes, waren so in der Lage, wenigstens das Geld für die Flucht und die Kosten für die Visabeschaffung aufzubringen.

Doch schließlich kam auch für Paul Graupe das Aus: Er musste sein Geschäft 1937 „arisieren“ und übertrug die Führung an seinen langjährigen Mitarbeiter Hans W. Lange. Die letzte Auktion unter seinem Namen fand im Oktober 1936 statt. Nach seinem Ausschluss aus der Reichskulturkammer floh er 1937 über die Schweiz nach Paris, nachdem er bereits zuvor in Berlin einen neuen Kunsthandel – die Firma „Paul Graupe & Cie., Paris “ – gegründet hatte. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 musste er weiter nach New York flüchten. Dort verstarb seine Frau Katharina (Kate) am 5. Januar 1945. Nach dem Krieg kehrte Paul Graupe nach Paris zurück und begann, dem Verbleib seiner Kunstbestände nachzuforschen. Schwer erkrankt, verstarb er während eines Klinikaufenthaltes 1953 in Baden-Baden.

Literatur

1. P. Golenia. K. Kratz-Kessemeier, I. Le Masne de Chermont: Paul Graupe (1881-1953). Ein Berliner Kunsthändler zwischen Republik, Nationalsozialismus und Exil. Böhlau Verlag Köln 2016.

2. Christan M. Neberhay: Die goldenen Sessel meines Vaters Gustav Nebehay (1881-1935), Antiquar und Kunsthändler in Leipzig, Wien und Berlin. Edition Brandstätter Wien 1983.

3. Bauakte im Landesarchiv Berlin: B Rep. 303 Nr. 4340.

4. Kunst im Lützow-Viertel: https://www.mittendran.de/spaziergang-die-vergangenheit-24-kunstsammler-kunsthaendler-und-kuenstler/

5. Heidelberger Universitätsbibliothek: https://katalog.ub.uni-heidelberg.de/cgi-bin/search.cgi

6. Reichsfluchtsteuer: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsfluchtsteuer

Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 2)

Julius Popper, geboren in Hildesheim am 5. Oktober 1822, war der erste und für lange Zeit der einzige der Popper-Ahnen, der nicht nur eine höhere Bildung erhielt, sondern der auch eine seiner Ausbildung entsprechende akademische Karriere anstrebte, der aber zu früh verstarb, um sie zu erreichen.

Schule in Hildesheim, Studium in Berlin und Leipzig

Vermutlich ging er, wie alle seine Geschwister, an die jüdische Gemeindeschule in Hildesheim, die in den Jahren 1831 bis 1844 vom Landrabbiner Levi (Löb) Bodenheimer (1807-1868) geleitet wurde. Von diesem haben wir ein genaues Bild (Bild 1), dank des Zeichentalents von Julius Bruder Isidor Popper (1816-1884), der uns später noch einmal beschäftigen wird.

Bild 1: Der Hildesheimer Rabbiner Levi Bodenheimer (1807-1868) nach einer Zeichnung von Isidor Popper (Quelle: Leo Baeck Institute, New York mit freundliche Genehmigung)

Mit 21 Jahren, am 7. September 1841 bestand Julius das Abitur am Gymnasium Andreanum in Hildesheim (heute: Scharnhorst-Gymnasium), einer ehemaligen Klosterschule mit langer Tradition: Das Gymnasium war bereits 1225 gegründet worden, wurde ab 1542 (nach der Reformation 1517) kurzzeitig evangelisch geführt, und war ab 1546 in städtische Trägerschaft; ab 1850 war es zusätzlich Realgymnasium. Es hatte im 19. Jahrhundert viele jüdische Schüler, wie die Schul-Annalen ausweisen (1).

Unmittelbar im Anschluss daran, am 20. Oktober 1841, immatrikulierte er sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität (FWU) Berlin im Fach Philosophie. Sein Studium dauerte bis zum 31. Januar 1846 (Exmatrikulation). In dieser Zeit wohnte er im jüdischen Waisenhaus für Knaben in der Rosenstraße 12, und wir wissen von dessen Leiter, Baruch Auerbach (1793-1864), der ihm später ein Zeugnis ausstellte, dass er dort als einer von zwei Erziehern gegen Kost und Logis arbeitete, um sich so das Studium zu verdienen. Unter dieser Adresse ist er auch im Berliner Adressbuch erstmalig 1843 gelistet, und letztmalig 1852 (Bild 2).

