Mit Teil 4 der Geschichte der Familie Popper kehren wir zurück zu Julius Popper (Bild 1), dem 1822 geborenen Hildesheimer, der nach dem Studium der Philosophie in Berlin im Jahr 1852 seine erste Stelle als Prediger und Lehrer in Dessau im Herzogtum Anhalt antrat. Sein „privates“ Leben in Dessau (Heirat mit Laura Bab, eine Fehlgeburt, Heirat seiner Schwester Therese) hatten wir schon in Teil 2 (mittendran am 1. Juni 2025) erzählt; hier jetzt seine berufliche Laufbahn.

Die Informationen dieses Teils der Familiengeschichte Popper stammen aus zwei Quellen: Aus im Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA) verwahrten Akten der Jüdischen Kultusgemeinde zu den Vorgängen der Benennung/Entlassung des Gemeindelehrer und der Religionslehrer an der Franzschule einerseits (1), und aus persönlichen Unterlagen von Julius Popper, die die Nachkommen der Familie zur Verfügung gestellt haben (s. mittendran vom 6. August 2025).
Um es vorwegzunehmen: Zwar hatte die jüdische Gemeinde Dessau, die traditionell sehr konservativ eingestellt war, und insbesondere die jüdische Franz-Schule als eine der wenigen frühen Schulen des Judentums eine lange und durchaus ehrwürdige Tradition, aber das Engagement von Julius Popper dort dauerte nur sechs Jahre und war gekennzeichnet von Konflikten. Vermutlich war Julius Popper spätestens mit seiner Promotion an der Universität Leipzig 1854 für die Position bereits überqualifiziert. Und es war die konservative jüdische Gemeinde Dessau und deren Vorstand, die mit der Qualifikation ihrer Rabbiner und Prediger ihre besonderen Schwierigkeiten hatte, wie wir sehen werden (1).
Aber es war auch der Lauf der Zeit: Zwischen 1833 und 1867 halbierte sich die Zahl der Juden in Dessau nahezu und sank von 800 auf weniger als 500. Nachdem in Preußen 1848 den Juden Gleichberechtigung versprochen worden war, zog es sie in Scharen aus der Provinz ins preußische Zentrum des Judentums, nach Berlin.
Die Dessauer Franz-Schule
1799 fand sich ein Verein „junger jüdischer Menschenfreunde“ zusammen, der auch in Dessau – nach Berliner Vorbild – eine „Freischule“ eröffnete. Die Leitung übernahm der umtriebige David Fraenkel (1779-1865), ein Großneffe des alten Dessauer Rabbiners, der 1806 zudem die erste jüdische „Töchterschule“ und die Sulamith (1806-48), die erste jüdische Zeitschrift in deutscher Sprache und Schrift, begründet hatte. Als die ausschließlich aus Beiträgen, Spenden und Schulgeldern finanzierte „Israelitische Hauptschule“ 1815 in finanzielle Schwierigkeiten geriet, gewährte Herzog Franz ihr einen jährlichen staatlichen Zuschuss und dem Direktor Fraenkel erstmals ein Gehalt. Ein Jahr später wurde eine neue Schulordnung genehmigt. Die Lehranstalt durfte sich nun offiziell „Franzschule“ nennen (Bild 2) (2).

