Die Familie von Ernst Liedtke, Blumeshof 12 (Teil 2)

Im ersten Teil dieser Geschichte haben wir erfahren, dass die Familie des Berliner Rechtsanwalts Ernst Liedtke, der im Blumeshof 12 wohnte, aus Christburg, Kreis Stuhm in Westpreußen stammte. Heute werden wir die verschiedenen Familienmitglieder verfolgen: die, die in Christburg geblieben ebenso wie diejenigen, die nach Berlin gegangen sind. Für die weitere Dokumentation der Familie Liedtke konnten wir zurückgreifen auf Standesamtsurkunden aus Christburg und Berlin einerseits, auf Adressbuch-Einträge in Berlin andererseits, aber auch auf Zeitungsmeldungen.

Die Eltern

Tobias Liedtke war 1866, 1871, 1874, 1884/5 und 1891 Kaufmann für Manufakturwaren, Produktenwaren, 1891 auch für Lederwaren, und er annoncierte noch im Januar 1894 eine Lehrlingsstelle in seinem Tuch-, Manufaktur und Modewarengeschäft in Christburg (Bild 1). Er müsste aber noch 1894 gestorben sein, da er in der Sterbeurkunde seines Sohnes Meyer vom April in diesem Jahr als verstorben bezeichnet wurde. Den Tod seiner Frau Fanny konnten wir bislang nicht verifizieren.

Bild 1: Anzeige in „Der Gesellige“, Graudenzer Zeitung vom 3. Januar 1894, Seite 7.

Die Kinder

Meyer Liedtke (*1842) blieb zeitlebens in Christburg, war Kaufmann und saß in den Jahren 1883 und 1885 im Gemeinderat der dortigen jüdischen Gemeinde (1). Er starb früh, im Alter von nur 52 Jahre, am 8. April 1894 in Christburg, sein Tod wurde von seinem Bruder Salomon angezeigt. Clara Liedtke geborene Henschel, seine Ehefrau, zog 1910 mit ihrem Sohn Theodor nach Berlin, wo ihr anderer Sohn, Ernst Liedtke, bereits 10 Jahre lebte. Ab 1911 wohnte die Rentiere Clara Liedtke in der Jenaer Str. 2 im Bayrisches Viertel in Wilmersdorf (Bild 2); sie starb im Mai 1933.

Bild 2: Ausschnitt aus dem Adressbuch von Berlin 1912 für die Jenaer straße 2.

Salomon Liedtke (*1843) blieb ebenfalls Zeit seines Lebens in Christburg. Er war im jüdischen Gemeindevorstand von Christburg in den Jahren 1897, 1904, 1908, 1910 und 1913 (1) und starb am 16. Oktober 1925 im Alter von 72 Jahren in Christburg – sein Sohn Julius zeigte seinen Tod an. Seine Frau Franziska Liedtke (*1859), geborene Loewenstein war bereits am 27. Januar 1909 in einer Privatklinik in Berlin-Charlottenburg (Augsburgerstraße 66) verstorben; der Tod wurde vom Apotheker Julius Loewenstein (Berlin, Bärwaldstr. 57) angezeigt, vermutlich einem Neffen, Sohn ihres Bruders. Sie war offenbar zu einer medizinischen Behandlung nach Berlin gekommen, da als ihr Wohnsitz nach wie vor Christburg (Am Markt) angegeben wurde. 

Schier Liedtke (*1845), den wir jetzt als dritten Sohn der Eheleute Tobias und Fanny Liedtke einordnen, war offenbar der erste, der den Heimatort dauerhaft verließ und nach Berlin ging. Bei seiner Heirat mit Lydia Freudenberg am 27. Februar 1886 in Berlin wohnte er in der Steinmetzstraße 9, ein Jahr später bei der Geburt ihres einzigen Kindes, Theodor, wohnte die Familie eine Straße weiter, in der Blumenthalstraße 15. In beiden Fällen war er im Berliner  Adressbuch als „S. Liedtke, Handelsmann“ eingetragen, und selbst später, als alle Einwohner mit Vornamen, Nachnamen und Beruf angegeben wurden, blieb es bei dieser Abkürzung, so, als schäme er sich seines ungewöhnlichen Vornamens oder als wolle er vermeiden, mit diesem Vornamen als Jude identifiziert zu werden. In den Jahren nach der Reichsgründung 1871 war der sogenannte „akademische Antisemitismus“ Grund für viele Juden, zu konvertieren oder den Namen zu ändern (mittendran vom 1. September 2024). Da er aber der einzige Liedtke im Adressbuch war mit einem Vornamen, der mit S begann, lassen sich seine weiteren Wohnsitze bis 1899 vermuten: er zog 1888 in den Berliner Norden (Metzgerstraße 25), und betrieb ab 1896 einen Kolonialwarenladen (Fürstenwaldstraße 19, Pasewalkerstraße 7). Ab 1899 ist ein „S.Liedtke“ nicht mehr im Adressbuch verzeichnet, und auch seine Witwe nicht; ihr Verbleib ist bislang unbekannt.