Bild 2: Immatrikulation 1841 (0ben) und Exmatrikulation 1844 (unten) an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin (Quelle: Archiv der Humboldt-Universität Berlin), dazwischen der erste (1843) und der letzte (1852) Eintrag im Adressbuch von Berlin.

Erzieher am Auerbach´schen Waisen-Institut

Das von Baruch Auerbach 1833 gegründete jüdische Waisen-Erziehungsinstitut war zunächst für nur 4 Knaben eingerichtet worden, aber bereits 10 Jahre später waren es 18, die dort zeitgleich bis zur Entlassung in das Berufsleben wohnten. Sie besuchten in dieser Zeit die ebenfalls von Auerbach geleitete jüdische Gemeinde-Knabenschule. Das Waisenhaus wurde von privaten Spenden jüdischer Gemeindemitglieder in Berlin unterstützt. Jährlich veröffentlichte Auerbach eine Fortschrittsbericht, in dem nicht nur die Einnahmen und Ausgaben des Waisenhauses und die Sponsoren gelistet wurden, sondern auch, durchaus im Detail, die erzieherischen und berufliche Erfolge seiner Zöglinge dokumentiert wurden, und als deren Anzahl größer wurde, auch eine diesbezügliche Statistik eingefügt war (Bild 3). Ab 1844 gab es in der Rosenstraße auch eine Waisenhausabteilung für Mädchen. 

Bild 3: Statistik der beruflichen Erfolge der ersten 60 Knaben des jüdischen Waisenhauses des Baruch Auerbach aus dem Jahresbericht Nr. 19 (1852), Seite 14.

Mit dem Ende seines Studiums 1847 beantragte Julius Popper die Einbürgerung in Preußen, während sein Vater Meyer Popper in Hannover im Jahr 1847 die Entlassung seines Sohnes aus der hannoverschen Staatszugehörigkeit beantragte (2). Julius erhielt den preußischen Bürgerbrief am 22. Juli 1848. 

Prediger und Religionslehrer in Dessau

Seine erste Stelle nach dem Studium trat er 1852 als Lehrer und Prediger der jüdischen Gemeinde Dessau sowie als Religionslehrer an dortigen Franzschule an, nachdem er sich noch von Berlin aus auf die frei gewordene Stelle dort beworben hatte. Gleichzeitig setzte er seine Studien an der Universität Leipzig fort, wo er 1854 die Promotionsprüfung ablegte mit einer handgeschriebenen, in lateinischer Spache abgefaßte Doktorarbeit zum Thema „Observationes criticae in pentateuchi de tabernaculo relationem“ (Kritische Betrachtungen zum Pentateuch, den fünf Büchern der Tora, der jüdischen Bibel). (Bild 4) (3). Diese und seine weiteren Publikationen werden wir später diskutieren. Auch seine Predigerstelle in Dessau und deren nicht besonders glückliches Ende sollen noch ausführlicher dargestellt werden.

Bild 4: Titelblatt der Dissertationsschrift des Julius Popper an der Universität Leipzig 1854 (Quelle: Archiv der Universität Leipzig, Arch. Nr. Phil.Fak.Prom 00197)