Im Jahr 1849 erfolgte die Eröffnung der Franz-Schule als öffentliche Handelsschule, die dadurch der unmittelbaren Kontrolle durch die jüdische Kultusgemeinde (KG) entzogen war und unter die Aufsicht des Konsistoriums der anhaltinischen Staatsregierung kam. Am 19. Januar 1850 kam es zu einem Vertrag der KG mit dem Staatsministerium, der vorsah, dass der Gemeinderabbiner für den Unterricht nicht nur an der Gemeindeschule, sondern auch an der Franz-Schule zuständig sein sollte.
Am 1. Juli 1850 erhielt der Rabbiner Dr. David Stadthagen einen 3-Jahres-Vertrag als Rabbiner der Gemeinde, und am 15. Juli 1851 wurde Stadthagen als Beamter im Staatsdienst (Landrabbiner) bestätigt. Aber bereits zwei Monate später, am 11. September 1851 wurde der Vertrag mit Stadthagen auf Wunsch der Gemeinde wieder gelöst, und zwar, da der Rabbiner nur neun von 36 Monaten seine vertraglichen Funktionen ausgeübt hatte, gegen eine Abstandszahlung von 675 Talern: dieser Abstand für 27 Monate bedeutete, dass sein Jahresgehalt 300 Taler betrug. Er wurde ihm gestattet, längstens bis zum 1. Juli 1853 in der Dienstwohnung zu verbleiben. Gründe für dieses vorzeitige Vertragsende sind den Akten nicht zu entnehmen, aber die jüdische Gemeindekasse hatte unter dieser Zahlung zu ihren Lasten erheblich zu leiden.
Möglicherweise hatte sich Julius Popper bereits auf diese Stelle beworben, als auch Stadthagen einer der Kandidaten war; nicht unwahrscheinlich ist, dass sich Popper in dieser Zeit auch auf andere Stellen beworben hatte. Jedenfalls wurde er von der Kultusgemeinde am 26. Oktober 1851 einstimmig zum Religionslehrer der Gemeindeschule gewählt, nach enthusiastischer Einschätzung seiner Zeugnisse und Qualifikationen (Bild 3).

Es gab nur einen Vorbehalt: Da Julius Popper aus Berlin kam und dort 1848 – und anderswo, auch im Herzogtum Sachsen-Anhalt – „revolutionäre Umtriebe“ stattgefunden hatten, wollte die Kultusgemeinde sicher gehen und „um nicht einen Demokraten [sic!] hierher zu ziehen, ersuchen wir das Königlich Preußische Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten um Auskunft hierüber, worauf uns unter dem 22. Januar [1852] … die Nachricht zugegangen ist, daß der Popper sich während des Jahres 1848 und auch später stets als ruhiger, höchst moralischer und achtungswerther Mann geführt, der sich wenig um Politik bekümmert und nur wissenschaftlich beschäftigt habe.“ (1).
Nach dieser Klärung seiner sittlichen und politischen Eignung bat der Gemeindevorstand das Staatsministerium auch um seine Einstellung als Religionslehrer an der Franz-Schule. Julius Popper befand sich bereits seit November 1851 in Dessau und bestätigte, dass er seinen Unterricht noch in diesem Monat anfangen wolle, so die KG in einem Schreiben an das Staatsministerium. Am 1. Februar 1852 begann Julius Popper formell seine Unterrichtstätigkeit an der jüdischen Gemeindeschule für ein Jahresgehalt von 150 Talern, und ab 3. März 1852 übernahm er für 50 Taler zusätzliches Jahreshonorar auch den jüdischen Religionsunterricht an der Franz-Schule; auch die wurden ihm übergangsweise von der jüdischen Gemeinde bezahlt, solange Stadthagen noch dort unterrichtete. Außerdem wurde Popper zugestanden, gerichtlich zu erbringende Eidesleistungen mit einem Honorar von 142 Taler je Fall abzurechnen. Hintergrund dafür war, dass Juden vor einem Gericht keinen Eid auf Gott ablegen konnten; stattdessen wurde eine Formulierung „an Eides statt“ im Beisein des jeweils zuständigen Rabbiners oder Predigers und zwei weiterer Zeugen in einer Synagoge gerichtlich akzeptiert. Aber wie häufig wird das schon vorgekommen sein?
Konflikte mit der jüdischen Kultusgemeinde Dessau
Insbesondere die Diskrepanz seines Regeleinkommens zum nahezu doppelten Gehalt seines Vorgängers muss Julius Popper gekränkt haben, so dass es nicht wundert, dass es zu Unstimmigkeiten zwischen der Gemeinde und Julius Popper kam, auch wenn dafür nur indirekte Belege vorliegen. Bereits im Jahre 1854 bewarb sich Julius Popper auf eine Predigerstelle in Landsberg an der Warthe, wie wir aus Unterlagen im Centrum Judaicum Berlin wissen; dort war gerade eine neue Synagoge eingeweiht worden (3). Er wurde eingeladen, eine Probepredigt im Rahmen des Laubhüttenfests (im Herbst, September oder Oktober 1854) zu halten, musste diese Einladung aber ablehnen, da seine Verpflichtungen in der Gemeinde in Dessau es ihm nicht erlaubten, während der jüdischen Festtage abwesend zu sein. Eine zweite Bewerbung schickte er wenige Monate später (1855), aber die Stelle wurde offensichtlich anderweitig besetzt. Eine weitere Bewerbung im Mai 1857 ging nach Wien auf eine Stelle als Religionslehrer an der dortigen israelitischen Gemeinde.
Ungeachtet der Querelen mit der Kultusgemeinde in diesen Jahren demonstrierte Julius Popper seine akademisch Qualifikation – und seine intellektuelle Überlegenheit – mit der Veröffentlichung der „Israelitischen Schulbibel“, einem Schulbuch, mit dem er auch heute noch in entsprechenden Publikationen (4) zitiert wird. Die erste Auflage 1854 in der Höhe von 2000 Exemplaren brachte ihm in den deutschsprachigen Landen Bekanntheit und gute Rezensionen (Bild 4), aber kein Honorar; erst bei der zweiten Auflage im Jahr 1872 bekam er ein Honorar von 100 Gold-Talern, dem Äquivalent von 500 Reichstalern, nebst 10 Freiexemplaren.

