War die Herkunft der Familie Liedtke aus der Gemeinde Christburg in Westpreußen vor allem jüdisch geprägt, so änderte sich dies mit dem Umzug nach Berlin. Ernst Liedtke ließ sich protestantisch taufen (22. September 1910) und trat aus der jüdischen Gemeinde aus (28. November 1910) – in dieser Reihenfolge (Bild 1) (siehe mittendran vom 10. Juli 2025); dann heiratete er im Februar 1911 Emmy Fahsel-Rosenthal.

Die Familie Fahsel aus Hamburg
Seine Ehefrau stammte aus einer protestantischen Familie in Hamburg: Georg Johannes Wilhelm Fahsel (1861-1896) war das älteste von vier Kindern des Georg Wilhelm Fahsel und dessen Ehefrau Marie Henriette Friederike, geborene Zander. Wilhelm Fahsel verlobte sich im April und heiratete am 19. Oktober 1889 Adele Caroline Dütschke (1864-1942) aus Hamburg, Tochter des Korrespondenten Leopold Wilhelm Dütschke und dessen Ehefrau Bertha, geborene Hecht. Mit der Heirat zog das Ehepaar Adele und Wilhelm Fahsel nach Kiel, wo er ab 1890 bei der Nordostsee-Zeitung als Inspector arbeitete und zuletzt (1893) Verleger war. In Kiel kamen zwei Kinder zur Welt, die am 30. August 1890 geborene Emmy und der am 2. November 1891 geborenen Helmut. Im Jahr 1894 zog die Familie nach Berlin, Wilhelm Fahsel wurde Redakteur bei der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, die in der Friedrichstadt, dem Zeitungsviertel, residierte (Wilhelmstraße 32). Die Fahsels wohnten zunächst (1895) in der Belle-Alliance-Straße 58, dann und bis zuletzt in der Möckernstraße 85 (Bild 2).

Wilhelm Fahsel verstarb am 15. April 1896 mit nur 36 Jahren an Tuberkulose. Seine beiden Kinder, Emmy (1890-1965) und Helmut (1891-1983) wurden nach dem Tod des Vaters von dem kinderlosen jüdischen Ehepaar Arthur Salli Rosenthal (1848-1914) und dessen Frau Emma Emily Louise geborene Dütschke (1857-1925) in Berlin aufgezogen; Emily war eine Tante der Kinder, die Schwester von Adele Fahsel. Emily war seit 1889 mit Salli Rosenthal verheiratet, einem Bankier aus Berlin. Das Ehepaar Rosenthal wohnte ab 1890 zunächst in der Friedrichstraße 4 und ab 1902 in der Kurfürstenstraße 53, zwischen Genthiner Straße und Derfflingerstraße. Warum die leibliche Mutter, Adele Fahsel, sich nicht in der Lage sah, die Kinder selbst aufzuziehen, die jetzt sieben und acht Jahre alt waren, ist nicht bekannt, aber vermutlich musste sie nach dem Tod ihres Mannes ihren Lebensunterhalt verdienen und hatte kaum eine Chance, zugleich zwei Kinder „durchzufüttern“. Also ließ sie sie in der Stadt, in der sie schon waren, und bei Pflegeeltern, die sie vermutlich schon kannten. Ein nachvollziehbarer Grund, wenn auch nicht unbedingt für die beiden Kinder, war es, Minderjährige nicht im gleichen Haushalt mit einem Tbc-kranken Elternteil zu lassen. Möglicherweise wurden daher die Kinder bereits früher, nach dem Umzug nach Berlin (1894) und vor dem Tod des Vaters (1896), zu den Rosenthals gekommen. Dafür spricht, dass nach den Erinnerungen von Henriette von Gizycki (1857-1944) (1), die später den jungen Helmut Fahsel als Pensionsgast in ihren Haushalt aufnahm, dieser bereits mit fünf Jahren, d.h. 1896 zu den Rosenthals gekommen war. Für die beiden Kinder wird dieses „Weggeben“ nicht ohne emotionale Folgen geblieben sein, hatte doch die spätere Familie, Emmy und Ernst Liedtke, eher förmlichen Umgang mit Adele Fahsel.

Der Verbleib von Adele Fahselist bislang weitgehend unklar, aber in den Jahren 1925 bis 1929 sowie 1942, bei ihrem Tod, hatte sie wieder eine Berliner Adresse: Zwischen 1925 und 1929 wohnte die Privatiere A. Fahsel in der Potsdamer Straße 45, und sie gab auch die Zeitungsanzeige anlässlich des Todes ihrer Schwester Emily 1925 auf (Bild 3). In der Sterbeurkunde 1942 ist Adele Fahsels Adresse Budapester Straße 43 in Charlottenburg, aber im Adressbuch ist sie darunter nicht zu finden (Bild 4). In diesem Haus gab es zum einen ein Fremdenheim, also eine Schlafgelegenheit, nicht mehr, in dem sie gewohnt haben könnte – was auf Verarmung hinweisen würde. Andererseits war in dem Haus seit 1940 das Fotostudio ihrer Enkeltochter Ilse Liedtke (Bild 5), der ältesten Tochter von Emmy und Ernst Liedtke – auch dies könnte eine temporäre, sicherlich keine dauerhafte Unterkunft gewesen sein.