Rosalie Liedtke (* 1847) heiratete am 29. Januar 1872 Louis Hirschberg aus Culm (heute: Chelmno, Polen), dort geboren 1843. Die Eheleute hatten ein Kind: Martin, geboren 1882 in Culm. Louis Hirschberg war bis zu seiner Pensionierung in Culm Stadtrat und Sadtältester, danach (1903) zog das Ehepaar nach Berlin, zunächst in die Bülowstraße 106, 1910 in die Regensburger Str. 28. Er starb dort am 18. August 1913, seine Witwe Rosalie sieben Jahre später, am 13. April 1920. Ihr Tod wurde von ihrem Sohn Dr. med. Martin Hirschberg angezeigt.

Die nächste Generation

Ernst Liedtke (*1875), der ältere Sohn von Clara und Meyer Liedtke, ging 1893 zum Studium nach Berlin. Sein Lebenslauf wird in einem weiteren Teil dieser Geschichte ausführlicher dargestellt.

Theodor Liedtke (*1885), der jüngere Sohn von Clara und Meyer Liedtke, von Beruf Kaufmann, wohnte 1912 zunächst unter der gleichen Berliner Adresse wie seine Mutter (Jenaer Str. 2), erneut im Jahr 1922, und auch nach deren Tod von 1934 bis 1937. Nach den Informationen von Simon May (2) war er Verkäufer im Warenhaus Tietz in Berlin und wurde möglicherweise von seiner Haushälterin Hedwig Kuss zunächst versteckt, als die Repressionen gegen die Juden begannen. Er wurde 1942 in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und von dort 1943 weiter nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.

Julius Liedtke (* um 1880), der Sohn von Salomon und Franziska Liedtke, erhielt im Mai 1914 Prokura in der Firma seines Vaters. Nach dem Tod des Vaters war Julius der alleiniger Erbe der Firma Salomon Liedtke. Ein im Dezember 1925 eröffnetes Konkursverfahren zog sich hin bis 1931 (Bild 3), wurde dann aber eingestellt. Weitere Informationen über Julius Liedtke fehlen bislang, aber ein Handelsgeschäft Liedtke gab es noch vor dem 2. Weltkrieg am Markt in Christburg (3).

Bild 3: Anzeigen im Deutschen Reichsanzeiger vom 10. Mai 1914 (oben), vom 10. Dezember 1925 (Mitte) und vom 15. Juni 1931 (unten).

Martin Hirschberg (*1882) machte das Abitur in Culm 1890, studierte anschließend Medizin in München, Freiburg, Königsberg und Berlin bis 1905, promovierte mit einer Arbeit über die operative Behandlung der Peritonealtuberkulose, und arbeitete zunächst am Kurhaus Schloss Tegel, bevor er 1917 eine eigene internistische Praxis für Magen-Darm-Erkrankungen in Wilmersdorf, Brandenburgische Straße 36 eröffnete (Bild 4). Von 1917 bis 1921 stand er als Dezernent für Krankenernährung im Dienste der Stadt Berlin, ab 1924 arbeitete er als Arzt beim Kassen-Ambulatorium „Cecilienhaus“ in Charlottenburg. Er hatte 1912 Friederike Henriette Jaffé geheiratet und hatte mit ihr drei Kinder (*1914, *1917, *1919). 1930 trat er zwar aus dem Judentum aus, aber nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 flüchtete die Familie mit dem Schiff nach Shanghai, von dort weiter nach Nanking, wo er als ärztlicher Berater der deutschen Diplomaten diente. Vor der japanischen Besetzung Nankings 1937 (4) flüchteten sie, zusammen mit den Diplomaten, nach Peking, von wo sie nach dem Krieg (1948) über Honolulu in die USA immigrierte. Dr. Martin Hischberg starb in Houston, Texas am 17. März 1950, drei Tage nach einem Suizidversuch.

Bild 4: Anzeige im Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 10. Oktober 1916, Seite 7.

Der andere Theodor Liedtke

Die Doppelung von Name und Beruf (Kaufmann), auch im Berliner Adressbuch (Bild 5), die relative Nähe der beiden Geburtstage (1885 bzw. 1887) und der Umstand, dass beide 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden, hat dazu geführt, dass Theodor, der Sohn von Clara und Meyer Liedtke (s. oben), und Theodor, der Sohn von Lydia und Schier Liedtke, in der Literatur oft verwechselt wurden, derart, dass die Daten des Einen dem Anderen zugeordnet wurden.

Bild 5: Ausschnitt aus dem Berliner Adressbuch von 1921, unter Liedtke.

So geschehen in Christoph Kreuzmüllers Monografie der jüdischer Betriebe, die nach 1933 enteignet wurden (5), wie auch über lange Strecken in der Familiengeschichte von Simon May (2), der annahm, der „andere Theodor“ sei der Bruder seines Vaters Ernst Liedtke, und der von einer „devastating discovery“ sprach, als er den „doppelten Theodor“ entdeckte und seither annahm, dass dieser einer anderen Familie entstamme. Sein Schicksal ist gut dokumentiert und soll im folgenden Teil der Familiengeschichte Liedtke ausführlicher dargestellt werden.

Literatur

1. Gerhard Salinger: Die einstigen jüdischen Gemeinden Westpreußens. Teilband 3. New York 1908 (Eigendruck), Seite 707ff.

2. Simon May: How to be a Refugee. Picador Publisher, London 2021.

3. Otto Piepkorn. Die Heimatchronik der westpreußischen Stadt Christburg und des Landes am Sorgefluß. Verlag Bösmann, Detmold 1962

4. https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Nanking

3. Christoph Kreutzmüller. Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930 bis 1945. Metropol Verlag, Berlin 2012