Am 8. September 1856 – nach knapp vier Jahren im Amt – fragte Julius Popper beim Konsistorium an, ob er im Falle der Kündigung seiner Stelle als Prediger der Gemeindeschule seine Stelle an der Franz-Schule behalten und weiterführen könne – offensichtlich wollte er den sicherlich anspruchsvolleren Unterricht an der Franz-Schule aufrechterhalten, den Gemeindeunterricht aber aufgeben. Im Antwortschreiben vom 15. September 1856 bestätigte das Konsistorium zwar, dass es keinen Grund sehe, die Lehrtätigkeit an der Franzschule in diesem Falle zu beenden, weigerte sich aber, ihm eine Zusage für eine Dauerstelle zu geben. Es kam im September 1857 zu einer einvernehmlichen Vertragsaufhebung mit der Kultusgemeinde mit Wirksamkeit zum 1. Februar 1858. Die Kultusgemeinde beantragte stattdessen, einen Dr. Gustav Philippson als Gemeindelehrer und Prediger einzustellen – die Einstellung dieses dritten Predigers der Gemeinde innerhalb von fünf Jahren erfolgte zum 9. November 1857.
Dann wurde es hässlich: Im November 1857 schlug das Konsistorium dem Staatsminister vor, Popper im Amte an der Franz-Schule zu belassen; dagegen opponierte die Kultusgemeinde aufs Heftigste (27. November 1857) und warf Popper in der Folge (26. Januar 1858) diverse Verstöße gegen die jüdischen Religionsvorschriften vor, darunter Sabbat-Schändung in mehreren Fällen: Teilnahme an einer Buch-Auktion beispielsweise, auf der er Bücher erworben habe, und auch den Aufhebungsvertrag habe er an einem Sabbat unterschrieben. In einem Brief vom 17. Dezember 1857 argumentierte Julius Popper für seinen Verbleib an der Franz-Schule und machte geltend, dass er inzwischen ein privates Schüler-Pensionat aufgebaut und damit sein Einkommen abgesichert habe, und gleichzeitig der Franz-Schule externe Schüler zuführe oder sicherstelle (Bild 5). Er hatte inzwischen in Dessau in der sogenannten Sandvorstadt ein Haus erworben, in dem wohl die Pension untergebracht war (Mittelstraße 19) (5); die Sandvorstadt war bis 1834 das den Juden zur Niederlassung erlaubte Stadtviertel.