Heirat in Berlin

Vier Jahre nach Beginn seiner Unterrichtstätigkeit in der jüdischen Gemeinde und zwei Jahre, nachdem er den Unterricht auf die Franzschule beschränkt hatte, beantragte er beim Konsistorium, der religiösen Aufsichtsbehörde für das Schulwesens in Anhalt-Dessau, die Genehmigung der Heirat mit seiner ihm vermutlich aus Berlin bekannten Braut Laura Sara Babs (1833-1896) aus Meseritz, damals in der preußischen Provinz Posen gelegen (heute: Międzyrzecz, Polen). Sie war 23 Jahre alt und die Tochter des Rentiers Jakob Abraham Bab und dessen Ehefrau Hanna, geborene Mendelson (Bild 5). Dabei ergab sich ein eher förmliches Heiratshindernis: Als preußischer Bürger sollte er, wie auch die anhaltischen Bürger, ein Ledigennachweis von seiner Heimatgemeinde erbringen, mit der belegt werden sollte, dass der Heiratskandidat nicht bereits woanders verheiratet war. Einen solchen Nachweis gab es aber in Preußen nicht, wie ihm auf Rückfrage aus Berlin mitgeteilt worden war. Das Paar verlobte sich am 18. August 1856 in Berlin. Da offenbar die Heirat bereits fest eingeplant war, beantragte er am 15. November des Jahres die Genehmigung der Bestellung des Aufgebots trotz noch fehlenden Ledigennachweises unter dem Vorbehalt, dass die Heirat erst dann erfolgen würde, wenn dieser Nachweis – aus Hildesheim – erbracht worden sei; dies wurde offensichtlich bewilligt, denn sie heirateten bereits im Dezember des Jahres 1856 und zogen in ein eigenes Haus in der Mittelstraße 19 in Dessau (4), wo Julius Popper seit 1855 auch ein Knabenpensionat betrieb für auswärtiger Schüler der Franzschule (Bild 6). Ein am 18. August 1857 zur Welt gekommenes erstes Kind starb am gleichen Tag.

Bild 5: Verlobungsanzeige von Julius Popper mit Laura Sara Bab in Berlin im August 1854 (Quelle: Hannoverscher Kurier vom 28. August 1856; Seite 4)
Bild 6: Anzeige der Eröffnung eines Knaben-Pensionats in Dessau durch Julius Popper 1855 (Quelle: Allgemeine Zeitung des Judenthums, 19. Jahrgang (1855) Nr. 2, Seite 25)

Seine Schwester Therese heiratet in Dessau, sein Vater stirbt in Dessau

Im Jahr 1854 zog Julius Schwester Therese, 34 Jahre alt, die ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt hatte, von Hildesheim nach Dessau und heiratete dort am 4. November 1854 den Drucker Hermann Neubürger (Bild 7), der nach dem Tod seiner ersten Frau mit sieben unmündigen Kindern zurückgeblieben war. Julius Popper, der vermutlich diese Ehe „arrangiert“ hatte, hielt die Traurede (5), in der es hieß: „Die besten Jahre Deines Lebens hast Du dieser edlen Kindespflicht geopfert … Der Herr zahlet Dir heute den Lohn kindlicher Treue „. Ob die „nachgelassene“ Therese auch so empfunden hat angesichts der Schar unmündiger Kinder, denen sie die Mutter ersetzen sollte, wissen wir nicht; wir wissen aber, dass sie keine eigenen Kinder mehr bekommen hat und dass sie fünf Jahre vor ihrem Mann am 23. November 1882 in Dessau verstarb – sie wurde nur 62 Jahre alt (Bild 8). Und vermutlich hat sie auch ihren Vater Meyer Popper bis zu dessen Tod versorgt: er kam nach 1856 aus Hildesheim hierher und verstarb am 10. August1860 im Alter von 70 Jahren. 

Bild 7: Trau-Rede des Julius Popper bei der Trauung seiner Schwester Therese mit dem Hermann Neubürger in Dessau am 4. November 1855. Dessau 1856 (Eigendruck).

Die überaus interessante Geschichte der jüdischen Familie Neubürger, die sich durch diese Heirat mit der Geschichte der Poppers verknüpfte, aber auch ein paar eigene Beziehungen zum Lützow-Viertel aufweist, wollen wir im nächsten Teil darstellen.

