Wir hatten früh vermutet, dass der „andere Theo“ in Simon Mays Geschichte der Familie Liedtke (1) zur gleichen Familie gehörte (mittendran vom 21. April 2025), und hatten in einer weiteren Folge (mittendran am 24. Mai 2025) dies auch belegen können. Im weiteren Verlauf der Recherche sind jetzt Unterlagen aufgetaucht zu Beiden, die eine Fortsetzung der Geschichte rechtfertigen.
Der eine Theodor Liedtke, geboren 1885 in Christburg, Westpreußen, ist ein Großonkel von Simon May, Bruder seines Großvater Ernst Liedtke; er kam 1910 nach Berlin. Der andere Theodor Liedtke, geboren am 1887 in Berlin, ist ein Urgroßonkel von Simon May, Bruder seines Urgroßvaters Meyer Liedtke aus Christburg; seine Familie kam bereits 1886 nach Berlin.
Die beiden Theodor wurden und werden in der Gedenkliteratur manchmal verwechselt (2), auch weil ihr weiteres Schicksal, die Deportation und Ermordung im Konzentrationslager in Auschwitz, ungefähr zur gleichen Zeit (Frühjahr 1942) erfolgte. Erst vor wenigen Tagen gefundene Unterlagen erlauben es uns nun, jedem der beiden Theodors eine eigene Geschichte zu widmen.
Großonkel Theodor Liedtke (1885-1943)
Theodor Liedtke kam 1910 gemeinsam mit seiner Mutter Clara Liedtke nach Berlin, nachdem deren Ehemann in Christburg verstorben war. Theodor blieb zeitlebens Junggeselle; gelegentlich (1912, 1922) wohnte er bei seiner Mutter in Wilmersdorf (Jenaerstraße 2), und insbesondere 1934 bis 1937 nach deren Tod 1933. Ausweislich der Familiengeschichte (1) war er Angestellter beim Warenhaus Tietz an der Leipziger Straße, aber leider gibt es darüber keinerlei Personalunterlagen, so dass wir über seine eigentliche kaufmännische Berufstätigkeit nichts wissen – ob er Einkäufer oder Verkäufer war und ob er zwischenzeitlich außerhalb Berlins tätig war – es gibt einige Jahre (1913-1916, 1918, 1920, 1922), in denen er im Adressbuch nicht gelistet ist, aber es könnte sich auch um Jahre mit Umzug handeln, die in den Adressbüchern oft ungenau gelistet sind. Von 1923 bis 1934 wohnte er in Schöneberg in der Martin-Luther-Straße 43.
In der Familiengeschichte war bekannt, dass Clara Liedtke in Berlin eine Haushaltshilfe namens Hedwig Kuss beschäftigte, die dem Sohn sehr ergeben war. Über diese Hedwig Kuss hatten wir bis vor Kurzem keinerlei Informationen, und ohne ein Geburtsdatum und einen Geburtsort nützt ein Name sehr wenig in einer Recherche. Jetzt fanden wir in den Entschädigungsakten für Ernst Liedtke (3), die wir im Teil 5 der Geschichte diskutiert hatten (mittendran vom 26. Oktober 2025) einen Brief von ihr aus dem Jahr 1956, in dem sie ihre Erinnerungen an die Verhaftung von Theodor Liedtke 1942/3 schilderte und gleichzeitig ihr Geburtsdatum angab. Das erlaubte uns nicht nur, ihre Herkunft zu ermitteln, sondern auch einige Daten zum Verbleib von Theodor Liedtke zu verifizieren.
Hedwig Kuss (1883-1957) aus Cöslin
Hedwig Wilhelmine Emilie Kuss wurde am 28. Februar 1883 in Köslin (Pommern) (heute: Koszalin, Polen) als jüngstes von drei Kindern (zwei Mädchen) des Arbeiters Hermann Martin Kuss und dessen Ehefrau Therese Albertine Auguste, geborene Fritze geboren (Bild 1). Vermutlich war sie schon vor der Anstellung bei Clara Liedtke 1909 in Berlin; die Berliner Dienstmädchen kamen vorwiegend aus Schlesien und Pommern auf der Suche nach Anstellung nach Berlin, da es in ihren Heimatorten wenig Möglichkeit des Verdienstes gab, gingen aber aufgrund der besseren Verdienstmöglichkeiten u nd geregelter Arbeitszeit oftmals in die Industrie (4).

Hedwigs Brief vom 29. Februar 1956
Der folgende Brief ist handschriftlich von Hedwig Kuss verfasst worden (Bild 2) und hier transkribiert wiedergegeben, einschließlich der orthografischen „Eigenheiten“ und Fehler der Verfasserin. Der Brief erwähnt einige bislang unbekannte Details, wirft aber auch ein paar Fragen auf.
Vom 31. Januar 1909 war ich als Hausangestellte bei der am 21.3.1933 verstorbenen Frau Clara Liedtke (Jüdin) damals wohnhaft Berlin Wilmersdorf Jenaerstr. 2. Nach dem Tode führte ich ihrem Sohn, Theodor Liedtke, bis zum Jahre 1938 die Wirtschaft. Da dann durch die Nazis den Juden die Wohnungen genommen wurden, übernahm ich die Wohnung Kaiser Allee 24, da ich seiner Mutter versprochen hatte, ihren Sohn nicht zu verlaßen, sie ahnte damals schon, was den Juden bevorstand, behielt ich Theo Liedtke, trotz aller Schikanen des Nazis, bis zum 15.4.42 in meiner Wohnung. Sein Bankguthaben und Wertpapiere beschlagnahmte die Gestapo am 27.5.37. Wir haben davon nichts wiedergesehen. Am 15.4.42 zog er zu jüdischen Leuten, wie ja wohl noch bekannt ist, müßte von dem Tag an, der sogenannte Juden Stern an den Wohnungstüren, wo Juden wohnten, angebracht sein. Trotz meines Protestes zog er zum Viktoria Luisepl. dort wurde er am 27.5.42 abgeholt und ins Konzentrations geschleppt, dort ist er am 21.11.42 umgebracht.
Herr Rechtsanwalt Liedtke, der älteste Sohn der Frau Clara Liedtke, ist durch die Aufregungen am 17.12.33 verstorben. Mit Frau Emmi Liedtke und deren Töchter halte ich bis jetzt weiter die Verbindung aufrecht und mir ist daher bekannt, daß diese großen Schikanen ausgesetzt waren.
Hedwig Kuss, geboren am 28.2.83
Berlin Wilmersdorf, Bundesallee 24r