In Fortsetzung seiner bisherigen Politik – und offensichtlich genervt von den Einlassungen der Kultusgemeinde – lehnte das Konsistorium am 8. Februar 1858 die Entlassung Poppers aus dem Lehramt an der Franz-Schule ausdrücklich ab: die Vorwürfe seien schließlich erst mehr als ein Jahr nach der angeblichen Sabbat-Schändung erhoben worden und hätten bei der einvernehmlichen Vertragsaufhebung offensichtlich keine Rolle gespielt. Der Vorschlag an das Staatsministerium: Ablehnung der Forderung der Kultusgemeinde oder notfalls Eingabe an das Oberlandesgericht und Einholung des Gutachtens eines Rabbinats-Collegiums.
Diese Eingabe erfolgte am 27. Februar 1858, wobei der Prozess sich sicherlich einige Zeit hingezogen hätte. Aber da hatte Julius Popper schon die Reißleine gezogen: Er hatte sich im Juni 1858 auf eine Stelle in Stolp (Pommern, heute Slupsk, Polen) beworben (Bild 6) und stellte am 15. September 1858 einen Antrag auf Entbindung von der Schultätigkeit an der Dessauer Franz-Schule wegen „Berufung als Rektor der israelitischen Schule in Stolp“ (1); den Dienst dort trat er am 1. Oktober 1858 an.

Vier Jahre in Stolp, dann zurück nach Berlin
Die Behauptung, er werde Rektor in Stolp, stellte sich als eine Art gesichtswahrende Schutzbehauptung dar, in Wirklichkeit wurde Julius Popper einer von fünf Lehrern an dieser Anstalt, der Leiter der Schule war ein Dr. Klein. Immerhin: mit Schreiben vom 3. September 1858 wurde ihm ein Jahresgehalt von 350 Taler zugesagt und eine Vertragsdauer von zehn Jahren angeboten. Nachdem Dr. Klein 1861 Stolp verlassen hatte, wurde Julius Popper gefragt, ob er – übergangs- und vertretungsweise – die Direktorenstelle übernehmen wolle. In dieser Funktion lud er im März 1862 zu den Prüfungen ein und hatte eine Lehrverpflichtung von 20 Stunden (Bild 7) (6). Aber da hatte er sich schon wieder wegbeworben: Bereits im April 1862 erhielt er von der jüdischen Gemeinde Berlin das Angebot, so schnell als möglich auf eine Predigerstelle dorthin zu kommen, und diesmal mit einem Jahresgehalt von 1000 Talern, das drei Jahre später um weitere 300 Taler erhöht wurde. Dazu demnächst mehr.

Literatur
1. Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA), Akten Z 72 Nr. 7 und 8, Z 104 Nr. 507, Z 107 Nr. 726.
2. Werner Grossert: Die israelitische Schule Dessau 1799 bis 1849. Online unter: https://www.val-anhalt.de/media/mval2_119-143.pdf
3. Akte im Centum Judaicum Berlin (CJB): Julius Popper #4600 und 4601.
4. Hans-Joachim Bechtoldt: Jüdische deutsche Bibelübersetzungen vom ausgehenden 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Kohlhammer Verlag Stuttgart 2005.
5. Franz Brückner: Häuserbuch der Stadt Dessau (in Teilen), Stadtarchiv Dessau 1975ff (zu Popper: S. 530; zu Neubürger: S. 201, 709ff, 712, 732)
6. Gerhard Salinger: Zwischen Zeit und Ewigkeit. Ein Rückblick und Beitrag zum Leben und Schicksal der Juden in Stolp in Pommern. Selbstverlag Wedel 1991.