Bild 8: Sterbeurkunde der Therese Neubürger geborene Popper, Dessau 1882 (Quelle: Stadtarchiv Dessau mit freundlicher Unterstützung)

Literatur

1. https://de.wikipedia.org/wiki/Gymnasium_Andreanumhttps://www.andreanum.de/index.php

2. Stadtarchiv Hildesheim, Archiv Nr. 101 – 794a Nr. 24: Entlassung aus der Staatsangehörigkeit für Julius Popper 1847.

3. Pentateuch: https://de.wikipedia.org/wiki/Tora

4. Franz Brückner: Häuserbuch der Stadt Dessau. Band 9, Seite 706-712.

5. Trau-Rede des Julius Popper bei der Trauung seiner Schwester Therese mit dem Hermann Neubürger in Dessau am 4. November 1855. Dessau 1856 (Eigendruck).

Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Geschichte haben wir erfahren, dass die Familie des Berliner Rechtsanwalts Ernst Liedtke, der im Blumeshof 12 wohnte, aus Christburg, Kreis Stuhm in Westpreußen stammte. Heute werden wir die verschiedenen Familienmitglieder verfolgen: die, die in Christburg geblieben ebenso wie diejenigen, die nach Berlin gegangen sind. Für die weitere Dokumentation der Familie Liedtke konnten wir zurückgreifen auf Standesamtsurkunden aus Christburg und Berlin einerseits, auf Adressbuch-Einträge in Berlin andererseits, aber auch auf Zeitungsmeldungen.

Die Eltern

Tobias Liedtke war 1866, 1871, 1874, 1884/5 und 1891 Kaufmann für Manufakturwaren, Produktenwaren, 1891 auch für Lederwaren, und er annoncierte noch im Januar 1894 eine Lehrlingsstelle in seinem Tuch-, Manufaktur und Modewarengeschäft in Christburg (Bild 1). Er müsste aber noch 1894 gestorben sein, da er in der Sterbeurkunde seines Sohnes Meyer vom April in diesem Jahr als verstorben bezeichnet wurde. Den Tod seiner Frau Fanny konnten wir bislang nicht verifizieren.

Bild 1: Anzeige in „Der Gesellige“, Graudenzer Zeitung vom 3. Januar 1894, Seite 7.

Die Kinder

Meyer Liedtke (*1842) blieb zeitlebens in Christburg, war Kaufmann und saß in den Jahren 1883 und 1885 im Gemeinderat der dortigen jüdischen Gemeinde (1). Er starb früh, im Alter von nur 52 Jahre, am 8. April 1894 in Christburg, sein Tod wurde von seinem Bruder Salomon angezeigt. Clara Liedtke geborene Henschel, seine Ehefrau, zog 1910 mit ihrem Sohn Theodor nach Berlin, wo ihr anderer Sohn, Ernst Liedtke, bereits 10 Jahre lebte. Ab 1911 wohnte die Rentiere Clara Liedtke in der Jenaer Str. 2 im Bayrisches Viertel in Wilmersdorf (Bild 2); sie starb im Mai 1933.

Bild 2: Ausschnitt aus dem Adressbuch von Berlin 1912 für die Jenaer straße 2.

Salomon Liedtke (*1843) blieb ebenfalls Zeit seines Lebens in Christburg. Er war im jüdischen Gemeindevorstand von Christburg in den Jahren 1897, 1904, 1908, 1910 und 1913 (1) und starb am 16. Oktober 1925 im Alter von 72 Jahren in Christburg – sein Sohn Julius zeigte seinen Tod an. Seine Frau Franziska Liedtke (*1859), geborene Loewenstein war bereits am 27. Januar 1909 in einer Privatklinik in Berlin-Charlottenburg (Augsburgerstraße 66) verstorben; der Tod wurde vom Apotheker Julius Loewenstein (Berlin, Bärwaldstr. 57) angezeigt, vermutlich einem Neffen, Sohn ihres Bruders. Sie war offenbar zu einer medizinischen Behandlung nach Berlin gekommen, da als ihr Wohnsitz nach wie vor Christburg (Am Markt) angegeben wurde. 

