Die Familie Popper, Lützowplatz 2 (Teil 3)

Durch die Heirat 1855 der Therese Popper aus Hildesheim mit Hermann Neubürger aus Dessau, wo der Bruder der Therese Prediger der jüdischen Gemeinde war, verknüpften sich zwei überaus interessante Familiengeschichten. Daher wollen wir in diesem Teil der Geschichte in Dessau verbleiben und über die Familie Neubürger berichten, wobei auch hier ein Ausflug in das Lützow-Viertel eingeschlossen ist.

Über Hermann Neubürger gibt es viel Geschriebenes, und einiges davon hat er selbst verfasst: Der Dessauer Buchdrucker Hermann Neubürger (1806-1886) war zu seiner Zeit, insbesondere in der zweiten Hälfte seines Lebens, in den Jahren nach 1848, eine Berühmtheit, vor allem für seine Bücher über die Buchdruckkunst, z.B. Praktisches Handbuch der Buchdruckerkunst (1841). Aber selbst genealogische Quellen aus und in Dessau (1) sind hinsichtlich seiner Lebensdaten keineswegs einheitlich oder vollständig. In der Suche nach Daten zu seiner erste Ehe geriet ich über einen Neubürger-Familienstammbaum auf der Plattform MyHeritage an eine „Nachkömmin“ der Familie, deren Urururgroßvater ein Alexander Carl Neubürger aus Wörlitz war, und dessen mögliche jüdische Herkunft in ihrem Fokus stand. Zwei Tage (und ein Großteil der Nacht dazwischen) haben wir – sie irgendwo in Süddeutschland, ich in Berlin – die digitalisierten Bestände des Landesarchivs Sachsen-Anhalt zum Thema „Judensachen in Dessau/Wörlitz“ (2) durchforstet auf der Suche nach Belegen für das eine oder andere, und für die Beziehung zwischen den beiden, Hermann Neubürger und Carl Alexander Neubürger – und die haben wir gefunden!

Die Herkunft der Neubürgers aus Wörlitz

Die jüdische Gemeinde von Wörlitz existierte seit 1680, bestand aber in all den Jahren aus nicht mehr als 25 bis 35 Familien, d.h. vielleicht 150 bis 200 Personen (Bild 1). Die Schwierigkeit, die bruchstückhaft überlieferten Geschichten (Geburten, Eheschließungen, Sterbefälle) späteren Ereignissen und Namen zuzuordnen, liegt daran, dass auch im Herzogtum Anhalt aufgrund eines Gesetzes von 1821 jüdische Familien sich einen Familiennamen wählen sollten statt der bisherigen Namensgebung männlicher Nachkommen nach den Vornamen der Väter und Großväter, also Jacob ben Isaak ben Salomon = Jacob, Sohn des Isaak, Sohn des Salomon = Jacob Isaak Salomon; dabei wurden in vielen Fällen nur die ersten beiden Namen genutzt. 

Bild 1: Wörlitzer Judengemeinde 1768, bestehend aus 26 Familien, Isaac Nathan in Position 10 (Quelle: LASA Z 44 C 15 Nr. 71 Seite 62).

Als eine vollständige Liste mit den alten und neuen Namen gefunden wurde, die zum Zeitpunkt der Namensänderung erstellt worden war, löste sich das Rätsel auf: Ein Nathan Isaac nannte sich ab sofort Nathan Neubürger, seine Frau war Therese geborene Jacobsohn. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt zwei Söhne, Alexander und Hirsch (Bild 2). Alexanders Geburtseintrag haben wir nicht gefunden, aber er wurde wohl am 3. Oktober 1803 geboren, folgt man den Angaben auf seiner Sterbeurkunde. Zumindest für Hirsch Neubürger konnten wir – rückwirkend – dann auch den Geburtseintrag finden (Bild 2): 21. Januar 1806. Dass sich Hirsch Neubürger später – als er volljährig war (1830) und heiratete (1833) – Hermann Neubürger nannte, deutet darauf hin, dass sich Juden zur gleichen Zeit oft auch einen christlich klingenden Vornamen zulegten. Es wundert daher nicht, dass auch sein Bruder, Alexander Neubürger, sich einen weiteren Vornamen – Carl – zulegte und dass auch der Vater, Nathan Neubürger, sich Ferdinand Neubürger genannt haben soll, folgt man den Angaben auf dem Heiratseintrag von Alexander Carl von 1840. Daher: mission accomplished.