Zunächst ein paar ergänzende Informationen: Theodor Liedtke wohnte nach dem Tod seiner Mutter 1933 bis 1937 in deren Wohnung in der Jenaerstraße 2, und von 1938 bis 1942 ist er mit der Adresse Kaiserallee 24 (heute: Bundesallee) im Adressbuch. In all diesen Jahren war Hedwig Kuss nicht im Adressbuch eingetragen, da sie offensichtlich keinen eigenen Haushalt führte, sondern bei Clara Liedtke wohnte und arbeitete. Das war durchaus üblich, Haushaltsangestellte (Dienstmädchen), die im Haushalt wohnten, hatten keine Meldepflicht, sondern führte ein Gesindebuch, in dem die Polizei bei einem Stellenwechsel die neue Adresse eintrug.
Im Adressbuch taucht Hedwig Kuss erstmals 1942 und mit der Adresse Kaiserallee 24 (heute: Bundesallee) auf, im gleichen Jahr ist dort auch Theodor Liedtke gemeldet (Bild 3). Wenn wir davon ausgehen, dass das Adressbuch jeweils Änderungen vom Vorjahr abbildete, müsste Hedwig Kuss die Wohnung im Verlauf des Jahres 1941 übernommen haben, so dass Theodor 1941 und 1942 nicht mehr als Bewohner ausgewiesen gewesen war, jedenfalls nicht mehr an der Haustür, offenbar jedoch noch im Adressbuch. Ob ihn dies geschützt hat, ist unsicher, weil er bereits im April 1942 umzog in einen jüdischen Haushalt am Viktoria-Luise-Platz; die Familiengeschichte (1) berichtet von möglicher Denunziation durch Hausbewohner. Es ist auch unklar, ob es sich bei der Wohnung am Viktoria-Luise-Platz um ein sogenanntes „Judenhaus“ handelte, in dem jüdische Familien und Einzelpersonen kaserniert wurden, bevor sie deportiert wurden – unter den mehr als 700 „Zwangsräumen“ in Berlin (5) ist keine am Viktoria-Luise-Platz, aber 85 jüdische Personen wohnten unter dieser Adresse (6), die meisten (21) am Viktoria-Luise-Platz 1. Judenhäuser gab es hingegen in unmittelbarer Nähe, in der Welserstraße 3 und 4.

Von dort wurde er bereits am 27. Mai 1942 abgeholt; wohin er von dort gekommen ist, ist der Schreiberin offenbar nicht klar, sie spricht vom Konzentrationslager, in dem er dann umgebracht worden sei. Die Familie – und wohl auch Hedwig Kuss – dachte lange, er sei im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg umgekommen, aber dem war nicht so: Die Unterlagen von Sachsenhausen weisen keinen Gefangenen namens Theodor Liedtke auf, weder diesen noch den „anderen Theo“. In der Entschädigungsakte von Emmy (3) erklärt sich die Geschichte anders an: Emmy berichtete im Jahr Februar 1956, dass ihr 1942 mitgeteilt worden sei, Theo sei im Konzentrationslager Buchenwald verstorben, und sie wurde aufgefordert worden, Theos Notizbuch, Uhr und Ausweis im Polizeipräsidium am Alexanderplatz bei der Gestapo abzuholen (Bild 4). Er war also vermutlich nach seiner Verhaftung von dort aus, möglicherweise über Buchenwald, nach Auschwitz deportiert worden und dort am 1. März 1943 ermordet worden.

Wie Simon May berichtet (1), hatte Hedwig nachhaltig versucht, Theo vor den Nazis in Sicherheit zu bringen, ihn zu veranlassen, das Land zu verlassen, aber vergeblich: Theo war nach dem Tod seines Bruders Ernst unschlüssig und unsicher, und er hatte wohl auch nicht die nötigen Mittel. Hedwig Kuss hielt auch nach Theos Deportation den Kontakt zur Familie Liedtke und sagte 1956 im Entschädigungsverfahren aus – sie wohnte zu diesem Zeitpunkt immer noch an der gleichen Adresse Kaiserallee 24. Sie wurde am 13. Juni 1957 tot in ihrer Wohnung aufgefunden: Tag und Stunde des Todes sind unbekannt (Bild 5).

Literatur
1. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.
2. Christoph Kreutzmüller. Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 bis 1945. Metropol Verlag, Berlin 2012
3. Akte im Entschädigungsamt Berlin Nr. 212.762.
4. Violet Schultz: In Berlin in Stellung: Dienstmädchen in Berlin um die Jahrhundertwende. Edition Hentrich, Berlin 1989.



























