Für die Zeit zwischen 1899 und 1924 und von 1930 bis 1942 fehlt jegliche Information, wo Adele Fahsel gelebt haben könnte, auch Hamburg ist eine Möglichkeit, immerhin lebten ihre Geschwister dort bis in die 40er Jahre. Das würde auch einen Zufallsfund im Zeitungsarchiv (2) erklären: Dort fanden wir eine Notiz, wonach Rechtsanwalt Ernst Liedtke und Mutter aus Berlin im August 1907 im Alster-Hotel in Hamburg wohnten – möglicherweise machte er mit seiner Mutter einen Antrittsbesuch bei seiner zukünftigen Schwiegermutter, Adele Fahsel. Dagegen spricht aber, dass Emmy Fahsel-Rosenthal zu diesem Zeitpunkt erst 17 Jahre alt war. Das spätere Verhältnis von Ernst Liedtke zu seiner Schwiegermutter war, laut Auskunft von Simon May, „stiff and polite to each other when they had no choice but to meet, but there was no intimacy and friendship there„.
Kaplan Fahsel
Über das Leben der beiden Pflegekinder des Ehepaaren Rosenthal gibt es mehr Informationen: Emmy wurde, als sie sechzehn Jahre alt war (1906), von den Pflegeeltern in ein Internat in die Schweiz (Montreux) geschickt, und in dieser Zeit auch Ernst Liedtke vorgestellt, der sie 1910 heiratete – da war sie gerade mal 19 Jahre alt und 16 Jahre jünger als ihr Mann (3). Der Junge, Helmut Fahsel, wurde 1906 von seiner Pflegemutter Emily zur weiteren Betreuung in eine andere Familie gegeben: Henriette von Gizycki (1885-1945) geborene Salamonski hatte 1908 ihren Mann, Schulrat Dr. Paul Oscar von Gizycki, verloren und lebte mit ihren drei minderjährigen Kindern, zwischen 15 und 20 Jahre alt, in einem großen Haushalt in Karlshorst (Augusta-Viktoria-Straße 24) (Bild 6). Sie war aber finanziell hinreichend versorgt, so dass sie beschloss einen „Pensionsgast“ aufzunehmen (1). Bei ihr meldete sich1909 Emily Rosenthal und klagte über ihr Eheleben, vor allem aber darüber, dass ihr Mann den inzwischen 17-jährigen Helmuth zu sehr verwöhne: „Als mein Schwager, Wilhelm Fahsel, im Jahr 1896 starb, nahmen wir den fünfjährigen Jungen zu uns. Ich hoffte damals, daß dieses Kind ein Friedensengel in unserer unglücklichen Ehe werden würde. Bald aber sah ich mich getäuscht. Mein Mann verwöhnt den Jungen, hielt ihm Gouvernanten und Hauslehrer und blieb derselbe unverbesserliche Gatte …“ (1). Helmut Fahsel wuchs in ihrem Haushalt auf.

Durch das Buch ist der weitere Lebensweg des jungen Mannes öffentlich geworden: Nach dem „Sturm und Drang“ seiner Jugendzeit, in dem wohl (homo-)erotische und sexuelle Aspekte der Körperbildung (Boxen, Bodybuilding) in Einklang zu bringen waren mit philosophischen und religiösen Schwärmereien, konvertierte er zum Katholizismus, studierte Theologie und ging als „Kaplan Fahsel“ in die Welt hinaus (Bild 7). In einem Büchlein von 1925, betitelt „Meine Vorträge“ (5), begründet er seine Absicht, Philosophie allgemein verständlich zu vermitteln. Er wurde offenbar ein begabter Redner und Referent, wenngleich das Spektrum seiner Vorträge auch heute noch Kopfschütteln verursachen mag: In den Jahren 1927 bis 1930 referierte er zu „Ehe und Eros“, „Rousseau: Natur, Kultur und Übernatur“, „Schopenhauer: Weltwille, Buddhismus und Mystik“, „Nietzsche: Ästhet, Freigeist und Übermensch“, „Shaws Heilige Johanna“, „Das Moderne Sexualproblem“, „Kunst und Moral“, „Der Faustische Mensch“, „Konnersreuth und das Wesen der christlichen Mystik“ und anderes mehr, und das ist nur eine Auswahl der in Hamburg gehaltenen Vorträge.

Bereits vor der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 engagiert er sich publizistisch gegen die antisemitischen Ausschreitungen der Nazis, gemeinsam mit anderen Intellektuellen und Politikern, z.B. Thomas Mann (1875-1955) (Bild 8). Unter dem Druck des Nationalsozialismus emigrierte er in die Schweiz, wo er bis 1983 lebte, arbeitete und publizierte (4). Einen jüdischen familiären Hintergrund, den er über seine Großmutter mütterlicherseits hatte, negierte er bis zum Schluss, durchaus vergleichbar zu den übrigen Familienmitgliedern der Liedtke-Familie, für die diese Verdrängung die Rettung vor den Nazis bedeutete – siehe dazu das Buch von Simon May (3).

Literatur:
1. Henriette von Gizycki: Kaplan Fahsel in seinem Werdegang, unter Zuhilfenahme seiner Briefe und Aufzeichnungen. Buchverlag Germania A.G. Berlin 1930.
2. Zeitungsnotiz im Hamburger Fremdenblatt vom 14.8.1907: Rechtsanwalt E. Liedtke und Mutter aus Berlin im Alster Hotel.
3. Simon May: How to be a refugee. Picador Publ., London 2021
4. https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Fahsel
5. Helmut Fahsel: Meine Vorträge. Herder Verlagsbuchhandlung Freiburg im Br. 1925.