Schier Liedtke (*1845), den wir jetzt als dritten Sohn der Eheleute Tobias und Fanny Liedtke einordnen, war offenbar der erste, der den Heimatort dauerhaft verließ und nach Berlin ging. Bei seiner Heirat mit Lydia Freudenberg am 27. Februar 1886 in Berlin wohnte er in der Steinmetzstraße 9, ein Jahr später bei der Geburt ihres einzigen Kindes, Theodor, wohnte die Familie eine Straße weiter, in der Blumenthalstraße 15. In beiden Fällen war er im Berliner  Adressbuch als „S. Liedtke, Handelsmann“ eingetragen, und selbst später, als alle Einwohner mit Vornamen, Nachnamen und Beruf angegeben wurden, blieb es bei dieser Abkürzung, so, als schäme er sich seines ungewöhnlichen Vornamens oder als wolle er vermeiden, mit diesem Vornamen als Jude identifiziert zu werden. In den Jahren nach der Reichsgründung 1871 war der sogenannte „akademische Antisemitismus“ Grund für viele Juden, zu konvertieren oder den Namen zu ändern (mittendran vom 1. September 2024). Da er aber der einzige Liedtke im Adressbuch war mit einem Vornamen, der mit S begann, lassen sich seine weiteren Wohnsitze bis 1899 vermuten: er zog 1888 in den Berliner Norden (Metzgerstraße 25), und betrieb ab 1896 einen Kolonialwarenladen (Fürstenwaldstraße 19, Pasewalkerstraße 7). Ab 1899 ist ein „S.Liedtke“ nicht mehr im Adressbuch verzeichnet, und auch seine Witwe nicht; ihr Verbleib ist bislang unbekannt.

Rosalie Liedtke (* 1847) heiratete am 29. Januar 1872 Louis Hirschberg aus Culm (heute: Chelmno, Polen), dort geboren 1843. Die Eheleute hatten ein Kind: Martin, geboren 1882 in Culm. Louis Hirschberg war bis zu seiner Pensionierung in Culm Stadtrat und Sadtältester, danach (1903) zog das Ehepaar nach Berlin, zunächst in die Bülowstraße 106, 1910 in die Regensburger Str. 28. Er starb dort am 18. August 1913, seine Witwe Rosalie sieben Jahre später, am 13. April 1920. Ihr Tod wurde von ihrem Sohn Dr. med. Martin Hirschberg angezeigt.

Die nächste Generation

Ernst Liedtke (*1875), der ältere Sohn von Clara und Meyer Liedtke, ging 1893 zum Studium nach Berlin. Sein Lebenslauf wird in einem weiteren Teil dieser Geschichte ausführlicher dargestellt.

Theodor Liedtke (*1885), der jüngere Sohn von Clara und Meyer Liedtke, von Beruf Kaufmann, wohnte 1912 zunächst unter der gleichen Berliner Adresse wie seine Mutter (Jenaer Str. 2), erneut im Jahr 1922, und auch nach deren Tod von 1934 bis 1937. Nach den Informationen von Simon May (2) war er Verkäufer im Warenhaus Tietz in Berlin und wurde möglicherweise von seiner Haushälterin Hedwig Kuss zunächst versteckt, als die Repressionen gegen die Juden begannen. Er wurde 1942 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und von dort 1943 weiter nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.

Julius Liedtke (* um 1880), der Sohn von Salomon und Franziska Liedtke, erhielt im Mai 1914 Prokura in der Firma seines Vaters. Nach dem Tod des Vaters war Julius der alleiniger Erbe der Firma Salomon Liedtke. Ein im Dezember 1925 eröffnetes Konkursverfahren zog sich hin bis 1931 (Bild 3), wurde dann aber eingestellt. Weitere Informationen über Julius Liedtke fehlen bislang, aber ein Handelsgeschäft Liedtke gab es noch vor dem 2. Weltkrieg am Markt in Christburg (3).

Bild 3: Anzeigen im Deutschen Reichsanzeiger vom 10. Mai 1914 (oben), vom 10. Dezember 1925 (Mitte) und vom 15. Juni 1931 (unten).