Bild 2: Geburtseintrag von Hirsch (Hermann), Sohn des Nathan Isaac im Synagogenbuch von Wörlitz für den 21. Januar 1806 (Quelle: LASA: Z 44 C 15 Nr. 71, Seite 133)

Die weitergehende Herkunft des Nathan Isaac ließ sich nicht vollständig aufklären, aber es gab in Wörlitz 1750 einen Isaac Nathan, der im Alter von 15 Jahren aus Landsberg an der Warthe nach Wörlitz gekommen war: Er hatte dort eine Ausbildung gemacht, Schutzjudenstatus erhalten und handelte mit Stickereien. Er hatte eine jüdische Frau geheiratet, war Vater geworden und hatte ein eigenes Haus erworben (Bild 3). Es gibt allerdings noch eine Generationen-Lücke zwischen diesem Isaac Nathan von 1750 und dem Nathan Isaac/Neubürger von 1806 bzw. 1830, die wir bislang nicht füllen konnten.

Bild 3: Eintrag zu Isaac Nathan aus Landsberg an der Warthe. Der Text lautet: Isaac Nathan aus Landsberg an der Warthe gebürtig, habe eine Frau aus Wörlitz geheiratet, welcher 8. Jahr hier, habe kein Schutzbrief, habe von der Gemeinde Schutz erhalten, Händler mit Spitzen, habe eine Frau und 2 Kinder (Quelle: LASA, Z 44 C 15 Nr. 70a).

Hermann Neubürger, der Familienvater

Hermann Neubürger heiratete 1833 die Tochter des Mendel Rothschild, Minna, geboren am 19. April Mai 1806 – so steht es, in hebräischer Zeitangaben, auf ihrem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof von Dessau/Roßlau; sie war wohl die Schwester des Dessauer Fleischermeisters Julius Rothschild. Minna starb am 20. August 1854 (Bild 4).

Bild 4: Grabstein der Minna Neubürger auf dem Wörlitzer Judenfriedhof. Unter dem Namen stehen die Lebensdaten nach jüdischem Kalender (Foto: D.R. mit freundflicher Genehmigung).

In den Jahren 1834 bis 1849 kamen neun Kinder zur Welt, aber nicht für alle konnten wir die genauen Geburts- und Lebensdaten ermitteln: Röschen, geboren 1834, verstarb im Alter von 4 Monaten am 1. Mai 1834; Ferdinand (1835 – 1911) lernte in der Druckerei seines Vaters in Dessau und übernahm dann eine eigene Druckerei und Lithographieanstalt in Dessau. Er heiratete1861 Dorith Meyer (* 1842) aus Coswig, die 1872 in der Psychiatrie zu Bernburg aufgenommen wurde und dort 1904 verstarb; die Ehe blieb kinderlos. Ferdinand zog nach Moskau, wo er für fast 20 Jahre blieb, als Drucker, aber auch als Journalist, und zugleich als  Schriftsteller von Theaterstücken, Novellen, Gedichten und Romanen; Henriette (1836 – 1910) heiratete 1876 Moritz Blumberg (1832-1904) aus Dessau und hatte mit ihm 10 Kinder; Moritz, geboren 1838, ging mit seinem Bruder Ferdinand nach Moskau; er beantragte im Jahr 1897 für seinen Sohn Woldemar Louis (* 1880 in Moskau) eine Entlassung aus der deutschen Staatbürgerschaft; Eduard, geboren 1840, leitete eine Zementfabrik (Neubürger & Luppe), bevor er in die USA emigrierte und 1868 in New York Catherine Cox aus Irland heiratete; er starb am 1896 in New Jersey; Pauline, geboren 1842, verstarb 1916 unverheiratet in Dessau; die Geburt eines namenlosen Jungen, eventuell Gustav, wurde für das Jahr 1842 festgehalten, möglicherweise ist auch er im Kindesalter verstorben. Friederike (1847 – 1936) heiratete Adolph Dressler und lebte in Dresden und später in Langebrück; Ida Angelika (1849 – 1935) heiratete den Redakteur und späteren Buchhändler Heinrich Richter in Dessau. 