Martin Hirschberg (*1882) machte das Abitur in Culm 1890, studierte anschließend Medizin in München, Freiburg, Königsberg und Berlin bis 1905, promovierte mit einer Arbeit über die operative Behandlung der Peritonealtuberkulose, und arbeitete zunächst am Kurhaus Schloss Tegel, bevor er 1917 eine eigene internistische Praxis für Magen-Darm-Erkrankungen in Wilmersdorf, Brandenburgische Straße 36 eröffnete (Bild 4). Von 1917 bis 1921 stand er als Dezernent für Krankenernährung im Dienste der Stadt Berlin, ab 1924 arbeitete er als Arzt beim Kassen-Ambulatorium „Cecilienhaus“ in Charlottenburg. Er hatte 1912 Friederike Henriette Jaffé geheiratet und hatte mit ihr drei Kinder (*1914, *1917, *1919). 1930 trat er zwar aus dem Judentum aus, aber nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 flüchtete die Familie mit dem Schiff nach Shanghai, von dort weiter nach Nanking, wo er als ärztlicher Berater der deutschen Diplomaten diente. Vor der japanischen Besetzung Nankings 1937 (4) flüchteten sie, zusammen mit den Diplomaten, nach Peking, von wo sie nach dem Krieg (1948) über Honolulu in die USA immigrierte. Dr. Martin Hischberg starb in Houston, Texas am 17. März 1950, drei Tage nach einem Suizidversuch.

Bild 4: Anzeige im Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 10. Oktober 1916, Seite 7.

Der andere Theodor Liedtke

Die Doppelung von Name und Beruf (Kaufmann), auch im Berliner Adressbuch (Bild 5), die relative Nähe der beiden Geburtstage (1885 bzw. 1887) und der Umstand, dass beide 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden, hat dazu geführt, dass Theodor, der Sohn von Clara und Meyer Liedtke (s. oben), und Theodor, der Sohn von Lydia und Schier Liedtke, in der Literatur oft verwechselt wurden, derart, dass die Daten des Einen dem Anderen zugeordnet wurden.

Bild 5: Ausschnitt aus dem Berliner Adressbuch von 1921, unter Liedtke.

So geschehen in Christoph Kreuzmüllers Monografie der jüdischer Betriebe, die nach 1933 enteignet wurden (5), wie auch über lange Strecken in der Familiengeschichte von Simon May (2), der annahm, der „andere Theodor“ sei der Bruder seines Vaters Ernst Liedtke, und der von einer „devastating discovery“ sprach, als er den „doppelten Theodor“ entdeckte und seither annahm, dass dieser einer anderen Familie entstamme. Sein Schicksal ist gut dokumentiert und soll im folgenden Teil der Familiengeschichte Liedtke ausführlicher dargestellt werden.

Literatur

1. Gerhard Salinger: Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens. Teilband 3. New York 1908 (Eigendruck), Seite 707ff.

2. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.

3. Otto Piepkorn. Die Heimatchronik der westpreußischen Stadt Christburg und des Landes am Sorgefluß. Verlag Bösmann, Detmold 1962

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Nanking

3. Christoph Kreutzmüller. Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 bis 1945. Metropol Verlag, Berlin 2012

Apotheker Lewy, Lützow-Apotheke (Teil 2)

Dr. Albert Lewy hatte 1904 nicht nur die Lützow-Apotheke und die dazugehörige Apothekenlizenz vom Vorbesitzer erworben (diese Webseite vom 4. April 2025), sondern das ganze Wohnhaus an der süd-westlichen Ecke Schillstraße/Wichmannstraße (Bild 1). 

Bild 1: Blick vom Lützowplatz nach Westen in die Wichmannstraße, die sich mit der Schillstraße kreuzt. Links an der Ecke die Lützow-Apotheke (Bildpostkarte von etwa 1900, aus der Sammlung Schmidecke)

Wir können nur vermuten, dass das Kapital für diesen Kauf zum Teil zumindest aus seinem Anteil am Erbe seiner Eltern kam, insbesondere aus der Versteigerung des Kunst- und Antiquitätennachlasses seines Vaters bzw. seines Halbbruders Gustav Lewy, der das Antiquitätengeschäft seines Vaters übernommen hatte und der kurz nach dessen Tod (1894) selbst 1900 verstarb (Bild 2). 

Bild 2: Ankündigung der Versteigerung des Kunstnachlasses des Antiquars Gustav Lewy im Auktionshaus Rudolph Repke vom 13. – 15. November 1900 (Quelle: Katalog Nr. 1242 in der Heidelberger Univerrsitätsbibliothek, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/lepke1900_11_13).