Als Minna, die Mutter der Kinder, im August 1854 starb, hinterließ sie ihren 49-jährigen Ehemann mit lauter noch minderjährigen Kindern, darunter einige noch unter 10 Jahren. Es wundert daher nicht, dass er ein Jahr später, am 4. November 1855, die 35 Jahre alte Therese Popper heiratete, die in den vergangenen 10 Jahre ihre Mutter bis zu deren Tod in Hildesheim gepflegt hatte:  „Die besten Jahre Deines Lebens hast Du dieser edlen Kindespflicht geopfert … Der Herr zahlet Dir heute den Lohn kindlicher Treue „, so die Worten ihres Bruders Julius Popper, der die Traurede hielt (3) – ob die „nachgelassene“ Therese wohl auch so empfunden hat angesichts der Schar unmündiger Kinder, denen sie die Mutter ersetzen sollte?

Herrmann Neubürger, der Buchdrucker

Hermann Neubürger hatte 1833 die Schliefer´sche Buchdruckerei erworben und das Privileg des Buchdruckens 1834 erhalten; darin wurde er verpflichtet, seine Druckerei im Judenviertel zu betreiben und auch dort zu wohnen (Bild 5). Danach erst heiratete er. Die Geschichte von Hermann Neubürgers Druckerei ist längst geschrieben (4), wobei in diesem „Häuserbuch“ der Fokus auf der Firmen- und nicht auf die Familiengeschichte liegt. Seine erste Frau wird zwar erwähnt, die Vielzahl seiner Kinder aber nicht, bis auf den Sohn Friedrich Neubürger, der ebenfalls Drucker und Schriftsteller wurde; seine zweite Frau, Therese geborene Popper, fehlt vollständig, sowohl im Hinblick auf die Heirat wie auf ihren Tod. Das Adressbuch von Dessau nennt sie nicht nach seinem Tod, sondern nur die „Neubürger Erben“ als Eigentümer der Rathausstraße 5, das Haus, das von 1849 bis 1916 den Neubürgers gehört und wo ab 1895 und bis zu ihrem Tod die Rentiere Pauline Neubürger gelistet ist. Da wohnte auch ihr Bruder, der Schriftsteller Ferdinand Neubürger; zwischenzeitlich lebte der zumindest 1902 zur Untermiete in Berlin in der Potsdamer Str. 56 (Bild 6), und von 1905 bis 1909 in Charlottenburg, Schlüterstraße 45, aber er starb 1911 in Dessau.

Bild 5: Drucker-Privileg für Hermann Neubürger von 1833 (Quelle: LASA Z 44 C 15 Nr. 11 Band IV Seite 0012).
Bild 6: Foto um 1900 und Adresse (Potsdamer Str. 56) von Ferdinand Neubürger im Jahr 1902 von seinem Briefkopf (Quelle: Stadtarchiv Dessau Ro N003 Nr. 23-27, Korrespondenz Ferdinand Neubürger mit Hans Calm, Hofschauspieler Dessau).

Als Buchdrucker war Hermann Neubürger nicht verantwortlich für den Inhalt der Druckschriften (Pamphlete, Bücher, Zeitungen, Amtsblätter), die er druckte, die Verantwortung hatten die jeweiligen Herausgeber. Daher wundert es nicht, dass er alles Mögliche druckte, schöngeistige Literatur (Das Käthchen von Heilbronn, eine Oper nach Kleists gleichnamigen Schauspiel) ebenso wie politische Kampfschriften in den Zeiten des Aufruhrs 1848/49 (Der Wahn des Glaubens, eine Streitschrift von 1849, die 1850 in Preußen verboten wurde), aber auch Erotika (Casanova´s Memoiren in 17 Bänden), Judaika (Die Traurede bei seiner Heirat mit der Schwester von Julius Popper 1855) ebenso wie katholische Gebetbücher, medizinische Werke (Lehrbuch der Homöopathie  1860), Staatsdrucksachen (Papiergeld, Staatsanleihen) und Mitteilungen der Obrigkeit. Und natürlich wurde der Bote für die Botschaft dann geprügelt, wenn es gegen die Obrigkeit ging, ihm drohte Berufsverbot (Entzug des Privilegs), dem er nur durch Verzicht auf problematische Druckerzeugnisse entgehen konnte. Sein sicherlich bleibender Einfluss auf die „schwarze Kunst“ seiner Zeit wurden die Bücher und praktischen Handreichungen über das Drucken selbst.