Dr. Albert Lewy wohnte aber nur im ersten Jahr in diesem Haus, auch wenn gemäß einer gesetzlichen Vorschrift vom 18. Februar 1902 der Apothekenvorstand die Pflicht hatte, im Haus der Apotheke zu wohnen. Aufgrund einer amtlichen Ausnahmegenehmigung wohnte er ab 1906 nicht weit entfernt in der Keithstraße 18, wo er telefonisch erreichbar war. Er wohnte dort zur Miete. Die Keithstraße war, soweit man den Fotos glauben kann, die ruhigere und elegantere Straße im Vergleich zur schon damals verkehrsmäßig weit belebteren Schillstraße. Die Mieteinahmen der sechs bis zehn Wohneinheiten (zwischen 1904 und 1932) im Apotheken-Haus Schillstraße 28 dürften die Miete in der Keithstraße getragen haben.

Inspektion durch das Gesundheitsamt

Neun Jahre nach der Apotheken-Übernahme durch Albert Lewy fand eine Inspektion der Apotheke statt (1). Ob es sich dabei um eine Routine-Inspektion gehandelt hat oder ob dem eine – anonyme – Anzeige zugrunde lag, ließ sich aus der Akte der Aufsichtsbehörde nicht ermitteln; es gab in der Akte allerdings keine vorherige Inspektion, und die nächste erst wieder im Jahr 1939, nach der Übernahme der Apotheke durch den Apotheker Blew (s. unten). 

Bei dieser Inspektion am 24. Juli 1913 erstellte die Aufsichtsbehörde, das Polizeipräsidium, Abteilung I, eine sechsseitige Liste mit Mängeln im Hinblick auf allgemeine Mängel der Apothekenführung, der Auszeichnung von Medikamenten und Homöopathie, der Führung des Giftschrankes, der Sauberkeit im Lager, in der Offizin und den Laborräumen, der Hygiene und Ordnung in allen Räumen und Schränken. Die Mängel waren offenbar so gravierend, dass das Polizeipräsidium eine Nachprüfung in wenigen Tagen ankündigte, deren Kosten der Apotheker tragen musste. Diese Nachprüfung fand am 5. November 1913 statt; sie ergab wiederum eine Mängelliste vorwiegend im Hinblick auf Bezeichnung und Etikettierung der Medikamente, während Ordnung und Sauberkeit als „nunmehr einwandfrei“ bezeichnet wurden. Apotheker Lewy wurde ersucht, „binnen drei Wochen durch Vermittlung des Herrn Kreisarztes über die Erledigung der einzelnen Beanstandungen zu berichten„.

Bau- und Eigentumsgeschichte des Hauses Wichmannstr. 21

Das Haus war im Jahr 1877 erbaut worden (2), Eigentümer zu diesem Zeitpunkt war, wie häufig, ein Handwerker, der Zimmermann- und Maurermeister Sobotta, aber der verkaufte nach Fertigstellung (1879) an den Hauptmann a.D. Dopatka. Der verkaufte 1884 an den Rentier von Moser, bevor das Haus im Juli 1887 an den Apotheker Steuer überschrieben wurde. Am 21. Februar 1898 kaufte der Apotheker Dr. Ernst Kuhlmann aus Geestemünde die Lützow-Apotheke von der Witwe Steuer. Sechs Jahre später, 1904, kaufte Dr. Albert Lewy die Apotheke und die Apotheken-Lizenz. 1935 übernahm dessen Sohn Curt Lewy Haus und Lizenz für 200.000 Mark, bevor dieser 1937 an den Apotheker Blew verkaufte, nun zu einem Nennwert von 237.000 Mark.

Nachdem Steuer nur geringfügige Änderungen an der Fassade initiiert hatte, plante der nächste Apotheken-Besitzer (Dr. Kuhlmann) einen größeren Umbau der Apothekenräume im Erdgeschoss und im Keller (Bild 3). Weitere Umbauten der des Hauses fanden in späteren Jahren statt: 1923 wurde das Haus um ein Dachgeschoss erweitert, das der Architekt Moritz Ernst Lesser (1882-1958) plante. Danach steig die Zahl der Mietparteien.