Seit der Bewilligung des Privilegs und der Erlaubnis, sich in Dessau niederzulassen, zahlte er neben dem Schutzgeld in Höhe von jährlich 6 Taler, welches alle Juden bezahlen mussten, auch eine Art „Gewerbesteuer“ für die Druckerei in Höhe von 5 Taler jedes Jahr. Außerdem hatte ihn der Vorstand der jüdischen Gemeinde verpflichtet, einmalig 10 Taler an das jüdische Armen- und Arbeitshaus, 5 Taler an die „israelitische Almosen-Casse“ und weitere 2,5 Taler für an die israelitische Franz-Schule zu zahlen – all dies unabhängig von seinem durch die Druckerei erzeugten Einkommen. Nach 5 Jahren (1838) fragte er daher höflich bei der Obrigkeit an (3), ob ihm das Schutzgeld nicht erlassen werden könne, es sei schließlich eine Art von Steuer für den jüdischen Handel, den er ja gar nicht ausübe. Das Ersuchen wurde trotz Unterstützung durch lokale Honoratioren, die bestätigten, dass „sich derselbe als thätiger und ordentlicher Bürger zu rühren sucht„, abschlägig beschieden. Die herzogliche Obrigkeit konnte und wollte offenbar noch nicht auf diese Einnahmen durch die wachsende jüdische Bevölkerung verzichten: Im Jahr der Namensverordnung 1821 gab es im Herzogtum Anhalt etwa 280 Haushalte, was ungefähr 1500 Personen entsprach (3); 1864 waren es etwa 2300 Personen (5). Vielleicht war dies der Anlass für Neubürgers Ausflug in die Umtriebe der 48-er Revolution; ein Fehlschlag beides, sowohl sein Ausflug als auch die Revolution.

Bild 7: Nachruf auf Hermann Neubürger im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 1. August 1887, Seite 4.

Hermann Neubürger starb am 8. Juli 1887 hochgeachtet in Dessau im Alter von 81 Jahren (Bild 7). Ausweislich der Adressbücher Dessau erbten sein Haus seine Nachkommen, Neubürger´s Erben: sein Sohn Ferdinand, dessen Schwester Pauline, und wer von den Kindern sonst noch lebte. Therese Neubürger geborene Popper zählte nicht dazu, sie war am 23. November 1882 verstorben; den Tod zeigte ihr Schwiegersohn, der Buchhändler Heinrich Richter an, der mit ihrer Stieftochter Ida Neubürger verheiratet war; Kinder hatte sie keine mehr.

Literatur

1. Bernd G. Ulbrich: Personenlexikon zur Geschichte der Juden in Dessau. Moses Mendelsohn Gesellschaft Dessau-Roßlau 2009

2. Das Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA) hat den Aktenbestand der jüdischen Gemeinden von Sachsen-Anhalt, insbesondere Wörlitz/Dessau, Tausende von Aktenblättern, nahezu vollständig digitalisiert und im Internet zugänglich gemacht: Z 44 C 15 Nr. 1 bis 74.

3. Julius Popper: Traurede bei der Vermählung des Herrn Hermann Neubürger mit Fräulein Therese Popper am 4. November 1855. Verlag H. Neubürger, Dessau 1856.

4. Franz Brückner: Häuserbuch der Stadt Dessau. Bände 1 bis 24. Verlag Rat der Stadt Dessau 1975 bis 1995 (Seiten 530, 708-712, 1658)

5. Ferdinand Siebigk: Das Herzogthum Anhalt. Verlag von A. Desbarats, Dessau 1867.