Bild 3: Erdgeschoß des Apothekenhauses Schillstraße 8/Wichmannstraße 28. Rot markiert sind die vorgesehenen Änderungen (Quelle: (2)).

Apotheker Lewy zieht sich zurück, sein Sohn übernimmt

Zwei Reisen des Dr. Albert Lewy in den Jahren 1928 und 1930 haben wir eher zufällig gefunden, in beiden Fällen Reisen mit dem Schiff „Belle Isle“ der französischen Linie Chargeurs Réunis ab Hamburg. Diese Linie brachte vor allem Auswanderer nach Südamerika (Rio de Janeiro, Buenos Aires, Montevideo), nahm aber auch Touristen mit bis an die französische Küste (Le Havre, Bordeaux). Die Agentur für die Buchung war die niederländische Firma Hoyman & Schuurman (Bild 4). Die erste Reise fand im August 1928 statt, Dr. Lewy reiste allein und fuhr in der I. Klasse bis Bordeaux. Die zweite Reise folgte zwei Jahre später (1930) statt, ebenfalls im August. Diesmal reiste er in Begleitung seiner Frau Margarethe in der I. Klasse, und sie gingen in Le Havre von Bord, während die meisten Passagiere als Auswanderer in der III. Klasse weiter nach Montevideo reisten. Wir können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Dr. Lewy die zweite Reise nicht nur zur Erholung machte, hatte er doch, wie er in dem unten genannten Schreiben vom September 1929 erwähnte, Ende April 1929 einen Schlaganfall erlitten und war möglicherweise auch im August des Folgejahres noch nicht vollständig wiederhergestellt.

Bild 4: Werbeplakat der französischen Schiffahrts-Linien nach Süd-Amerika, die auch Touristen an die französische Atlantikküste mitnahmen (Quelle: Internet, gemeinfrei)

Bis 1925 leitete Dr. Albert Lewy seine Apotheke, aber seit 1920 hatte er als seinen offiziellen Vertreter den approbierten Apotheker Karl Förder benannt, so dass es ihm gestattet war, der Apotheke zeitweilig fernzubleiben. Ausweislich der Akten der Gesundheitsbehörden übernahm er am 8. August 1827 wieder die Leitung. Im September 1929 teilte Albert Lewy den Medizinalbehörden mit, dass er aufgrund zunehmender Altersbeschwerden in absehbarer Zeit die Apothekenleitung aufgeben werde und man die Unterschrift seines Sohnes Curt, der am 1. April 1926 in die Apotheke eingetreten war, in allen notwendigen Fällen anerkennen möge. Es dauerte dann noch bis zum 15. August 1932, bis Dr. Curt Lewy die Apothekenleitung übernahm.

Ab 1930 ist neben Dr. Albert Lewy bis zu dessen Tod 1936 auch sein Sohn Curt (manchmal Kurt geschrieben) im Adressbuch unter der Adresse Keithstraße 18 gemeldet (s. unten). Es ist zwar möglich, dass sie im gleichen Haushalt lebten, aber da beide verheiratet waren, schien uns dies eher unwahrscheinlich. Im Telefonbuch von 1932 sind beide, Dr. Albert Lewy, Apotheker und Dr. Curt Lewy, Apotheker, mit zwei unterschiedlichen Telefonnummern unter der gleichen Adresse gelistet, so dass wir annehmen müssen, dass sie im gleichen Haus verschiedene Wohnungen hatten (Bild 5).

Bild 5: Adressbuch-Einträge (oben) und Telefonbuch-Einträge von Dr. Albert Lewy und Dr. Curt Lewy in der Keithstraße 18 für das Jahr 1932.

Literatur

1. Apotheken-Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): A Pr. Br. Rep 030 Nr. 192 (Anlage neuer Apotheken) und A Rep. 32-08 Nr. 202 (Gesundheitsamt, Lützow-Apotheke).

2. Bauakte im LAB: B Rep. 02 Nr. 4754 und 4755.